Ermächtigung und Widerstand in digitalen Selbsten

Hausarbeit von Natalia Dill

Disclaimer

Ich möchte darauf hinweisen, dass ich mich dem Thema Körper aus einer Perspektive annähre, die von meiner eigenen Erfahrungen als eine Person, die weiß, cis-geschlechtlich, akademisch ausgebildet und eurozentrisch geprägt ist. Ebenso bin ich mir bewusst, dass ich nicht von Ableismus betroffen bin. Das Wort ‘weiß’ wird bewusst klein und kursiv geschrieben, dabei wird nicht die Farbe ‘weiß’ beschrieben, sondern die politische Markierung von Menschen, die von einem System profitieren, in dem weiße Menschen Privilegien genießen. Der Begriff ‘Schwarz’ wird hingegen häufig als Selbstbezeichnung von Personen afrikanischer und afro-diasporischer Abstammung, Menschen mit dunkler Hautfarbe und PoC genutzt. Die bewusste Verwendung des großgeschriebenen ‘S’ dient dazu, eine sozialpolitische Standpunktsetzung in einer vorwiegend von weißen Menschen dominierten Gesellschaft zu manifestieren und symbolisiert eine emanzipatorische Widerstandspraxis.1

1  Vgl. Bildet Wutbanden: “Bildet-Wutbanden/ Glossar” auf www.transformazine.de, https://transformazine.de/bildet-wutbanden-glossar, (abgerufen am 15.09.2023).

Einleitung

Kunsttheoretikerin, Kuratorin, Digitalkünstlerin und Autorin Legacy Russell schreibt in ihrem Werk Glitch Feminismus (2021):

“Mein pubertärer Körper war erschöpft von gesellschaftlichen Konventionen, hatte es satt, ständig zu hören, man solle weniger Raum einnehmen, hatte es satt, gesehen zu werden und niemals gehört zu werden, systematisch ausradiert zu werden, herausgeschnitten zu sein, ignoriert zu werden. Ich wollte mich einfach nur bewegen. Aber im Tageslicht fühlte ich mich gefangen, ständig unruhig unter der Last pausenloser, weißer, heteronormativer Beobachtung.”2

Russell verdeutlicht hier, wie sie in Offline-Räumen als Schwarze, queere Person benannt und markiert wurde. Aufgrund ihrer äußeren Erscheinung und zugeschriebenen Merkmalen werden Körper auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen und haben dadurch auch nur bestimmte Möglichkeiten, Rahmenbedingungen und Freiheiten. Im Rahmen des Glitch Feminismus (2021) beleuchtet die Autorin neuartige Facetten des Seins, der Körperrepräsentation, -akzeptanz und -wahrnehmung, die herkömmliche Normen und binäre Geschlechterkonzepte infrage stellen. 

In einer Zeit, in der Technologie nahtlos in den Alltag integriert ist und digitale sowie physische Realitäten miteinander verschmelzen, konstituieren sich Veränderungen in der Art und Weise, wie Menschen ihr Selbst wahrnehmen, gestalten und ausdrücken können. Der Übergang des Körpers in digitale Räume, welche virtuelle Umgebungen und Plattformen, die im Internet existieren, beschreiben, eröffnet eine faszinierende Sphäre der Selbstermächtigung und des Widerstands als Ablehnung gegen vorherrschende gesellschaftliche und unterdrückende Normen . 

Diese Arbeit untersucht die komplexen Wechselwirkungen zwischen dem individuellen Selbst und digitalen Räumen. Sie stellt die Frage, wie diese Verschmelzung von Körper und digitaler Anwesenheit das eigene Selbst beeinflusst und welche Formen des Widerstands und der Kooperation dadurch entstehen können.

Dafür wird zunächst analysiert, wie Körper in digitalen Räumen geformt werden und welchen Machtstrukturen diese unterliegen. Darauf aufbauend erfolgt eine tiefgehende Untersuchung der Bedeutung der Verschmelzung von physischem Körper und digitalem Raum und die Transformative Kraft digitaler Orte für Selbstermächtigung und Widerstand. Abschließend folgt eine kritische Reflexion über die gesamte Thematik. Dabei werden nicht nur die Chancen und Potenziale der digitalen Verschmelzung beleuchtet, sondern auch die damit verbundenen Herausforderungen

2 Russell, Legacy: Glitch Feminismus, Leipzig: Merve Verlag, 2021, S. 13.

Körper in digitalen Räumen 

In der heutigen Ära digitaler Möglichkeiten und virtueller Interaktionen gewinnen Konzepte von Körperlichkeit und Identität eine neuartige Dimension. Im Folgenden wird dargestellt, welche Implikationen die Konzepte von Körpern haben, wie sie definiert werden und welche Bedeutung ihre Präsenz in digitalen Räumen für die Gestaltung von Identitäten hat.

Konzepte von Körpern und Identität in digitalen Räumen

Die Frage nach der Definition und dem Wert des Körpers ist zentral in dieser Diskussion. Legacy Russell lädt dazu ein, darüber nachzudenken, wer für die Definition des Körpers verantwortlich ist, welcher Wert ihm zugeschrieben wird, und vor allem, warum.3 

Silvia Federici hebt hervor, dass Körper nicht als einheitliche Entität verstanden werden können, sondern das Ergebnis verschiedener Geschichten sind. Innerhalb dieser Geschichten durchziehen hierarchische Konstrukte des Kapitalismus, wie Rasse4 und Geschlecht5 den Körper6. Zusätzlich formen Klassenverhältnisse, ethnische Faktoren und individuelle Lebensentscheidungen die Körperlichkeit.7 Russell beschreibt, dass der Begriff ‘Körper’ eine abstrakte Idee darstellt, die soziale, politische und kulturelle Diskurse einschließt. Diese Diskurse variieren je nach Kontext des Körpers, wie dieser eingeordnet und gelesen wird.8 Zusammengefasst verdeutlichen diese Ansichten, dass die Vorstellung von Körperlichkeit eng mit gesellschaftlichen Normen und kulturellen Praktiken verwoben ist, was seine Bedeutung vielschichtig und kontextabhängig macht.

3 Vgl. ebd., S. 16.

4 Federici spricht im englischen von ‘racial’ und ‘sexual’. In der deutschen Ausgabe wurden diese Begriffe übersetzt als ›Rasse‹ und Geschlecht. Mahret Ifeoma Kupka erklärt im Glossar des Missymagazins dass es anzumerken ist, dass ‘race’ und ‘Rasse’ nicht dieselbe Bedeutung haben. Während ‘race’ im englischsprachigen Kontext aufgrund seiner akademischen Verankerung eine Verschiebung von einer vermeintlich biologischen Kategorie hin zu einem sozialwissenschaftlichen Analyseinstrument erfahren hat, trägt ‘Rasse’ im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch die Konnotation der Existenz unterschiedlicher menschlicher Rassen. Mahret Ifeoma Kupka: Hä, was heißt denn Race?, https://missy-magazine.de/blog/2020/09/21/hae-was-heisst-denn-race/ (aufgerufen am 15.09.2023).

5 Mit Geschlecht ist hiermit das bei der Geburt zugewiesene biologische Geschlecht gemeint.  Smykalla,Sandra: Was ist ‘Gender’?, http://www.genderkompetenz.info/w/files/gkompzpdf/gkompz_was_ist_gender.pdf (aufgerufen am 15.09.2023).

6 Vgl. Federici, Silvia: Jenseits unserer Haut: Körper als umkämpfter Ort im Kapitalismus, 2. Auflage, Münster: UNRAST-Verlag, 2020, S.19f.

7 Vgl. ebd., 2020, S. 40.

8 Vgl. Russell, Legacy: Glitch Feminismus, Leipzig: Merve Verlag, 2021, S. 15f.

Der Körper würde als ein soziales und kulturelles Werkzeug betrachtet, dessen Definitionen und Kontrolle oft ungleich verteilt seien, so Russell.9 Sie weist darauf hin, dass der patriarchale Blick besonders zur Vereinheitlichung und Essenzialisierung von Schwarzen/queeren/femme10 Körpern führe. Diese Einschränkung entzieht ihnen die Möglichkeit und den Raum für persönlichen Ausdruck und die Verwirklichung des Selbst, was zu einer Unterdrückung ihrer Selbste führt.11 Russell benutzt den Begriff ‘Selbst’ im Zusammenhang mit individueller Persönlichkeit. Dabei verwendet sie den Plural ‘Selbste’, um die Vielfältigkeit und die Vielschichtigkeit der Identitäten einer Einzelperson hervorzuheben. Statt das individuelle ‘Selbst’ als eine feste und unveränderliche Einheit zu begreifen, betont sie, dass Menschen unterschiedliche Facetten, Ausdrucksformen und Identitäten in sich tragen, die miteinander in Wechselwirkung stehen und sich in verschiedenen Kontexten entfalten. Die Anwendung von ‘Selbste’ verdeutlicht, dass die Identität einer Person nicht auf eine einzige Dimension begrenzt ist, sondern aus einer Vielzahl von Identitäten, Erfahrungen und Aspekten besteht.


Inwieweit bestehende patriarchale Normen in den digitalen Raum übertragen werden und welche Potenziale die virtuelle Dimension bereithält, stellt eine zentrale Frage dar. Im Kontext Körper in digitalen Sphären und Identitäten eröffnen sich facettenreiche Möglichkeiten zur Entfaltung und Neugestaltung des Selbst. Russell veranschaulicht in ihrem Werk Glitch Feminismus (2021), wie digitale Räume ihr die Möglichkeit boten, die Person zu sein, die sie in dem jeweiligen Augenblick sein und/oder werden wollte. Online konnte sie ihre Identität frei formen und transformieren. Sie gestaltete verschiedene Versionen ihres Selbst.12 Digitale Räume und die vielen Selbste, wie Russell es skizziert, erlauben Freiheiten und die Möglichkeiten sich auszuprobieren. Sie beschreibt die Ermächtigung im Digitalen als ein Anziehen von verschiedene Körperrealitäten. Das erlaubte ihr in jedem Chat oder Forum ein anderes Selbst zu sein.13 Der ‘digitale Remix’14 ermöglichte es ihr, sich selbst kennenzulernen, ohne von anderen beobachtet zu werden.15 Dabei bieten digitale Räume die Chance, verschiedene Aspekte der Identität auszuleben und sich abseits weiß-heteronormativer Institutionen zu entfalten.16

9 Vgl. ebd., S. 39.

10 Femme beschreibt ein femenines Erscheinungsbild und sagt aus wie die Person wahrgenommen wird.

11 Vgl. Russell, Legacy: Glitch Feminismus, Leipzig: Merve Verlag, 2021, S. 26.

12 Vgl. ebd., S. 11f.

13 Vgl. ebd.

14 Ebd. S. 14 “Remix bedeutet, eine Originalaufnahme neu zu arrangieren, ihr etwas hinzufügen”  Russell, Legacy: Glitch Feminismus, Leipzig: Merve Verlag, 2021, S.119.

15 Vgl. ebd., S. 14.

16 Vgl. ebd., S. 24.

Insbesondere für marginalisierte Gruppen sind Orte, die das Formen, Erforschung und Ausprobieren ermöglichen, wichtig. Sie gewähren die Chance, das eigene Selbst sichtbar zu machen und sich gegenseitig auf neue Weise zu reflektieren. Das digitale Imaginäre kann dabei als Möglichkeit zur Ermächtigung genutzt werden.17 Neue Konzepte von Körper und Selbsten manifestieren sich in digitalen Räumen und schaffen Orte für diejenigen, die in der Offline-Welt benannt und möglicherweise sogar ausgeschlossen werden.18 

Im Glitch Feminismus (2021) fordert Russell dazu auf, das Digitale zu besetzen und als Methode, um neue Welten aufzubauen, zu nutzen. Ihr nach können dadurch neue Ideen und Ressourcen für eine permanente (R)Evolution der Körper hervorgebracht werden, die schneller und beweglicher sind als die Normen der offline existierenden Gesellschaften.19 

Diese vielfältigen Aspekte verdeutlichen, was für ein umfassendes Potenzial digitale Räume für die Entfaltung der eigenen Selbste bereitstellen. Die fragmentierten Ansichten des Körpers und die diversen Identitäten in diesen Räumen reflektieren eine sich wandelnde Wahrnehmung von Körperlichkeit und Selbst.

17 Vgl. ebd., S. 31.

18 Vgl. ebd., S. 34.

19 Vgl. ebd., S. 19

Die Verschmelzung von Körpern und Digitalität

Online- und Offline-Orte sind dabei als zu einer verschmolzenen Spähe zu betrachten und nicht mehr von einander zu trennen.20 havale vale definiert das Internet eben deswegen  nicht als ein Werkzeug, sondern als ein Territorium, „als einen Raum, einen Ort, der sich nicht von anderen Räumen und Orten unterscheidet, an denen Aktivist*innen und Feminist*innen ihr Leben investieren, um Veränderungen herbeizuführen, um Gerechtigkeit und Transformationen zu erreichen“. 21

In der heutigen Ära der digitalen Möglichkeiten und der permanenten Anwesenheit in digitalen Räumen werden die Grenzen zwischen dem digitalen und dem physischen Selbst immer mehr verwischt. Das digitale Selbst ist nicht länger von dem physischen Körper zu separieren, sondern vielmehr ein integraler Bestandteil der Identität und Realität. Cornelia Sollfrank schließt sich Donna Haraways bereits über 30 Jahre gültigen Aussage an, dass es kaum eine Chance gibt, außerhalb von Technologie zu leben.22

Yvonne Volkart schreibt, dass Technologien gerade im Cyberfeminismus nicht mehr als Prothesen oder Instrumente zur Befreiung wahrgenommen werden, die vom Körper separiert seien. Vielmehr wird Widerstand durch die Nicht/Materialität des konstruierten und diskursiven Körpers verkörpert.23 Geist, Körper und Instrumente sind stark miteinander verbunden.24 Die Verschmelzung von Körper und Digitalität korrespondiert eng mit dem Konzept der ‘digitalen Diaspora’, das von Legacy Russell erläutert wird. Dieser Begriff definiert die Vorstellung, dass Körper in der Ära der digitalen Kultur keine festen, verankerten Orte mehr innehaben. Stattdessen nehmen sie flüssige und vielfältige Identitäten an, die gleichzeitig zahlreiche Räume einnehmen und besetzen können.25 

Russell stellt heraus, dass Online- und Offline-Welten nicht voneinander zu trennen sind, das drückt sie aus mit den Worten des Kunstkritikers Gene McHugh: „Für viele, die als Individuen und Sexualwesen online aufwuchsen, ist das Internet nicht eine obskure Ecke der Kultur, eine erfundene Welt, in die sich Leute vor der Realität flüchten. Es ist die Realität“26. Die Kontinuität des Selbst von der Online- zur Offline-Welt lässt den Dualismus ins Wanken geraten. Diese Reise stellt sich als ein ständiges Wandeln und eine Verschmelzung unserer Selbste heraus.27 Dies definiert die zunehmende Unmöglichkeit, das digitale Selbst und das physische Selbst voneinander zu isolieren, was zu einer kontinuierlichen Verschmelzung führt.

20 Vgl. Sollfrank, Cornelia: Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien: transversal, 2018, S. 8.

21  Vgl. vale, hvale, „Eine persönlich_ kollektive Geschichte des Imaginierens und Machens von #feministinternet.: Über die Entstehung der Feministischen Prinzipien des Internets“, in: Die schönen Kriegerinnen: Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, hg. von Sollfrank, Cornelia, Wien: transversal, 2018, S. 114.

22 Vgl. Sollfrank, Cornelia: Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien: transversal, 2018, S. 10.

23 Vgl. Volkart, Yvonne, „Techno-Öko-Feminismus: Unmenschliche Empfindungen in technoplanetarischen Schichten“, in: Die schönen Kriegerinnen: Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, hg. von Sollfrank, Cornelia, Wien: transversal, 2018, S. 182.

24 Vgl. Haraway, Donna: The Haraway Reader, London: Routlege, 2004, S. 24.

25 Vgl. Russell, Legacy: Glitch Feminismus, Leipzig: Merve Verlag, 2021, S. 47.

26 McHugh, Gene: “The context of the digital: a brief inquiry into online relationships”, in: Omar Kholeif (Hg.), You are    here. Art after the Internet, London 2014, S. 31 zitiert nach Russell, Legacy: Glitch Feminismus, Leipzig: Merve Verlag, 2021, S. 44.

27 Vgl. Russell, Legacy: Glitch Feminismus, Leipzig: Merve Verlag, 2021, S. 49.

Dennoch bringt die Verschmelzung von Körper und Digitalität auch Herausforderungen mit sich. Russell betont, wie die Suche nach Selbstrepräsentation und Identität im digitalen Raum untrennbar mit der Selbsterkennung außerhalb des Bildschirms verbunden ist. Besonders Körper, die als anders oder außerhalb der Norm betrachtet und konstituiert werden, bleiben unsichtbar und werden innerhalb und außerhalb algorithmischer Bereitstellungen gelöscht oder falsch eingeordnet.28 Die Entwicklung des Cyberspace ist hierbei keineswegs als homogen zu sehen. Sie unterstreicht, dass das Internet keine einheitliche und abgeschlossene ‘Öffentlichkeit’ mehr ist, sondern aus verschiedenen Welten besteht, in denen unterschiedliche Vorstellungen von Utopia herrschen. Das Internet spiegelt und umfasst die Gesellschaft in all ihrer Vielfalt: “Das Internet ist ein immersiver, institutionalisierter Komplex, der spiegelt und umschließt. Es gibt keine fixe Einstigsstelle: es ist überall um uns herum.“, so Russell.29

Diese Entwicklung hat auch Auswirkungen auf unser Verständnis von Technologie. Technologie ermöglicht es, queere Körper zu erweitern und zu transzendieren, was wiederum neue Formen der Selbstrepräsentation und -identität ermöglicht.30 

Technologie und Maschinen werden somit als eine Erweiterung der körperlichen Grenzen wahrgenommen und zum Teil der körperlichen Erfahrungen, die neue Wege der Identitätsentfaltung eröffnet: „Womit im eigentlichen Sinne Körper, die durch den digitalen Raum surfen, sowohl errechnete als auch aus Fleisch sind“.31

Insgesamt wird durch die Betrachtung der Verschmelzung von Körper und Digitalität deutlich, dass das digitale Selbst nicht mehr von unserem Offline-Selbst getrennt werden kann. Die Art und Weise, wie Menschen sich selbst und die Welt um sich herum wahrnehmen, hat sich grundlegend verändert. Die Technologie ist tief in die  konstruierten Körper eingewoben und ermöglicht eine Vielzahl von Identitätsformen. Die Verschmelzung von Körper und Digitalität eröffnet ein breites Spektrum an Möglichkeiten und Herausforderungen. Es ist eine Entwicklung, die das Verständnis von Identität, Realität und Technologie in vielschichtiger Weise herausfordert und erweitert. Dennoch wirft diese Entwicklung auch kritische Fragen auf, insbesondere im Hinblick auf die Sichtbarkeit und Unterdrückung verschiedener Identitäten im digitalen Raum.

28 Vgl. ebd., S. 31.

29  Ebd., S. 31.

30 Vgl. Klipphahn-Karge, Michael, „Monströse Körper, ambige Maschinen, Jordan Wofsons (Female Figure)“, in: Queer KI: Zum Coming-out smarter Maschinen, hg. von Michael Klipphahn-Karge, Ann-Kathrin Koster und Morais dos Santos Bruss, Sara, Bielefeld: transcript Verlag, 2022,  S. 79.

31 Russell, Legacy: Glitch Feminismus, Leipzig: Merve Verlag, 2021, S.64.

Jenseits des Binären: Herausforderung und Chancen

Die heutige Gesellschaft ist nach wie vor in vielen Aspekten von einem binären Denken durchdrungen, das Körper in eng definierte Kategorien zwingt. In diesem Kontext bieten digitale Räume sowohl Herausforderungen als auch hoffnungsvolle Perspektiven für die eigenständige Gestaltung, jenseits dieser binären Strukturen zu agieren, dem System zu entkommen und die Schaffung sichererer Räume (Safer Spaces). Nichtsdestotrotz bleibt die Bewegung im Cyberspace nicht frei von den Beschränkungen binärer und heteronormativen Paradigmen, die Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb des digitalen Gefüges weiterhin unsichtbar machen.

Alle gegenwärtigen Räume, in denen sich Körper bewegen, sind von patriarchalen Strukturen durchzogen, das schließt ebenso digitale Räume mit ein. Das Patriarchat beansprucht Raum als Instrument sozialer Dominanz und insbesondere in Verbindung mit dem Weißsein bleibt nur ein begrenzter Raum für Diversität, wie Russell festhält. All diese Räume sind hauptsächlich für diejenigen gestaltet, die den binären, heteronormativen Normen folgen, während abweichende Identitäten wenig Platz haben.32 Dabei spielt Gender eine entscheidende Rolle im Patriarchat, bei der Konstruktion von Körpern und Identitäten: „Gender existiert und wird verteidigt, um Körper zu versichern, Gender vergibt Wert an jene, die unter seinem Zwang erfolgreich und folgsam arbeiten, die seinem aggressiven Algorithmus beipflichten.“33. Die Kategorisierung geht über das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht hinaus, sie verändert die Wahrnehmung und beeinflusst den Alltag von Menschen. Gender ist in unsere sozialen und kulturellen Erfahrungen eingebettet und durchzieht alle öffentlichen Räume.34

32 Vgl. ebd., S. 25

33  Ebd., S. 105f.

34 Vgl. ebd., S. 77.

Die Kritik an der binären Konstruktion von Gender ist von essenzieller Bedeutung, da sie die Vielfalt und Selbstbestimmung von Individuen einschränkt. Russell macht deutlich, dass Gender-Kategorien aufgezwungen werden und die Autonomie untergraben, indem sie vorgeben, dass Körper nicht veränderbar seien. Dies resultiert darin, dass Menschen in vordefinierte Schubladen eingeordnet werden, ohne die Möglichkeit zur individuellen Definition und Wahl.35 Dabei appelliert Russell: „Uns muss klar werden, dass die Beziehung zwischen der Idee des Körpers und Gender als Konstrukt eine schädliche ist, aus der wir unbedingt raus müssen.“36

Selbstbestimmung in digitalen Räumen erfordert eine kritische Reflexion der bestehenden Normen sowie eine aktive Auseinandersetzung mit dem binären Konstrukt. Es wird klar ersichtlich, dass digitale Räume zwar eine Gelegenheit bieten, sich jenseits des binären Konstrukts zu entfalten, jedoch gleichzeitig nach wie vor von den gleichen hierarchischen, patriarchalen Strukturen geprägt sind. Die Bewegung von Daten in der digitalen Welt unterliegt weiterhin einer geschlechtsspezifischen Ökonomie, die es nicht-binären Körpern erschwert, sich selbstbestimmt zu entfalten.37 Die Schaffung einer inklusiven und befreiten digitalen Umgebung erfordert somit eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Konstrukten und die Errichtung von sicheren Räumen, in denen eine vielfältige Bandbreite an Identitäten sichtbar und respektiert wird.

35 Vgl. ebd., S. 14f.

36 Ebd., S. 61.

37 Vgl. ebd., S. 64.

Digitale Orte: Transformative Selbstermächtigung und Widerstand

Im Kontext der digitalen Ermächtigung gewinnt die Betrachtung der Wechselwirkung zwischen digitalen Identitäten und ihren Auswirkungen auf die Offline-Welt an Bedeutung. Diese Interaktion zwischen virtuellen und analogen Sphären wirft Licht auf die Frage, inwiefern das Verweilen in digitalen Räumen das Verhalten und die Wahrnehmung in der Offline-Welt beeinflusst und wo Potenziale für Widerstand liegen und warum Widerstand wichtig ist. 

Digitale Ermächtigung und die Auswirkungen auf die AFK Welt

Russell betont die Dynamik zwischen digitaler Anonymität und der Sichtbarkeit in der AFK.  Um den Dualismus zwischen digitaler und physischer Welt zu überwinden, verwendet Russell die Abkürzung AFK (Away from Keyboard) als Alternative zur Bezeichnung IRL (In Real Life) für die Offline-Welt außerhalb des Bildschirms. Diese Herangehensweise zielt darauf ab, die Vorstellung zu vermeiden, dass eine Sphäre realer sei als die andere.38

Russell beschreibt das Phänomen des Benannt- und Gesehen-Werdens in der Offline-Welt als eine Art ‘Gewalt der Sichtbarkeit’39. Besonders marginalisierte Menschen müssen gegen eine Sichtbarkeit ankämpfen, die oft ohne ihre Zustimmung über sie gestülpt wird.40 Dieses Spannungsfeld zwischen virtueller Anonymität und realer Sichtbarkeit in der AFK Welt illustriert einen wichtigen Kernpunkt der Thematik.

Online-Identitäten überschreiten die Grenzen virtueller  Räume und manifestieren sich auch in der Offline-Welt. In diesem Zusammenhang hinterfragt Russell den dualistischen Charakter des ‘echten Lebens’ und der ‘Online-Identität’ und veranschaulicht die Wechselwirkungen zwischen digitalen und analogen Erlebniswelten. Sie stellt fest, dass die Verbundenheit beider Dimensionen und das digitale Handeln tiefgreifende Auswirkungen auf die Offline-Erfahrungen haben können.41

Die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Claudia Haas verdeutlicht, dass die Präsenz in digitalen Räumen zu einer veränderten Wahrnehmung der eigenen Person führen kann. Menschen lösen sich kurzzeitig von ihrem derzeitigen Selbst und verändern ihre Wertvorstellungen, so Haas. Dabei kann es passieren, dass Menschen von der vorherrschenden Gruppendynamik mitgerissen werden und von außen dadurch eher als Gruppe und weniger als einzelne Individuen wahrgenommen werden.42 Haas bringt zum Ausdruck, dass die Partizipation in sozialen Medien dazu beitragen kann, das eigene Selbstbewusstsein zu stärken, was sich wiederum auf die Offline-Welt übertrage.43 Russells Gedanken über die Reise von der digitalen in die analoge Welt unterstreichen diese Verbindung. Sie beschreibt diese Reise als Prozess der Fragmentierung und Wiederzusammenfügung des Selbst. Dies zeigt auf, wie digitale Interaktionen das individuelle Selbstbild beeinflussen und formen.44

Die enge Beziehung zwischen digitalen Identitäten und ihrer Auswirkung auf das Verhalten und die Wahrnehmung in der Offline-Welt untermauert, dass digitale Ermächtigung in Online-Räumen die Offline-Welt nachhaltig beeinflussen kann.

38 Vgl. ebd., S. 34.

39  Ebd., S. 13.

40 Vgl. ebd.

41 Vgl. ebd., S. 45.

42 Vgl. Haas, Claudia in Nowak, Tine: Debatten-Dienstag digital: #CHANGE – Digitale Protestkultur, Frankfurt 2021, https://www.mediathek-hessen.de/medienview_24122_von-Tine-Nowak-Frankfurt-Debatten-Dienstag-digital.html (abgerufen am 15.09.2023),  33:52-34:48.

43 Vlg. ebd., Hass, Claudia, 24:40-25:06.

44 Vgl. Russell, Legacy: Glitch Feminismus, Leipzig: Merve Verlag, 2021, S. 49.

Partizipation und Widerstand 

Digitale Räume erweisen sich nicht bloß als ‘Safer Spaces’ für Individuen, sondern können gleichermaßen als Plattformen für den Widerstand gegen unterdrückende Machtstrukturen und feindliche Normativität des Mainstreams genutzt werden.45 Hier können traditionelle Hierarchien infrage gestellt und neu interpretiert werden. Dieser Ansatz wird von Feminist Principles, unterstützt, dabei werden Prinzipen zusammengetragen, welche entscheident sein sollen für die realisierung eines feministischen Internets. Diese betonen, dass das Internet ein Raum ist, in dem soziale Normen verhandelt und ausgehandelt werden können.46

Die Nutzung des Internets für Protest47 und Widerstand ist alles andere als neu. Basil Rogger vermerkt, dass Protest sozusagen immer ist und es keine protestfreien Zonen oder Zeiten gibt. In dieser Hinsicht sind auch digitale Orte durchzogen von Widerstand und Körpern, die sich gegen etablierte Zustände auflehnen. Dabei werden digitale Räume umgestaltet, um den eigenen Anliegen und Zielen eine Stimme zu verleihen.48 Die leichteren Kommunikationswege ermöglichen eine schnellere Organisation von Protestaktionen und eine engere Vernetzung zwischen Mitstreiter*innen.49 Haas hebt hervor, dass im Digitalen eine wahrgenommene Anonymität vorherrscht, die Menschen die Freiheit gibt, die sie in der analogen Welt nicht immer haben. Dieser wahrgenommene Schutzraum eröffnet die Möglichkeit, Themen anzusprechen, die in anderen Kontexten tabuisiert werden.50

45 Vgl. ebd., S. 54.

46 Feminist Principles of the Internet, www.feministinternet.org (abgerufen am 15.09.2023). Vergleiche außerdem die deutsche Übersetzung der Prinzipien in: Sollfrank, Cornelia: Die schönen Kriegerinnen.
Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert
, Wien: transversal, 2018, S. 123 ff.

47 Die Bedeutung von Protest wird als das „Zeugnis ablegen für etwas“ beschrieben, das eine innerliche Verpflichtung zur Überzeugung und zum Einstehen für diese Überzeugungen beinhaltet. Protest ist somit eine Zukunftspraxis, die eine bessere Welt vorwegnimmt und aktiv zur Gestaltung der Zukunft beiträgt. Protest ist ein symbolisches Spiel, das Veränderung durch Abgrenzung, Aneignung und Umwandlung ermöglicht. Rogger, Basil, „PROTEST. Eine Zukunftspraxis“, in: Protest. Eine Zukunftspraxis, hg. von Lars Müller Publishers, Basil Rogger, Jonas Voegeli, Ruedi Widmer und Museum für Gestaltung Zürich, Zürich: Lars Müller Publishers, 2018, S. 33-39.

48 Vgl. Rogger, Basil, „PROTEST. Eine Zukunftspraxis“, in: Protest. Eine Zukunftspraxis, hg. von Lars Müller Publishers, Basil Rogger, Jonas Voegeli, Ruedi Widmer und Museum für Gestaltung Zürich, Zürich: Lars Müller Publishers, 2018, S. 37. 

49 Vgl. Reuther, Markus in Nowak, Tine: Debatten-Dienstag digital: #CHANGE – Digitale Protestkultur, Frankfurt 2021, https://www.mediathek-hessen.de/medienview_24122_von-Tine-Nowak-Frankfurt-Debatten-Dienstag-digital.html (abgerufen am 15.09.2023),  08:30-08:40.

50 Vgl. ebd., Haas, Claudia in Nowak, 30:30-34:48.

Ein eminentes Beispiel für den digitalen Widerstand ist die #MeToo-Bewegung, die ab 2017 weltweit Aufmerksamkeit erregte. Diese Bewegung stellt eine globale Initiative gegen sexuelle Belästigung und Missbrauch dar, sie begann als viraler Protest auf sozialen Medien und erreichte in kürzester Zeit Millionen von Menschen. Mithilfe des Hashtags #MeToo haben unzählige Menschen ihre persönlichen Erfahrungen sexualisierter Gewalt geteilt, angefangen von verbalen Belästigungen im Machtgefüge eines Arbeitsplatzes bis hin zu Vergewaltigungen. Dadurch wurden weit verbreitete Missstände ins Rampenlicht gerückt.  Die Folge davon waren tatsächliche Konsequenzen für Täter*innen, die strafrechtlich belangt wurden.51 Der Aktivismus durch Hashtags stellt nicht nur eine innovative Form des Protests dar, sondern fungiert auch als sinnvolle Ergänzung zu etablierten Protestmethoden. Bis heute trägt er dazu bei, weitere Fälle von Missbrauch ans Licht zu bringen.52 Wobei betroffenen Personen, welche sich äußern, ihre Erfahrungen oft auch abgesprochen werden. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie nach Aufmerksamkeit streben und im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen wollen. Ein gutes Beispiel dafür bilden die Diskurse um die Band Rammstein ab.53


Trotzdem bringen die Diskurse Vorfälle an die Öffentlichkeit, die für Betroffene eine Art von Selbstermächtigung darstellen können. Die #MeToo-Bewegung hat dabei nicht nur im digitalen Raum stattgefunden, sondern auch offline erhebliche Auswirkungen gehabt und Debatten über das Thema ausgelöst und angestoßen. Ein Beispiel hierfür ist der massive Streik für Gleichberechtigung am Arbeitsplatz in Spanien am 8. März 2018.  Frauen mobilisierten sich über digitale Kanäle und soziale Medien, um gegen häusliche Gewalt, Femizide und sexualisierte Übergriffe zu protestieren.54 Dieser Streik illustrierte nicht nur die Macht der Online-Kommunikation und -Mobilisierung, sondern verdeutlichte die Wechselwirkung zwischen digitalen und analogen Formen des Protests.

51 Vgl. Grammatikopoulou, Christina, „Virale Gender-Performance“, in: Die schönen Kriegerinnen: Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, hg. von Sollfrank, Cornelia, Wien: transversal, 2018, S. 150ff.

52 Vgl. Dr. Voss, Kathrin in Nowak, Tine: Debatten-Dienstag digital: #CHANGE – Digitale Protestkultur, Frankfurt 2021, https://www.mediathek-hessen.de/medienview_24122_von-Tine-Nowak-Frankfurt-Debatten-Dienstag-digital.html (abgerufen am 15.09.2023),  6:50-7:23.

53 Vgl. Tulej, Aleksandra: SEID’S IHR ALLE DEPPERT?, https://www.dasbiber.at/blog/seids-ihr-alle-deppert, (abgerufen am 15.09.2023).

54 Vgl. Grammatikopoulou, Christina, „Virale Gender-Performance“, in: Die schönen Kriegerinnen: Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, hg. von Sollfrank, Cornelia, Wien: transversal, 2018, S. 150 ff. 

Digitaler Protest kann als initiierender Schritt in die Welt des Aktivismus dienen und das individuelle Selbstbewusstsein stärken. Dennoch stellt sich die Frage, ob einfaches Klicken und Online-Präsenz ausreicht und dadurch die physische Präsenz bei Protesten auf der Straße abnimmt. Von vielen Quellen wird behauptet, dass effektiver Aktivismus eine geplante physische Präsenz erfordert und solange diese organisiert wird, bleibt der Protest auf der Straße relevant und wirkungsvoll.55

Die Wahrnehmung des digitalen Protests auf politischer Ebene bleibt dennoch oft begrenzt und wird verniedlicht, insbesondere in Bezug auf die Beteiligung junger Menschen.56 Politiker*innen ringen damit, den digitalen Aktivismus angemessen zu erfassen und darauf zu reagieren. Es herrscht Unsicherheit über die Authentizität und Echtheit der online generierten Aktionen. Eine Veränderung in der politischen Wahrnehmung und Anerkennung ist notwendig, um die Wirkmacht der Online-Bewegungen zu verstehen, so Voss.57

Digitaler Protest ersetzt den analogen nicht, sondern ergänzt ihn, diese Tatsache wird stets betont. Ein wesentlicher Kritikpunkt liegt darin, dass analoge Proteste die Ernsthaftigkeit einer Bewegung besser abbilden, in den Augen von Politik*innen. Der menschliche Körper dient dabei als primäres Ausdrucksmittel des Protests und trägt zur Mobilisierung von Massenbewegungen bei.58

55 Vgl. Haas, Claudia in Nowak, Tine: Debatten-Dienstag digital: #CHANGE – Digitale Protestkultur, Frankfurt 2021, https://www.mediathek-hessen.de/medienview_24122_von-Tine-Nowak-Frankfurt-Debatten-Dienstag-digital.html (abgerufen am 15.09.2023),  24:40-25:15.

56 Vgl. ebd.,  Haas, Claudia, 12:10-12:30.

57 Vgl. ebd., Dr. Voss, Kathrin, 15:00-15:30.

58 Vgl. Rogger, Basil, „PROTEST. Eine Zukunftspraxis“, in: Protest. Eine Zukunftspraxis, hg. von Lars Müller Publishers, Basil Rogger, Jonas Voegeli, Ruedi Widmer und Museum für Gestaltung Zürich, Zürich: Lars Müller Publishers, 2018, S. 42.

Kritische Betrachtung und Diskussion

Die digitale Landschaft verspricht Ermächtigung und Widerstand für diverse Individuen in Form von digitalen Körpern. Diese vielversprechenden Ideale stehen, sobald man näher hinschaut, im Schatten kritischer Fragen, die eine sorgfältige Reflexion erfordern. Die Utopie eines inklusiven und gleichberechtigten digitalen Raums steht im Kontrast zur tatsächlichen Realität des Internets, in dem Machtstrukturen, Überwachung und Ungleichheiten präsent sind.

Die Frage nach Zugang und Privilegien

Die digitale Sphäre eröffnet zweifelsohne das Potenzial, diverse Individuen zu ermächtigen und Widerstand zu ermöglichen. Jedoch muss sich hinsichtlich der vermeintlichen Ermächtigung gefragt werden, wer Zugang zu digitalen Räumen hat und wer das Privileg besitzt, diese Räume tatsächlich für sich nutzen zu können? Und wo die Grenzen für durchschnittliche Bürger*innen sind? 

Die Diskussion um die Zugänglichkeit und die Teilhabe in digitalen Räumen ist von zentraler Bedeutung. Russell lenkt die Aufmerksamkeit darauf, wie Körper im Reich des Maschinellen und des Digitalen sich entfalten und sichtbar werden können, im Vergleich zu AFK. Dabei geht es laut Russell um die Schaffung von Formen, die für alle offen sind und Orte für individuelle Handlungsspielräume bieten.59

Wie bereits festgestellt, leiden marginalisierte Gruppen besonders unter den globalen Missständen. In diesem Kontext ist die Entwicklung nachhaltiger Zukunftsvisionen und Techniken zur Gestaltung sicherer Räume von entscheidender Bedeutung.60 Jedoch ist der Zutritt zum Internet nicht einheitlich. Haas hebt hervor, dass das Internet zwar niedrigschwellig sein kann, jedoch nicht für alle gleichermaßen barrierefrei ist.61 Nicht alle Menschen haben denselben Grad an Zugang zu digitalen Räumen oder das Selbstvertrauen, sich dort zu engagieren. Insbesondere Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau trauen sich oft weniger zu, ihre Meinung zu äußern oder sich zu beteiligen.62

Auch die Frage nach der Repräsentativität wird aufgeworfen. Auch Voss bemerkt, dass überwiegend gebildete und bürgerliche Schichten sich online engagieren. Dies impliziert, dass das, was in den digitalen Räumen sichtbar ist und wer sich dort aufhält, nicht eine gesamtgesellschaftliche Repräsentation widerspiegelt.63

Zugänglichkeit und Repräsentativität in digitalen Räumen sind Schlüsselfaktoren, die berücksichtigt werden müssen, um eine umfassende Ermächtigung in der digitalen Welt sicherzustellen.

59 Vgl. Russell, Legacy: Glitch Feminismus, Leipzig: Merve Verlag, 2021,l S. 16.

60 Vgl. ebd., S. 26f.

61 Vgl. Haas, Claudia in Nowak, Tine: Debatten-Dienstag digital: #CHANGE – Digitale Protestkultur, Frankfurt 2021, https://www.mediathek-hessen.de/medienview_24122_von-Tine-Nowak-Frankfurt-Debatten-Dienstag-digital.html (abgerufen am 15.09.2023),  09:00-09:07.

62 Vgl. ebd., Haas, Claudia, 20:20-20:50.

63 Vgl. ebd., Dr. Voss, Kathrin, 17:30-18:00.

Utopische Ideale und Realität digitaler Räume

Trotz all dieser Aspekte ermöglichen digitale Räume es Menschen, ihre Selbstentfaltung voranzutreiben und Aktivist*innen, sich zu vernetzen, zu mobilisieren und Informationen auszutauschen. Dennoch ist es wesentlich zu berücksichtigen, dass Plattformen in der digitalen Welt nicht neutral agieren. Das Zusammenspiel von Macht und Technologie führt zu einer fragmentierten Realität. Die Freiheit, die das Internet verspricht, wird durch Geschäftsstrategien und Algorithmen eingeschränkt. Dies hat zur Folge, dass die Repräsentativität von Meinungen und beispielsweise Protesten auf diesen Plattformen beeinträchtigt wird. Unternehmen beeinflussen, wie Inhalte ausgespielt und möglicherweise sogar gelöscht werden.64 

Die massenhafte Datensammlung wirft Bedenken bezüglich Massenüberwachung und Nutzung der mit den digitalen Selbsten verbundenen Informationen dar. Tag für Tag teilen Menschen bewusst oder auch unbewusst Informationen in digitalen Räumen, die ihre Privatsphäre, Gedanken, Ängste, Wünsche und mehr offenlegen.65 Die scheinbare Anonymität und die empfundene Freiheit sind ein sensibles Konstrukt, was sich schnell als Illusion erweisen kann. Einerseits ermöglicht das Internet den Menschen Möglichkeit zur Vernetzung und zum Austausch von Informationen, gleichzeitig werden Aktivist*innen als Bedrohung wahrgenommen, was zu Repression und Verfolgung führen kann.66 Infolgedessen müssen Aktivist*innen daher mit Vorsicht vorgehen, um ihre Identität zu schützen und um potenzielle Konsequenzen zu vermeiden.

64 Vgl .ebd., Haas, Claudia, 41:25-42:12.

65 Vgl. Russell, Legacy: Glitch Feminismus, Leipzig: Merve Verlag, 2021, S. 62.

66 Vgl. Kretschmer, Fabian: Follower in Uniform, https://www.fluter.de/social-media-zensur-in-china (abgerufen am 15.09.2023).

„[…] du kannst dein Leben, deinen Körper, deinen Aufenthaltsort, deine Kontakte, deine sensiblen persönlichen Daten oder den Inhalt deiner Kommunikation nur teilweise schützen.“67 schreibt Spideralex.

Der digitalen Welt wohnt eine Dualität inne: Sie beherbergt sowohl Ausgrenzung, Ausbeutung, Misogynie und Rassismus als auch Kreativität, Leidenschaft und Ermächtigung. Die Grenze zwischen Schatten und Licht, die im physischen Raum existiert, setzt sich auch im digitalen Raum fort.68 Trotz vieler positiver Aspekte sollten die negativen nicht unbeachtet bleiben, ihre Auswirkungen können vielfältige Folgen nach sich ziehen, wie es Miyazaki darlegt: „Digitalität fordert und drängt sich auf, automatisiert, isoliert, zerteilt, kontrolliert, überwacht, verhindert, diskriminiert, schließt aus, entwertet, verschleißt und vernichtet auf vielen Ebenen.“69

Die Konfrontation mit der Präsenz hegemonialer Machtstrukturen erfordert ein Überdenken der Kämpfe gegen die ‘Norm’, in Offline- wie Online-Räumen.70 Die Utopie einer gleichberechtigten digitalen Welt, in der Technologie und Körper Autonomie genießen, ist eine Herausforderung, die es anzugehen gilt.

Es bleibt vor allem die Frage bestehen, die Michael Klipphahn-Karge aufwirft: ob eine Inklusion in ein heteronormatives System tatsächlich die gewünschte Lösung ist und ob die bloße Einbindung in bestehende Strukturen ausreichend ist, um queeres Leben zu unterstützen.71

67 Spideralex, „Neue Welten erfinden – mit cyberfeministischen Praxen und Ideen“, in: Die schönen Kriegerinnen: Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, hg. von Sollfrank, Cornelia, Wien:  transversal, 2018,  S. 67.

68 Vgl. vale, hvale, „Eine persönlich_ kollektive Geschichte des Imaginierens und Machens von #feministinternet.: Über die Entstehung der Feministischen Prinzipien des Internets“, in: Die schönen Kriegerinnen: Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, hg. von Sollfrank, Cornelia, Wien: transversal, 2018, S. 112.

69 Miyazaki, Shintaro: Digitalität Tanzen!: Über Commoning & Computing, Bielefeld: transcript Verlag, 2022, S. 7.

70 Vgl. Vgl. Federici, Silvia: Jenseits unserer Haut: Körper als umkämpfter Ort im Kapitalismus, 2. Auflage, Münster: UNRAST-Verlag, 2020, S. 18.

71 Vlg. Klipphahn-Karge, Michael; Koster, Ann-Kathrin; Morais dos Santos Bruss, Sara, „Einleitung: Queering KI“, in: Queer KI: Zum Coming-out smarter Maschinen, hg. von ders., Bielefeld:  transcript Verlag 2022, S. 25.

Fazit und Ausblick

Die Verschmelzung von digitalen Avataren und Offline-Persönlichkeit zeigt den ständigen Einfluss und Austausch zwischen AFK und Online-Welt. Diese komplexe Interaktion ermöglicht Selbstentfaltung, Ermächtigung und Aktivismus in digitalen Räumen.72 Digitale-Orte fungieren für Menschen als Plattformen, ihre Identitäten neu zu gestalten, sich auszudrücken, zu vernetzen und Widerstand zu leisten. Eine bemerkenswerte Dimension des Internets liegt darin, inmitten einer Welt, die immer noch von Diskriminierung geprägt ist, ein Versammlungsort für marginalisierte Stimmen und Körper zu sein, wie Russell treffend verdeutlicht.73

Dennoch bergen digitale Räume ebenso erhebliche Herausforderungen. Kernfragen hinsichtlich Zugang, Privilegien, Repräsentativität, Diskriminierung und Überwachung bleiben zentral. Die Utopie eines inklusiven Internets und damit verbundener digitalen Räume steht im Kontrast zur Realität, in der Machtstrukturen und Ungleichheiten fortbestehen. 

Es scheint unwahrscheinlich, dass digitale Räume mit all ihren inhärenten Machtstrukturen gänzlich zerstört und von Grund auf neu aufgebaut werden können, sodass alle Körper sich frei bewegen können. Vielmehr liegt die Wahrscheinlichkeit in einem subversiven Widerstand, der es ermöglichen könnte, schrittweise Veränderungen zu bewirken.74 Dabei könnten bestehende Normen und Strukturen infrage  gestellt und transformiert werden und eine nachhaltige Veränderung in der digitalen Landschaft herbeigeführt werden.
Abschließend bleiben bestimmte Themen in Bezug auf den Körper nach wie vor offen und unangesprochen. Dies umfasst die Darstellung und Sexualisierung von Körpern, Zensur von Körpern, Aufklärung über Körper sowie Problematik des Cybermobbings und wahrscheinlich noch weitere Themen, die den Rahmen dieses Textes sprengen würden. Ein weiterer Kritikpunkt, der bisher unzureichend berücksichtigt wurde, betrifft die in Teilen ableistische Sprache im Kontext des Cyber- und Technofeminismus, der einen großen Teil der Literatur abbildet, die bedeutend für diese Arbeit war. Der Glitch Feminismus beispielsweise verwendet Adressierungen, die für Menschen mit Behinderung im Alltag Gewalt und Bedrohung repräsentieren, ohne das verkörperte Wissen und die Erkenntnisse der Disability-Studies angemessen berücksichtigt werden.75 Es wird deutlich, dass eine kritische Reflexion über die verwendeten Konzepte, Bilder und Narrative essentiell bleibt, um die vermeintliche Normalität zu hinterfragen und eine inklusive und gerechtere Diskussion über Körper im Rahmen des Technofeminismus zu fördern.76

72 Vgl. Russell, Legacy: Glitch Feminismus, Leipzig: Merve Verlag, 2021, S. 31f.

73  Vgl. ebd., S. 112.

74 Vgl. Russell, Legacy: Glitch Feminismus, Leipzig: Merve Verlag, 2021,S. 29.

75 Vgl. Kalender, Ute, „Queer-crip Perspektiven auf die Cyborg-Figur im Kontext von Künstlicher Intelligenz“, in: Queer KI: Zum Coming-out smarter Maschinen, hg. von Michael Klipphahn-Karge, Ann-Kathrin Koster und Morais dos Santos Bruss, Sara, Bielefeld:  transcript Verlag, 2022, S. 108.

76 Zu empfehlen ist der Beitrag: in Queer Ki von Ute Kalender, welche sich intensiver mit dieser Thematik auseinandergesetzt hat.


Literaturverzeichnis

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Klipphahn-Karge, Michael; Koster, Ann-Kathrin; Morais dos Santos Bruss, Sara, „Einleitung: Queering KI“, in: Queer KI: Zum Coming-out smarter Maschinen, hg. von ders., Bielefeld:  transcript Verlag 2022, S. 13–35

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Hausarbeit von Natalia Dill
in Digitale Kulturen und Nachhaltigkeit
bei Dr. Paul Feigelfeld

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