Emotionen im Wandel: Die gesellschaftliche Bedeutung der Wut

Hausarbeit von Natalia Dill

Disclaimer

Ich möchte darauf hinweisen, dass ich mich dem Thema Wut aus einer Perspektive annähre, die von meiner eigenen Erfahrungen als eine Person, die weiß, cis-geschlechtlich, akademisch ausgebildet und eurozentrisch geprägt ist. Ebenso bin ich mir bewusst, dass ich nicht von Ableismus betroffen bin. Das Wort „weiß“ wird bewusst klein und kursiv geschrieben, dabei wird nicht die Farbe „weiß“ beschrieben, sondern die politische Markierung von Menschen, die von einem System profitieren, in dem weiße Menschen Privilegien genießen. Der Begriff “Schwarz” wird hingegen häufig als Selbstbezeichnung von Personen afrikanischer und afro-diasprischer Abstammung, Menschen mit dunkler Hautfarbe und PoC genutzt. Die bewusste Verwendung des großgeschriebenen „S“ dient dazu, eine sozialpolitische Standpunktsetzung in einer vorwiegend von weißen Menschen dominierten Gesellschaft zu manifestieren und symbolisiert eine emanzipatorische Widerstandspraxis.1

Im folgendem Text wird mit dem Sternchen (*) gegendert. Wenn ich in dem Text von FLINTA* spreche dann sind damit Frauen, Lesben, Inter, Nicht-Binär, Trans(gender), Agender, Person gemeint. Das * steht für alle Personen, die sich nicht in eine der genannten Geschlechtsidentitäten einordnen und keine cis Männer sind. FLINTA* ist ein Sammelbegriff für Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden und von Sexismus betroffen sind. FLINTA* soll hierbei nicht als “inklusiverer” Begriff für Frauen verwendet werden, sondern wird benutzt, um sich explizit von der Einteilung in feste Kategorien, wie “Mann” und “Frau” loszusprechen. Cis Männer sind hingegen Männer, denen das männliche Geschlecht bei der Geburt zugewiesen wurde und die sich auch mit diesem Geschlecht identifizieren. 

In einer Gesellschaft, in der die Grundannahme herrscht, dass Menschen in (zwei) Geschlechterkategorien eingeteilt werden – nämlich “Mann” und “Frau” – werden alle Menschen bspw. aufgrund ihres Aussehens, ihrer Verhaltensweisen als “weiblich” oder als “männlich” wahrgenommen bzw. “gelesen”. Dies geschieht fälschlicherweise, meist automatisch. Von einer Person, die weiblich gelesen wird, werden Verhaltensweisen erwartet,

welche der Geschlechterrolle der Frau zugeordnet werden. Dementsprechend wird ihr in gesellschaftlichen Kontexten auf diese Weise begegnet. 

Sozialisation umfasst alle Phasen, durch die ein Mensch zur gesellschaftlich handlungsfähigen Persönlichkeit wird. Dies geschieht durch das Hineinwachsen in gesellschaftliche Struktur- und Interaktionszusammenhänge wie Familie oder soziale Klassen. Gleichzeitig erfolgt eine Verteilung der Individuen auf unterschiedlich bewertete Positionen innerhalb der Gesellschaft.2

Als “queer” bezeichnen sich Menschen, deren geschlechtliche Identität (wer sie in Bezug auf Geschlecht sind) und/oder sexuelle Orientierung (wen sie begehren oder wie sie lieben) nicht der zweigeschlechtlichen, cis-geschlechtlichen und/oder heterosexuellen Norm entspricht.3 Queer-Feministisch beschreibt […] den Kampf für Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Selbstbestimmung aller Geschlechter und Identitäten im privaten und öffentlichen Bereich.4

Vgl. Bildet Wutbanden: “Bildet-Wutbanden/ Glossar” auf www.transformazine.de, https://transformazine.de/bildet-wutbanden-glossar, (abgerufen am 15.09.2023).

2 Vgl. Meinhold, Nadine: Geschlechtsspezifische Sozialisation,  https://www.grin.com/document/98925, (zuletzt aufgerufen am 15.09.2023).

3 Vgl. Qeer: https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/queer, (zuletzt aufgerufen am 15.09.2023)

4 Vgl. ebd.

Einleitung

Die Schwarze, lesbische, feministische Schriftstellerin, Mutter, Dichterin und Kriegerin Audre Lorde schreibt in ihrem Buch Sister Outsider (2021): “Aus meiner Angst vor der Wut habe ich nichts gelernt. Auch ihr werdet aus eurer Angst vor der Wut nichts lernen.”5

Die menschliche Emotion der Wut ist ein ebenso faszinierendes wie komplexes Phänomen, das tief in unserer Psyche verankert ist. Die verschiedenen Facetten, in denen sie sich zeigt, und ihre Verknüpfungen mit gesellschaftlichen Konnotationen tragen eine immense Bedeutung. Wut ist mehr als nur ein individuelles Empfinden – sie spiegelt soziale Dynamiken und vorherrschende Machtverhältnisse wider. Die Art und Weise, wie sich Wut im Körper zeigt, kann von Person zu Person unterschiedlich sein – einige verspüren Hitze, während andere Kälte verspüren; Muskeln spannen sich an, Zähne werden zusammengebissen, die Stirn in Falten gelegt, Fäuste werden geballt. Wut ist eben keine uniforme Emotion, sie zeigt sich nicht nur von Person zu Person anders, sondern wird auch unterschiedlich von außen wahrgenommen. Wut kann außerdem für Menschen eine positive Energiequelle sein. Doch wenn dieser Emotion kein Raum gegeben wird, verstärkt sie sich oft und kann negative Konsequenzen nach sich ziehen.6

Wut kann als Reaktion auf Missstände und Diskriminisurng auftreten, darunter Sexismus, Ableismus, Unterdrückung, Armut und Rassismus, um nur einige zu nennen. Diese Auslöser sind oft eng mit gesellschaftlichen Strukturen und Normen verknüpft, die bestimmte Gruppen marginalisieren und benachteiligen.

In dieser Arbeit soll untersucht werden, wie Wut besonders bei weiblich sozialisierten Personen wahrgenommen und ausgedrückt wird. Darüber hinaus wird die mögliche transformative Kraft der Wut beleuchtet, die sich entfalten kann, wenn Individuen eine tiefere Verbindung zu diesem Gefühl entwickeln.

Zuerst wird der Begriff ‘Wut’ näher erläutert und seine psychologischen und sozialen Dimensionen beleuchtet. Anschließend wird in das Thema eingeführt, indem die Zusammenhänge zwischen Wut und sozialen Ungerechtigkeiten aufzeigen werden. Dabei wird auf verschiedene Formen von Diskriminierung und Unterdrückung eingegangen. Schließlich wird das Potenzial der Wut als Treibstoff für soziale Veränderungen diskutiert und mögliche Perspektiven für die Zukunft aufzeigt.

5 Lorde, Audre: Sister Outsieder. „Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen“. München: Carl Hanser Verlag, 2021, S.13

6 Vgl. Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse. München: hanserblau, 2021, S.79.

Die Komplexität der Wut im sozialen Kontext

Die Essenz der Wut liegt in ihrer Entstehung als Reaktion auf Kränkung, Enttäuschung, physische oder psychische Unterdrückung sowie auf Bedrohungen der persönlichen Integrität und Freiheit. Dieser ‘Zustand hoher affektiver Erregung’7 ist ein evolutionär verwurzelter Impuls, der unsere Grenzen schützt und verteidigt.8 Hier zeigt sich deutlich das komplexe Zusammenspiel von individuellen Empfindungen und sozialen Wechselwirkungen.

Wut ist ein wichtiger Teil unseres Organismus. Sie kann sowohl lebenserhaltender Impuls sein als auch eine Kraft, die Veränderungen antreibt. Diese erhebliche Steigerung der Erregung, die mit der Wut einhergeht9, birgt das Potential in produktive Energie umgewandelt zu werden, die Neues hervorbringt.10

Trotz ihrer theoretischen Neutralität ist die praktische Erfahrung von Wut durch soziale Dynamiken geprägt. „Dabei ist Wut nicht binär weiblich oder männlich. Sie wird aufgrund des engen Korsetts des Patriarchats aber in eine rigide Binarität gepresst.“11. Die Geschlechterdimension spielt hier eine besonders bedeutsame Rolle. In einer Gesellschaft, die nach wie vor von patriarchalen Strukturen geprägt ist, wird die Wut weiblich gelesener Personen oft ignoriert oder abgewertet. Geschlechtsspezifische Erwartungen und Rollenbilder formen die Art und Weise, wie Wut wahrgenommen und akzeptiert wird.12

Diese Divergenz zwischen ‘männlicher’ und ‘weiblicher’Wut manifestiert sich schon in der Sozialisierung von Kindern. Weiblich sozialisierte Kinder werden seltener dazu ermutigt, ihre Wut auszudrücken. Dieses Muster setzt sich bis ins Erwachsenenalter fort, sie lernen nie, ihre Wut effektiv zu nutzen und zu verstehen.13 Die starre Verknüpfung von Geschlechterrollen im patriarchalen System beeinflusst nicht nur ihre individuelle Erfahrung mit Wut, sondern verzerrt auch die gesellschaftliche Bedeutung dieser Emotion.

„In diesem System gibt es vorgefertigte Rollen, wie die Angry Black Woman14, ››Kampflesbe‹‹ und die ››immer fröhliche Dick‹‹ – um nur einige festgelegte Rollen aufzuzählen. Denn es ist so, wenn Personen einen Markel haben und von der gesetzten Norm abweichen, nämlich nicht männlich, nicht weiß, nicht cis, nicht heterosexuell oder dünn sind, dürfen sie vor allem eines nicht sein: wütend.“15

In dieser komplexen Dynamik wird Wut zu einem Politikum, das Machtverhältnisse und Kontrollmechanismen widerspiegelt, so Ciani-Spohia Hoeder.16 In einer Gesellschaft, die von weißen, cis-gender, heterosexuellen Männern dominiert wird, wird die Wut zu einem Indikator für Privilegien und Macht.17 Die Wut, so wie sie von der Gesellschaft konstruiert wird, ist keineswegs neutral, sondern stark von Stereotypen und Vorurteilen geprägt, was darüber bestimmt, wie viel Raum marginalsierte Menschen für ihre Wut zugeschrieben bekommen oder eben nicht, wie Hoeder treffend beschreibt.18

7  Klemp, Pia: Wutschrift. Wände einreisen, anstatt sie hochzugehen. München: Penguin Verlag, 2022, S.41.

8  Specktrum der Wissenschaft: Lexion der Psychologie. Wut. spektrum.de. Online verfügbar unter https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/wut/17022, zuletzt geprüft am 26.05.2023, o.J.

9 Vgl. Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse. München: hanserblau, 2021, S.29.

10 Vgl. ebd.

11 Ebd., S.14.

12 Vgl. ebd., S.57.

13 Vgl. ebd,. S.51.

14 Angry Black Women: Laut, hystermisch, erotisch, anstrengen und temperamentvoll. Vgl. ebd.,  S. 91.

15 Ebd., S. 89.

16 Vgl. ebd., S 92.

17 Vgl. ebd., S.184.

18 Vgl. ebd., S.91.

Stereotypisierung und Unterdrückung der Wut bei FLINTA* 

Luka (keine Pronomen): Ich komme aus einer Familie, in der generell sehr wenig Raum war, um Emotionen auszudrücken, insbesondere negativ konnotierte Emotionen, zu denen Wut gehörte. Da ich außerdem weiblich sozialisiert wurde, erinnere ich mich vor allem daran, dass die Tatsache, dass ich ein sehr ruhiges und zurückhaltendes Kind war, oft gelobt wurde. Gerade im Vergleich zu meinem Bruder, der öfter schrie, mit Dingen um sich warf oder Türen knallte, war ich eher der Ruhepol in der Familie, besonders wenn meine Mutter und mein Bruder aneinandergeraten sind und es dann vor allem meine Rolle war, einen oder beide zu trösten. So nahm ich relativ automatisch die ausgleichende, vermittelnde Rolle an und gab weder mir selbst Raum für viele negativen Emotionen, noch wurde er mir wirklich aktiv gegeben. Erst als Teenager habe ich dann sehr punktuelle Erinnerungen von Wut. Daran, wenn ich ungerecht behandelt wurde oder meine Wünsche, besonders was meine Zukunft und meine Selbstbestimmung anging, nicht ernst genommen wurden. Diese Wut hab ich allerdings selten ausgedrückt, sondern mich eher zurückgehalten und angepasst, da mir diese Rolle bekannt war und ich mich darin sehr wohlgefühlt habe. Da ich mich später begann für Gesellschaft und Politik zu interessieren, fand ich einen neuen Zugang zu Wut, der nicht unbedingt direkt mit mir, sondern mit Weltgeschehnissen verknüpft war. Hier fiel es mir leichter, wütend zu sein. Es gab einen Anlass, eine konkrete (externe) Ungerechtigkeit, an der ich etwas ändern wollte. 

Mir ist es sehr lange schwergefallen, und tut es immer noch, mich auf irgendeine Weise mit mir und meinen Emotionen, insbesondere negativen Emotionen, konstruktiv auseinanderzusetzen, was ich definitiv teilweise auf meine Sozialisierung mit (beziehungsweise ohne) Wut zurückführen würde. Mit Menschen gemeinsam wütend sein, auf gesellschaftspolitische Umstände wütend sein, kann ich sehr gut. Aber es ist für mich auf jeden Fall noch ein weiter Weg, die Wut in mir zu nutzen, um auch für mich und meine persönlichen Grenzen einzustehen, mir zuzugestehen, dass ich nicht immer die ausgleichende Person sein muss, sondern auch mal die Person sein darf, die Dinge ins Ungleichgewicht bringt, die laut ist und Konsequenzen zieht, wenn mir eine Ungerechtigkeit widerfährt, die mich wütend macht. Die nicht strukturell, sondern auch zwischenmenschlich sein kann. Ich bin auf jeden Fall noch auf dem Weg zu lernen, wie meine Wut mir helfen kann, Grenzen zu setzen, Bedürfnisse zu kommunizieren und gesunde zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen und zu halten. Ich bin dabei zu lernen, dass Wut nicht nur zerstören kann, sondern auch aufbauen kann, dass Wut nicht immer ausgeglichen werden muss, sondern auch für sich stehen kann und dass ich wütend sein darf, auch auf Dinge, die nur mich persönlich betreffen.

Luka, wie auch vielen anderen FLINTA* Personen fällt es schwer, sich konstruktiv mit den  eigenen Emotionen, die als negativ angesehen werden, auseinanderzusetzen. Luka hat gelernt, Wut eher in sozialen und politischen Kontexten zu erfahren, jedoch fehlt es Luka schwer, die aufkommende Wut konstruktiv in zwischenmenschlichen Beziehungen zu kanalisieren. 
In der Betrachtung von Wut bei weiblich sozialisierten Personen wird ein komplexes Geflecht aus sozialen Normen und Erziehungsmustern sichtbar, das die Unterdrückung dieser Emotion innerhalb dieser Gruppen erklärt. Weiblich sozialisierte Personen unterdrücken ihre Wut, weil sie von Kindheit an gelernt haben, dass sie die zwischenmenschlichen Beziehungen gefährden kann19

Dies ist eine schmerzliche Realität, die weiblich sozialisierte Personen dazu drängt, ihre Emotionen und Anliegen zurückzuhalten, um Konflikte zu vermeiden. Dieses erlernte Verhalten resultiert aus einer langen Geschichte der Unterdrückung ihrer Wut20. In der Gesellschaft wurden und werden weiblich gelesene Personen oft als ‘zickig’, ‘schwierig’, ‘laut’, ‘emotional’ oder ‘unprofessionell’ wahrgenommen und abgewertet21

Eine kritische Haltung oder das Äußern von Wut wird oft als egoistisch und kompliziert angesehen22.  Weiblich sozialisierte Personen lernen, ihre Wut zu unterdrücken und ihre Anliegen sachlich vorzutragen, da sie andernfalls befürchten, nicht ernst genommen zu werden23. Dieses Verhalten wird oft durch gesellschaftliche Normen und Erwartungen verstärkt, die ihnen nahe legen, Frieden zu stiften und Konflikte zu vermeiden. Şeyda Kurt schreibt: „Es liegt – wie so oft in den westlichen Philosophien – an der Vernunft, negativen Emotionen oder Affekte wie Zorn und Hass zu regulieren, die Ordnung zu erhalten.“24

Die Unterdrückung von Wut bei weiblich sozialisierten Personen steht im scharfen Kontrast zur positiven Bewertung ‘männlicher’ Wut25. Diese geschlechtsspezifische Unterscheidung führt dazu, dass ‘männliche’ Wut akzeptiert wird, während ‘weibliche’ Wut abgelehnt wird. Dieser Unterschied in der Wahrnehmung von Wut trägt zur Aufrechterhaltung von Geschlechterstereotypen bei.


Hoeder bezieht sich in ihrem Buch Wut und Böse (2021) auf die Psychologin Teresa Bernardez welche drei Faktoren identifiziert, die die Unterdrückung von Wut bei weiblich sozialisierten Personen erklären: die gesellschaftliche Stellung von weiblich sozialisierten Personen als Untergebene, die Zuweisung von weiblich sozialisierten Personen zu Dienstleistungsaufgaben und das Bild des ‘weiblichen Ideals’, das sowohl Unterwürfigkeit als auch Fürsorglichkeit vereint. Diese Faktoren verstärken die Erwartung, dass weiblich sozialisierte Personen ihre Wut unterdrücken und Konflikte vermeiden sollten.26

So hat auch Luka, aufgrund ihrer familiären Hintergründe und Geschlechtssozialisation gelernt, ihre negativen Emotionen, insbesondere Wut, zurückzuhalten und eine vermittelnde Rolle einzunehmen. In Lukas Familie wurde Ruhe und Anpassung positiv bewertet, während Wut als weniger akzeptabel galt. Diese Rolle führte dazu, dass Luka die Wut selten ausdrückte und sich stattdessen anpasste.

19 Vgl. ebd., S.78.

20 Vgl. ebd., S.141.

21 Vgl. ebd,. S.10.

22 Vgl. ebd,. S.140.

23 Vgl. ebd. S.38.

24 Kurt, Şeyda: Hass. Von der Macht eines widerständiges Gefühls. Hamburg: HarperCollins, 2023, S.25.

25 Vgl. Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse. München: hanserblau, 2021, S.38.

26 Vgl. ebd., S.41.

Malou (sie/ihr): Als weiblich sozialisiertes Kind habe ich die Wut anderer Menschen in meinem Umfeld mit erstarrtem Blick wahrgenommen. Ich hatte Angst vor diesen Menschen. Diese scheinbar unkontrollierbare Wucht, die aggressiven verbalen und physischen Ausbrüche meines Vaters und die verzweifelte und hilflose Wut meiner Mutter haben mich regungslos zurückgelassen. Ihre Wut war so gewaltig, dass sie den gesamten Wut-Raum für sich einnahmen. Für meine Wut war dort kein Platz. Ich konnte von außen durch ein Fenster hineinsehen, aber die Tür blieb verschlossen. Den Schlüssel wollte ich nicht finden. Stattdessen wurde mir von meinen Eltern sowie meiner Schwester eine schlichtende Rolle zugewiesen. Ich musste die wütenden Menschen wieder zusammenbringen, all ihre Wut auffangen und möglichst in etwas Friedliches oder Lustiges umwandeln, auch um für mich selbst einen Ort zu schaffen, in dem ich sicher sein konnte.

Als Teenager nahm ich immer deutlicher die Ungerechtigkeiten wahr, von denen ich umgeben war. In hitzigen Diskussionen, in denen ich meinen Standpunkt vertrat, spürte ich zum ersten Mal diese innere Angespanntheit, dieses große und starke Gefühl, es wollte raus. Ein gewaltiger Tränen-Wasserfall spülte mich in den Wut-Raum und sperrte die Tür hinter sich zu. Von innen schaute ich aus dem Fenster. Ich musste raus, alleine sein, musste Ruhe finden. Immer mal wieder wurde ich unfreiwillig in den Wut-Raum gespült, aus dem ich schnell wieder flüchtete. Es war anstrengend, aufwühlend, zerrte an meinen Kräften. 

Ich behielt meine Wut immer für mich, versuchte sie gar nicht erst zu spüren. Andere sollten sich bloß nicht gestört von ihr fühlen, ich auch nicht. Je älter ich wurde, desto einfacher fiel es mir, sie zu unterdrücken, bis ich irgendwann gar nicht mehr an sie dachte. Ich verordnete Wut als ein Gefühl, das für Menschen bestimmt ist, die sich nicht unter Kontrolle haben. Ich wollte kein Mensch davon sein. In der friedlichen und lustigen Rolle fühlte ich mich sowieso wohler, denn das mochten die Menschen an mir.

Auch Malou hat gelernt, Wut zu unterdrücken und stattdessen eine schlichtende Rolle in ihrer Familie einzunehmen. In ihrer Kindheit begegnete sie der Wut ihrer Eltern, insbesondere ihres Vaters, mit Angst und Erstarrung. 

Audre Lorde schreibt: „Frauen, die zur Angst erzogen wurden, fürchten oft, Wut könnte sie vernichten. Sie sind mit männlich geprägten vorstellungen von Brutalität und Gewalt aufgewachsen und überzeugt, dass ihr Leben vom guten Willen patriarchalischer Macht abhängt; dass der Ärger anderer um jeden Preis vermieden werden muss, da er nichts als Schmerz bringt und immer eine Reaktion auf das eigene Verhalten ist; vielleicht waren sie böse Mädchen, haben den Erwartungen nicht entsprochen oder etwas getan, was sie nicht durften. Und wenn sie ihre Machtlosigkeit akzeptieren, kann Wut sie tatsächlich zerstören.“27 

Die Wut im Umfeld von Malou war so überwältigend, dass für ihre eigene Wut kein Platz blieb. Sie wurde von ihrer Familie in die Rolle der Vermittlerin gedrängt, die die Wut anderer besänftigen sollte und in etwas Positives umzuwandeln, um auch einen sicheren Ort für sich selbst zu schaffen. Mädchen lernen bereits im Kindesalter, sich in andere hineinzuversetzen und Beziehungen aufzubauen oder aufrechtzuerhalten, statt ihre eigenen Bedürfnisse zu äußern.28 Ihnen wird die Rolle der Streitschlichter*innen auferlegt29 und obwohl ihre eigenen Emotionen unterdrückt werden, übernehmen sie gleichzeitig emotionale Arbeit, sie trösten und sind verständnisvoll gegenüber den Gefühlen anderer30.

FLINTA* behalten ihre Wut oft für sich, haben Angst vor ihr, Angst, die Wut zu zeigen und zu spüren, Angst vor der Wut anderer. Als eine Form von Selbstschutz31 schreiben sich weiblich sozialisierte Personen eher positiven Rollen zu, wie es auch Malou gemacht hat, die sich in einer friedlichen und lustigen Rolle wohler fühlte. 

Aber Emotionen wie Trauer und Wut, obwohl sie unangenehm sein können, spielen eine essenzielle Rolle in unserem emotionalen Spektrum. Wie Hoeder darstellt dienen sie dazu, Erlebtes zu verarbeiten und loszulassen32. Wenn wir diese Emotionen ignorieren oder unterdrücken, sammelt sich emotionaler Ballast an, der unseren Alltag belastet und uns langfristig beeinträchtigt. Interessanterweise zeigt sich, dass Trauer oft als eine Bewältigungsstrategie verwendet wird, um Wut zu vermeiden33.  Dies verdeutlicht die komplexe Beziehung zwischen diesen beiden Emotionen und wie sie miteinander verbunden sind. Darauf soll noch im folgenden Kapitel eingegangen werden. 

27 Lorde, Audre: Sister Outsieder. „Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen“. München: Carl Hanser Verlag, 2021, S. 23.

28 Vgl. Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse. München: hanserblau, 2021, S.77.

29 Vgl. ebd., S.39.

30 Vgl. ebd., S.96f.

31 Vgl. ebd., S.130.

32 Vgl. ebd., S.96f.

33 Vgl. ebd,. S.80.

Die geschlechtsspezifische Erziehung spielt immer eine Rolle. Wie Hoeder aufzeigt, wird mit weiblich sozialisierten Kindern häufiger über Traurigkeit gesprochen, während mit männlich sozialisierten eher Konflikte, Wut oder Rache thematisiert werden34. Dies spiegelt die Geschlechterstereotype und Erwartungen wider, die den Ausdruck von Emotionen beeinflussen. Wenn FLINTA* ihre wütenden Emotionen doch äußern werden sie durch Machterhaltungsstrategien und verschiedenen Mechanismen die damit einhergehen kontrolliert und reguliert35. Sie erfahren oft Kontrolle, wenn sie ihre Wut ausdrücken. Insbesondere weiblich gelesene und Schwarze Menschen werden, wenn sie laut werden, um ihre Bedürfnisse zu äußern, reguliert und kritisiert. Ihnen wird vorgeworfen, zu laut, zu aggressiv oder nicht sachlich genug und irrational zu sein36. Dies lenkt oft von den eigentlichen Anliegen ab und verhindert einen konstruktiven Dialog. Diese Machterhaltungsstrategie kennt man auch als Tone Policing37.

Hinter dieser Kontrolle verbirgt sich die Forderung nach Neutralität, die laut Hoeder eine patriarchalische, selbstverherrlichende, misogyne und rassistische Strategie ist. Sie dient dazu, diejenigen zum Schweigen zu bringen, die die Ungerechtigkeit im Alltag ansprechen und ändern möchten38.  Diese Machterhaltungsstrategie untergräbt die Möglichkeit, Veränderungen anzustoßen, indem sie diejenigen diskreditiert, die auf Ungerechtigkeiten aufmerksam machen.

34 Vgl. ebd., S.51.

35 Vgl. Dill, Natalia: Wut gegen Macht auf www.transformazine.de, https://transformazine.de/wut-gegen-macht, aufgerufen am 15.09.2023.

36 Vgl. Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse. München: hanserblau, 2021, S.55.

37 *tone (engl. für: Ton) *policing ( engl. für: polizeiliche Überwachung) Tone Policing (dt. „Ton-Kontrolle“) wird als eine unbewusste und bewusste Diskussionsstrategie oder Taktik beschrieben, bei der nicht auf den Inhalt des Gesagten eingegangen wird, sondern die Ausdrucksweise (Ton, Wortwahl, Mimik oder Körpersprache) in den Vordergrund rückt. Dabei wird vom eigentlichen Thema abgelenkt. Personen werden als vermeintlich aggressiv, übertrieben, zu laut oder zu emotional beschrieben. Besonders marginalisierte Menschen, wie beispielsweise BIPoC, FLINTA*, queere Menschen, Menschen mit Behinderung, Menschen mit Übergewicht und  finanziell benachteiligte Menschen sind von Tone Policing betroffen.  Dill, Natalia: Wut gegen Macht auf www.transformazine.de, https://transformazine.de/wut-gegen-macht, aufgerufen am 15.09.2023.

38 Vgl. Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse. München: hanserblau, 2021, S.54.

Gaslighting39 ist ein weiterer Mechanismus, der oft angewendet wird, um weiblich gelesene Personen davon zu überzeugen, dass ihre Wut ungerechtfertigt ist oder dass sie übertreiben. Dies führt dazu, dass sie in Situationen, in denen sie wütend werden, verwirrt sind und an ihren eigenen Gefühlen zweifeln.40

Die Wahrnehmung von Wut hängt stark von Machtverhältnissen ab. Wie Hoeder aufzeigt, geht es letztendlich um die Frage, wer das Recht hat, Wut auszudrücken. Menschen mit mehr Macht haben oft mehr Raum für Wut, während marginalisierte Gruppen eingeschränkt sind.41 Diese Wahrnehmung variiert nicht nur nach Geschlecht oder Sexualität, sondern auch nach äußeren Merkmalen wie Hautfarbe, Körpergröße und Proportionen42.

Es ist wichtig zu betonen, dass die Wut von mehrfach diskriminierten Personen noch einmal anders wahrgenommen wird als die Wut von weißen, weiblich gelesenen Personen. Dies verdeutlicht die Vielschichtigkeit des Themas und die Bedeutung einer intersektionalen Betrachtung von Wut43.

Wut hat verschiedene Dimensionen, die eine bedeutende Rolle spielen und je nach individuellen Umstände und Erfahrungen unterschiedlich ausgedrückt und wahrgenommen werden.44

39 *gas (engl. für: Gas) *lighting (engl. für: Beleuchtung)  Als Gaslighting wird eine Form von psychischer Gewalt bzw. Missbrauch bezeichnet. Betroffene werden dabei gezielt desorientiert, manipuliert und verunsichert. Die Realität und Wahrnehmung eines Menschen wird dabei verändert. Dies kann zu einer Deformierung bis hin zur Zerstörung der eigenen Realitätswahrnehmung und des Selbstbewusstseins führen. Dill, Natalia: Wut gegen Macht auf www.transformazine.de, https://transformazine.de/wut-gegen-macht, aufgerufen am 15.09.2023.

40 Vgl. Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse. München: hanserblau, 2021, S.107.

41 Vgl. Ebd., S.110.

42 Vgl. ebd., S.11.

43 Vgl. ebd., S.99.

44 Vgl. ebd., S.100.

Auswirkungen unterdrückter Wut 

Die Unterdrückung von Wut, insbesondere bei Kindern, hat tiefgreifende Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit sowie auf die persönliche Entwicklung. Kinder, die weiblich sozialisiert werden, lernen früh, dass sie nicht alle Emotionen ausleben dürfen und dadurch auch, dass ihre Bedürfnisse, Gedanken und Belange irrelevant sind. Sie werden ermutigt, freundlich, geduldig und lieb zu sein, anstatt ihre emotionalen und wütenden Seiten zu zeigen45. Diese Erwartungen führen dazu, dass Teile ihrer Persönlichkeit unterdrückt werden, was langfristige Auswirkungen auf ihre Identitätsentwicklung hat.

Hoeder stellt heraus, dass Wut aus biologischer, psychologischer und philosophischer Perspektive eine essenzielle Emotion ist. Wenn sie nicht ausgedrückt wird, kann sie zu schwerwiegenden psychischen und physischen Problemen führen46. Die Unterdrückung von Wut kann dazu führen, dass diese Emotionen gegen sich selbst gerichtet werden. Die internalisierte Wut, die durch die Unterdrückung entsteht, kann sich beispielsweise in Form von Selbstverletzungen, einem geringen Selbstwertgefühl, erhöhten Ängsten, Burn-out und Depressionen manifestieren47. Psychologen gehen davon aus, dass dauerhaft unterdrückte Wut schädlich ist und krank machen kann.48 Die Unterdrückung von Gefühlen kann das Immunsystem schwächen und Stress im Körper verursachen. Zu solchen Krankheiten könnten unter anderem erhöhter  Essstörungen49, Blutdruck, Diabetes, Herzkrankheiten, Nierenschäden, Magenprobleme und Suchterkrankungen50 gehören. Insgesamt verdeutlichen diese Erkenntnisse die enormen Folgen, die die Unterdrückung von Wut auf die Gesundheit und das Wohlbefinden haben kann.

Die Unterdrückung von Wut kann oft auch zur Folge haben, dass Traurigkeit und Tränen an die Stelle der Wut treten. Das liegt daran, dass wir oft von klein auf lernen, dass der Ausdruck von Wut nicht akzeptabel ist. Menschen haben möglicherweise nicht gelernt, wie sich Wut anfühlt, aufgrund der Unterdrückung, die sie erfahren haben. Dieser Wechsel von Wut zu Traurigkeit ist Teil eines größeren gesellschaftlichen Musters, das Hoeder als Sympathie für Trauer und die Abneigung gegenüber Wut beschreibt. Weiblich gelesenen Personen wird oft beigebracht, ihre Wut nicht zu mögen und stattdessen zu Tränen anstatt zu Aggressionen zu greifen. Dies ist jedoch keine natürliche Entwicklung, sondern das Ergebnis jahrelanger gesellschaftlicher Konditionierung.53 Insgesamt verdeutlicht dieser Zusammenhang die vielschichtigen Auswirkungen der Unterdrückung von Wut auf unsere emotionalen Reaktionen und den Ausdruck von Gefühlen.

45 Vgl. ebd., S.54.

46 Vgl. ebd., S.10.

47 Vgl. ebd., S.12.

48 Kienle, Dela und Witte, Sebastian: Heilsamer Zorn: Über die Wut und ihre positiven Wirkungen. Geo.de. Online  verfügbar unter https://www.geo.de/magazine/geo-kompakt/15270-rtkl-psychologie-heilsamer-zorn-ueber-die-wut-und-ihre-positiven, zuletzt geprüft am 26.05.2023, 2016

49  Ebd.

50 Vgl. Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse. München: hanserblau, 2021, S.80.

51 Vgl. ebd., S.28.

52 Vgl. ebd., S.138.

53 Vgl. ebd., S.41.

Die Unterdrückung von Wut kann zur Erschöpfung führen, die als Wutmüdigkeit von Hoeder bezeichnet wird.54 So, wie es auch Luka und Malou beschreiben. Dieser Zustand tritt auf, wenn Menschen sich immer wieder wütend fühlen, kämpfen, aber keine Veränderungen sehen. Die erlebte Machtlosigkeit kann zu einer emotionalen Überforderung führen, die schließlich zur Resignation führt. Es ist wichtig zu beachten, dass Wutmüdigkeit keine offizielle Diagnose ist, aber ihre Auswirkungen real sind, wie Hoeder verdeutlicht. Sie tritt auf, wenn es viele Dinge gibt, über die man wütend ist und es unmöglich ist, bei allem gleichzeitig extrem wütend zu sein.55

Die Unterdrückung von Wut hat weitreichende Konsequenzen. Weiblich sozialisierte Personen empfinden genauso viel Wut wie männlich sozialisierte, unterdrücken sie jedoch häufiger, da dies von der Gesellschaft erwartet wird. Dieser unterdrückte Gefühlsausdruck erfordert eine beträchtliche Menge an Energie und Aufmerksamkeit und führt dazu, dass oft darüber hinwegsehen wird, wenn andere die eigenen Grenzen überschreiten. Die Unterdrückung von Gefühlen ist jedoch nicht nur energieraubend, sondern führt auch dazu, dass wir uns selbst und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten ignorieren56, das wiederum spielt dem patriarchalen System in die Karten. Wie Hoeder schreibt, ist eine weiblich gelesene Person, die keine Wut empfindet, für die bestehende, ungerechte Realität keine Bedrohung und kann somit nichts daran ändern.57

54 Vgl. ebd., S.173.

55 Vgl. ebd,. S.173-183.

56 Vgl. ebd., S.84.

57 Vgl. ebd., S.11.

Die transformative Kraft der Wut

Wenn wir uns mit Wut auseinandersetzen, können wir unsere Perspektive darauf verändern und diese als Quelle von Empowerment nutzen58, wie es Lorde beschreibt. Denn die Emotion Wut ist eine wichtige und oft unterschätzte Form des Selbstschutzes. Sie signalisiert, dass ein massives Problem oder eine tief verwurzelte Gewaltstruktur vorhanden ist.59

58 Lorde, Audre: Sister Outsieder. „Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen“. München: Carl Hanser Verlag,  2021, S.21.

59 Vgl. Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse. München: hanserblau, 2021, S.68.

Die Befreiung der Wut

Luka (keine Pronomen): 

Das Auseinandersetzen mit Wut hat mich zum ersten Mal dazu gebracht zu beobachten, in welchen Situationen ich tendenziell wütend werde und wie mein Körper in diesen Fällen reagiert. Dass ich vor allem bei gesellschaftspolitischen Fragen wütend werde und da auch kein Problem habe, Wut als valide Emotion anzuerkennen, im Gegensatz dazu, wenn mir persönlich etwas widerfährt, was mich wütend macht, ist mir erst so wirklich bewusst geworden, durch das aktive Beschäftigen mit Wut. 

Ein Aspekt, der mir komplett neu war, war die Tatsache, dass Wut als Kompass dienen kann, um uns zu signalisieren, dass etwas nicht stimmt, dass wir etwas ungerecht finden oder dass eine persönliche Grenze überschritten wird. Dass Wut einen Nutzen hat und nicht nur eine random Emotion ist, hilft mir, besser identifizieren zu können, was genau mich gerade wütend macht und was eventuell der Auslöser dafür war. Allein also, dass ich mir jetzt viel bewusster mit der Emotion Wut umgehen kann, ist auf jeden Fall eine Veränderung in meiner Einstellung zum Thema. 

Ein weiterer Aspekt, der mir vor allem jedes Mal nochmal klar wird, wenn ich mich mit anderen Menschen austausche, ist, dass Wut keine Emotion sein muss, mit der wir alle allein klarkommen müssen, sondern dass wir uns über Wut austauschen können. Dass Wut eine Emotion ist, die uns nicht spalten, sondern auch verbinden kann, die dazu beitragen kann, dass wir uns gegenseitig und uns selbst besser verstehen und vielleicht sogar gemeinsam gegen Ungerechtigkeiten vorgehen können, ist für mich auf jeden Fall eine neue Erfahrung. Zu sehen und zu hören, dass Personen ganz unterschiedliche Zugänge zu dem Thema haben, aber alle irgendwie etwas zu dem Thema Wut zu sagen haben, ist für mich jedes Mal wieder inspirierend.

Wut dient als Warnung vor Ungerechtigkeiten und treibt uns an, aktiv zu werden.60 Das war auch eine wichtige Erkenntnis für Luka. Diese hat dazu beigetragen, dass Luka besser identifizieren kann, was Luka wütend macht und warum. Audre Lorde verdeutlicht, dass Wut ein starker Treibstoff ist und dass sie dazu verwendet werden kann, Veränderungen herbeizuführen.61 Die gezielte Nutzung von Wut ist eine entscheidende Aufgabe in ihrem Leben geworden.62

Wut hilft uns, zu identifizieren, warum wir wütend sind, und lenkt unsere Energie in Bereiche, in denen sie gebraucht wird.63 Wut ermöglicht es auch, unsere tiefsten Überzeugungen und Grundwerte zu erkennen und wird zum Impulsgeber für Neuerungen. Sie bringt Menschen dazu, sich zu vereinen und gemeinsam etwas zu bewirken.64 Auch Luka macht die Erkenntnis, dass Wut einen Nutzen hat und nicht nur eine Emotion, die zufällig aufkommt. Außerdem kann sie Menschen, anstatt sie zu trennen, verbinden, um gemeinsam gegen Ungerechtigkeiten anzukämpfen. Diese Erfahrung empfindet auch Luka als positiv.

Ijeoma Oluo hebt hervor, dass diejenigen, die die patriarchale Struktur aufrechterhalten, Angst vor dem Zorn derer haben sollten, die sich dagegen auflehnen. Sie betont, wie mächtig die Wut sein kann, um Veränderungen und Diskussionen über Autonomie und Rechte anzustoßen.65

Wut ist eine Grundemotion und der Instinkt, Grenzen zu setzen und für sich selbst einzustehen. Sie kann dazu beitragen, sich mental abzugrenzen oder sogar völlig neue Strukturen zu schaffen66. Doch letztendlich hängt die Effektivität der Wut davon ab, ob das zugrunde liegende Problem bleibt oder verschwindet.67

60 Vgl. Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse. München: hanserblau, 2021, S.13.

61 Lorde, Audre: Sister Outsieder. „Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen“. München: Carl Hanser Verlag, 2021, S.172.

62 Vgl. ebd., S.162.

63 Vgl. Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse. München: hanserblau, 2021, S.82f.

64 Kienle, Dela und Witte, Sebastian: Heilsamer Zorn: Über die Wut und ihre positiven Wirkungen. Geo.de. Online verfügbar unter https://www.geo.de/magazine/geo-kompakt/15270-rtkl-psychologie-heilsamer-zorn-ueber-die-wut-und-ihre-positiven, zuletzt geprüft am 26.05.2023, 2016.

65 Vgl. Oluo, Ijeoma: We women can be anything. But can we be angry? medium.com. Online verfügbar unter https://medium.com/@IjeomaOluo/we-women-can-be-anything-but-can-we-be-angry-48f837625ff1, zuletzt geprüft am 26.05.2023, 2018.

66 Vgl. Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse. München: hanserblau, 2021, S.168.

67 Vgl. ebd,. S.105.

Wut als Antriebskraft für soziale Veränderung

Malou (sie/ihr): Als ich mich zum ersten Mal wirklich mit Wut als Emotion beschäftigte und so von ihren kraftvollen Potenzialen erfuhr, fand ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit im Wut-Raum wieder. Diesmal wurde ich nicht hinein gespült. Diesmal rannte ich hinein und knallte die Tür hinter mir zu. Langsam erkannte ich, dass ich die Wände abbauen und den Raum öffnen musste, um das Potenzial der Wut nutzen zu können. Ich fing an, die Kraft des Gefühls zu spüren, dem ich mir nun sehr bewusst und mit einem gewissen Interesse aussetzte. Ich versuchte wahrzunehmen: Wie fühlt sich meine Wut an? Wo in meinem Körper spüre ich sie? Was möchte ich mit ihr anstellen? 

Wut ist ein Gefühl geworden, aus dem ich Kraft ziehe, dem ich Ausdruck verleihen und mit dem ich Dinge in Bewegung setzen möchte. Auch wenn ich von meinen mentalen Kapazitäten bislang noch davon zurückgehalten werde. Mittlerweile kann ich erkennen, dass Wut eine Reaktion auf ein Ungerechtigkeitsgefühl sein kann und dass, wenn man das Gefühl nutzt, um es gegen diese Ungerechtigkeit zu richten, ein kraftvoller Umgang mit schwierigen Situationen entstehen kann. Meine Wut richtet sich momentan v.a. auf Machtstrukturen und Hierarchien, aber auch auf Zwischenmenschliches. Ich kann sie jetzt offen mit Wut-Geschwistern – Menschen, mit denen ich gemeinsam wütend sein kann – teilen, weil ich weiß, dass sie dort den Raum bekommt, den sie braucht. Doch auch, wenn ich einen Zugang zu meiner Wut finden konnte, muss ich noch viel über mich und meine Emotionsregulierung lernen, bis ich Wut wirklich nutzen kann, um für mich oder andere einzustehen, meine Grenzen und Bedürfnisse zu kommunizieren sowie diese auch einzufordern.

Wut kann ein kraftvoller Antrieb für soziale Veränderungen sein. Sie muss nicht zwangsläufig zerstörerisch sein, sondern kann etwas Neues und Positives hervorbringen.68 Auch als Malou sich mit der Wut auseinandersetzte, wurde ihr das Potenzial dieser Emotion bewusst. Dies war ein entscheidender Schritt, um ihre Wut besser zu verstehen und eine Verbindung zu ihr herzustellen. Audre Lorde betont, dass jede Frau ein reiches Arsenal an Wut hat, das gegen individuelle und strukturelle Unterdrückung eingesetzt werden kann. Diese zielgerichtete Wut kann Energie freisetzen, die dem Fortschritt und der Veränderung dient.69 So richtet auch Malou  ihre Wut auf verschiedene Ebenen, darunter Machtstrukturen, Hierarchien und zwischenmenschliche Beziehungen. Sie hat gelernt, ihre Wut offen mit anderen zu teilen, insbesondere mit Menschen, die ähnliche Gefühle haben. 

Es ist auch wichtig zu lernen, seine Wut nicht nur mit Gleichgesinnten zu teilen, sondern die Wut gegeben über den Auslöser*innen zu äußern, denn interessanterweise deeskaliert Wut oft Situationen, obwohl sie auf den ersten Blick konfrontativ erscheint. Die klare Äußerung von Wut signalisiert anderen, dass sie zu weit gegangen sind, und kann dazu führen, dass Menschen eingeschüchtert oder besänftigt werden, was letztendlich zur Deeskalation beiträgt.70

Sie befähigt Menschen, sich gegen das zu stellen, was sie empört, anstatt sich damit abzufinden. Sie kann als ein Akt der Verweigerung gegenüber einer pathologischen Gesellschaftsordnung angesehen werden und ermutigt zur aktiven Teilhabe.71

Hoeder schreibt: “Wir müssen unsere kollektive Wut kanalisieren- zum Beispiel durch zivilgesellschaftliches Engagement wie die 68er-Bewegung, Black Lives Matter, welches mehrheitlich durch Schwarze Frauen initiiert wurde, oder durch den initialen Gedanken des Christopher Street Day.“72

Wenn Wut formuliert und in konstruktives Handeln umgesetzt wird, kann sie befreiend, stärkend und klärend wirken. Sie ermöglicht es uns, unsere Verbündeten zu erkennen und gegen unsere Feind*innen vorzugehen, so Lorde.73 Insgesamt kann Wut also als Antriebskraft für soziale Veränderungen dienen und als Instrument zur Gestaltung einer gerechteren Welt.

68 Vgl. ebd., S.157.

69 Vgl. Lorde, Audre: Sister Outsieder. „Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen“. München: Carl Hanser Verlag, 2021, S.17.

70 Klemp, Pia: Wutschrift. Wände einreisen, anstatt sie hochzugehen. München: Penguin Verlag, 2022, S.42.

71 Vgl. ebd., S. 35f.

72 Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse. München: hanserblau, 2021, S.116.

73 Vgl. Lorde, Audre: Sister Outsieder. „Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen“. München: Carl Hanser Verlag, 2021, S.18.

Fazit 

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Wut bei marginalisierten Personen nicht nur eine emotionale Reaktion auf individuelle Erlebnisse darstellt, sondern oft eine tief verwurzelte Antwort auf die sozialen Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen ist, denen sie systematisch ausgesetzt sind. Diese Wut ist ein Ausdruck der Frustration, die aus generationsübergreifender Unterdrückung resultiert. Sie kann auf unterschiedliche Weisen zum Ausdruck gebracht werden, sei es durch laute öffentliche Proteste oder auch individuelle Strategien zur Bewältigung von Diskriminierung im Alltag.

Wut ist nicht nur ein individuelles Gefühl, sondern hat das Potenzial, als treibende Kraft für tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen zu fungieren. Die Unterdrückung von Wut, insbesondere bei weiblich gelesenen Personen und People of Color, aber auch bei allen anderen, hat weitreichende Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit. Sie kann zu Depressionen, hohem Blutdruck, Herzrhythmusstörungen und anderen gesundheitlichen Problemen führen. Das verdeutlicht es nochmals, wie wichtig es ist, Wut aus intersektionaler Perspektive zu betrachten, um die Vielschichtigkeit von Wut und deren Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden einzelner, aber auch auf die Gesellschaft zu beleuchten.

Die intensive Auseinandersetzung mit der Wut marginalisierter Gruppen kann nicht nur individuelle Veränderungen auf persönlicher Ebene bewirken, sondern auch tiefgreifende gesellschaftliche Transformationen in Gang setzen. Die Komplexität der Rolle von Wut in der Gesellschaft fordert uns auf, die Mechanismen der Unterdrückung und Diskriminierung zu hinterfragen. Es ist von höchster Bedeutung, Wege zu finden, wie die Energie dieser Emotion genutzt werden kann, um positive Veränderungen in der Gesellschaft zu bewirken. Wut marginalisierter Gruppen sollte nicht als Bedrohung betrachtet werden, sondern vielmehr als ein potenzieller Katalysator für den sozialen Wandel verstanden werden.


Literaturverzeichnis

Hoeder, Ciani-Sophia: Wut und Böse. München: hanserblau, 2021

Hoeder, Ciani-Sophia: Wir baruchen mehr Wut-Empathie. www.was-verdient-die-frau.de. Online verfügbar unter https://www.was-verdient-die-frau.de/++co++a3143c1a-00fd-11ed-b5d0-001a4a160123, zuletzt geprüft am 15.09.2023, 2022

Kienle, Dela und Witte, Sebastian: Heilsamer Zorn: Über die Wut und ihre positiven Wirkungen. Geo.de. Online verfügbar unter https://www.geo.de/magazine/geo-kompakt/15270-rtkl-psychologie-heilsamer-zorn-ueber-die-wut-und-ihre-positiven, zuletzt geprüft am 26.05.2023, 2016

Klemp, Pia: Wutschrift. Wände einreisen, anstatt sie hochzugehen. München: Penguin Verlag, 2022

Kurt, Şeyda: Hass. Von der Macht eines widerständiges Gefühls. Hamburg: HarperCollins, 2023

Lorde, Audre: Sister Outsieder. „Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen“. München: Carl Hanser Verlag, 2021

Dill, Natalia: Wut gegen Macht auf www.transformazine.de, https://transformazine.de/wut-gegen-macht, aufgerufen am 15.09.2023

Oluo, Ijeoma: We women can be anything. But can we be angry? medium.com. Online verfügbar unter https://medium.com/@IjeomaOluo/we-women-can-be-anything-but-can-we-be-angry-48f837625ff1, zuletzt geprüft am 26.05.2023, 2018

Specktrum der Wissenschaft: Lexion der Psychologie. Wut. spektrum.de. Online verfügbar unter https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/wut/17022, zuletzt geprüft am 26.05.2023, o.J.

Hausarbeit von Natalia Dill
in Praxis der Zukunftsanalyse
bewertet von Paul Feigelfeld

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