Weltübersetzer*in werden

– Wege zu einer situierten Wissens(co)produktion.

von Carla Winkelmann.

Wissen ist niemals universal – auch wenn das oft der ultimative Anspruch der Wissenschaft zu sein scheint. Wissen entsteht nicht aus dem Nichts, sondern muss in sorgfältiger Arbeit (es könnte auch als ‚Übersetzung‘ bezeichnet werden) generiert werden. Dazu braucht es ein Subjekt, welches diese Übersetzungsarbeit leistet. Ein kurzes Beispiel an dieser Stelle: Klimawissen entsteht, indem tagelang, wochenlang, jahrelang Umweltphänomene (z.B. meteorologische) beobachtet und dokumentiert werden, bis eventuell Muster, Regelmäßigkeiten oder auch Ausschläge davon abgelesen werden. Diese werden dann wiederum für Vorhersagen und Simulationen genutzt. Klimawissen wird also in einem langwierigen Prozess des Aufeinander-Beziehens erst generiert, es existiert nicht ‚einfach‘. So ist das im Grunde mit jeder möglichen Form von Wissen: Es bedarf des Subjektes, das sich mit Gegebenheiten auseinandersetzt, sie kennenlernt und am Ende in einer Art und Weise übersetzt. Seit mir dieser Prozess der Wissensproduktion klarer ist, erscheint es mir absurd, dass manches Wissen immer noch in so vielen Kontexten als „die reine“, „die einzige“ Wahrheit angesehen wird, während anderes Wissen per se als falsch oder irrelevant gilt. Wissen ist immer verbunden mit subjektiver Erfahrung – und es ist in die Kontexte eingebettet, in welchen es erzeugt wurde. Das bedeutet nicht, dass alles Wissen gleichgestellt und nicht beurteilt werden sollte. Mir fehlt jedoch in meinem Umfeld oft ein reflexiver, kritischer Umgang mit der Thematik, denn Wissen beeinflusst immer auch sozio-kulturelle Umgangsformen und damit Lebensrealitäten.

In diesem Essay soll es um neue Wissensformen und Wissens(co)produktion gehen. Folgende Frage soll dabei im Fokus stehen: 

Wie können wir reflektierte Weltübersetzer*innen werden? Und wie können wir anfangen, unsere Lehr- und Lernräume entsprechend (um)zugestalten? 

Um die Frage kontextuell einzubetten, soll vorerst erläutert werden, wie Wissen in lokale und gesellschaftliche Strukturen eingebettet ist und was das für Auswirkungen sowohl auf uns, als auch auf das Wissen selbst hat. Folgend möchte ich einen neuen Blick auf das Feld der situierten Wissensproduktion werfen – dabei stütze ich mich vor allem auf die Arbeiten von Donna Haraway und Ramia Mazé, die in diesem Feld bereits wunderbare Arbeit geleistet haben. Zu guter Letzt stelle ich einige reflexive, resonanzfähige und kollektive Praktiken vor, die jede*r Einzelne in ihren*seinen Lern- und Lehr-Alltag integrieren kann.

Ich schreibe bewusst in der ersten Person, um meine Positionierung und eigene Erfahrung deutlich zu machen. Schreibe ich von einem pluralen „wir“, so möchte ich respektvoll Referenz auf all die Menschen nehmen, die das jeweilige Wissen koproduziert haben (sofern nicht anders gekennzeichnet). 

Hierbei sei noch anzumerken, dass dieser Essay erste, persönliche Reflexionen zum Thema der Wissens(co)produktion beinhaltet. Für eine weitere Auseinandersetzung damit wünsche ich mir, dass die hier entstandenen Gedanken und Ideen auch zukünftig in einen kollektiven Austausch gestellt, kritisch diskutiert und fortlaufend erweitert werden.

„Jedes Wissen ist ein verdichteter Knoten in einem agonistischen Machtfeld.“

Donna Haraway 1995: 75

Wissenskulturen, so Donna Haraway (US-amerikanische Feministin, Professorin, Forscherin und Autorin) sind nicht nur subjektiv, sondern zudem stets mit Macht und Vorherrschaft verbunden. Sie stehen weder rein für sich selbst, noch sind sie Luftkonstrukte, die in den individuellen Gedanken entstehen und verbleiben. Die Wissenschaft und Objektivitätslehre, die in vielen postmodernen Gesellschaften betrieben wird, beeinflusst nicht nur, wie sich Diskurse und Disziplinen heute entwickeln, sondern vor allem auch, welchen historischen Blick wir auf Dinge haben (sollen). Die klassische Designdisziplin beispielsweise beruht auf einer überwiegend weißen, patriarchalen Geschichtstradition, welche meines Erachtens noch viel mehr in der Diskussion stehen sollte. 

Auch Geschichte ist demnach konstruiert und greift meist nur einzelne Narrative auf, während andere vergessen, unsichtbar gemacht oder sogar geleugnet werden. Oder, um es noch einmal in Haraways’ Worten auszudrücken: „Geschichte ist eine Erzählung, die sich die Fans westlicher Kultur gegenseitig erzählen“ (Haraway 1995: 75). Wäre die gesellschaftliche Vorherrschaft eine andere, würden womöglich Geschichtsbücher auf der ganzen Welt ganz anders aussehen und andere Perspektiven einnehmen.

Es könnte also gesagt werden, dass bereits unser Blick auf die Welt durch vorherrschendes Wissen geformt ist und daher immer nur partiell sein kann. Haraway plädiert hier für eine heterogene Vielheit von Narrativen, sowie für eine radikale Anerkennung der eigenen partiellen und unvollständigen Perspektive (ebd.: 79f.).

Gerade in hoch technologisierten Gesellschaften, so die Autorin, werde Wissen(schaft) oft auf sprachliche und visuelle Instrumente reduziert (ebd.: 80f.). Das führe zu einer zunehmenden Entkörperung, zu einer Wahrnehmung von Welt, welche kaum andere Erfahrungs- und Übersetzungsmöglichkeiten zulässt. Sprache und visuelle Mittel sollten hier nicht die einzigen Maßstäbe sein, wenn wir Anerkennung von Wissen kollektiv und fair denken wollen. Die Anerkennung von Vielsprachigkeit, verschiedenen Formen des Wissens und verwobenen Darstellungen anstelle von „Meistertheorien“ (ebd.: 88) eint sich in dem Vorschlag des situierten Wissens. Mit dem Begriff „situiert“ meint Donna Haraway eine Wissensproduktion, welche lokal, verkörpert und partial ist. Das wiederum bedeutet, dass das produzierte Wissen immer nur ein Teil der beobachteten Phänomene oder Geschehnisse darstellen kann. Und dass wir, als ‚übersetzende‘ Subjekte, immer standortgebunden sind und unterschiedliche soziale Prägungen und Körpererfahrungen in uns tragen (und uns dieser auch bewusst sein sollten).

Während Objektivität im klassischen Sinne immer den Anspruch auf ein universelles Wissen erhebt, schlägt Haraway in dem Kontext das Konzept der „feministischen Objektivität“ (ebd.: 80) vor:

„Die Moral ist einfach: Nur eine partiale Perspektive verspricht einen objektiven Blick. […] Feministische Objektivität handelt von begrenzter Verortung und situiertem Wissen und nicht von Transzendenz und der Spaltung in Subjekt und Objekt.“ 

(Haraway 1995: 82)

Die feministische Verantwortlichkeit, die sich daraus ergibt, erfordert Arten von Wissen, die auf Resonanz aufbauen und die auf neuen Arten von Weltbeziehung fußen.1 Um diese Gedanken und theoretischen Überlegungen in die eigene Praxis zu integrieren, bedarf es demnach erst einer Dekonstruktion der Vorstellung, was Wissen überhaupt ist. Im ersten Teil des Essay habe ich bereits versucht, das tradierte Verständnis über Wissen etwas aufzubrechen und kritisch zu hinterfragen. Dies verstehe ich als einen Startpunkt für eine weitere De- und Rekonstruktion der eigenen Verständnisse und Ansichten. Im zweiten Teil möchte ich einige konkrete Ansätze und Praktiken zur Hand geben, wie eigene Lehr- und Lernräume reflexiv und situiert gestaltet werden können.

„Critical historiography and design studies […] help us to understand underlying worldviews, ontologies, and ideologies.“

Ramia Mazé 2021: 277.

1 Ein spannender Einblick in die Themenfelder von Resonanz und Weltbeziehungsbildung findet sich in der soziologischen Niederschrift von Hartmut Rosa 2019: „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ (für vollständige Angabe siehe Literaturverzeichnis).

Eine kritische Perspektive auf bereits bestehendes Wissen einzunehmen kann nicht nur große Auswirkungen auf unsere Ansichten und die eigene Haltung

haben, sondern auch darauf, wie wir zukünftig selbst mit Wissen umgehen und dieses (re)produzieren. Eine kritische Historiographie, wie Ramia Mazé sie fordert, möchte bestehende Narrative und Paradigmen gezielt hinterfragen. Ich greife das Beispiel aus den ersten Seiten des Essays auf: Designdisziplinen kritisch zu erforschen, macht sichtbar, welche kolonialen, patriarchalen und europäisch geprägten Narrative diesen Traditionen zum Teil zugrunde liegen und welche Geschichten (nicht) erzählt werden. Erst durch ein genaues Hinsehen und einen kritischen Blick kann diese vermeintliche Universalität entlarvt und durch Partialität ersetzt werden. Um eigene verinnerlichte Prozesse und Umgangsweisen mit Wissen bewusst zu ‚verlernen’ und damit diskriminierende Wissenskulturen zu destabilisieren, schlägt Ramia Mazé ein aktives „questioning, naming, and framing“ (2021: 259) vor. Das heißt: Eingeschriebene Muster kritisch hinterfragen, Probleme explizit erkennen und benennen und anschließend kontextuell einordnen. Erst dann kann Raum für neue Wege des Denkens und Handelns entstehen.Design-Anthropologin Dori Tunstall beschäftigt sich an der OCAD Universität in Kanada mit diesen Schnittstellen von design und culture und manifestiert ihre Theorien in der Praxis, indem sie die Lehrinhalte und das Curriculum an der Universität neu diskutiert und radikal divers gestaltet. Ihre Herangehensweisen fasst sie selbst unter dem Begriff „respectful design“ (Tunstall 2021) zusammen – denn nichts anderes ist gemeint: Ein achtsamer Umgang mit Wissen. Ein respektvolles Miteinbeziehen diverser Stimmen.

„But there is also at least some power in our everyday micropractices, in collaborating, coproducing knowledge, in building collectivity, in becoming toward others and preferred futures.“

Ramia Mazé 2021: 277.

Nach einer kritischen Historiographie möchte ich mich der kritischen Wissensproduktion zuwenden. Oder vielleicht lieber: der Wissenscoproduktion. Ramia Mazé schreibt in ihrem Essay „Design education futures“ über Mikropraktiken oder sogenannte subtle/soft variables wie Ethos, kulturelle Werte oder Curricula, auf die wir direkten Einfluss haben, da sie in unserer Wirkmacht stehen. 

Beispielsweise kann darauf geachtet werden, Wissen nicht im Alleingang, sondern kollektiv zu produzieren. Gemeinsam an Übersetzungen von Welt zu arbeiten und dabei stets einen kritischen Blick zu behalten. Auch sich zu positionieren schafft eine gewisse Verantwortlichkeit. Beim Verfassen von Texten kann darauf geachtet werden, welche Stimmen mensch zitiert – also welchen Narrativen Raum gegeben wird. Das verlangt meist eine vorangestellte Analyse, um überhaupt einschätzen zu können, welche Stimmen es gibt und welche  Stimmen aus welchen Gründen vorherrschend sind. 

(Mazé 2021: 277)

Dieser Prozess, Unsichtbares sichtbar zu machen, kann geleitet werden durch die Fragen: Wie und wann wurde etwas (co)produziert? Wessen Wissen nutze ich/wurde genutzt? Für wen ist dieses Wissen?

Zudem kann bewusst gewählt werden, welchen Schreibstil mensch in den eigenen Texten wählt – und aus welcher Autor*innenperspektive mensch schreibt. Auch hier erachte ich, neben einer Vermeidung von binären Oppositionen, die eigene Positionierung von hoher Relevanz. Gilt es in vielen Kontexten immer noch als ‚unwissenschaftlich‘, in der ersten Person zu schreiben und persönliche Erfahrungen zu teilen, zeugt so ein Schreibstil meiner Meinung nach von Verantwortlichkeit und dem Versuch, den Anspruch an universelle Rationalität zu umgehen. 

Bei all diesen Mikropraktiken und Herangehensweisen gibt es natürlich kein ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ – das wäre zu einfach und würde die binäre Logik wieder aufgreifen und reproduzieren. Vielmehr gilt es zu verstehen, dass auch Lehrräume immer Lernräume bleiben, die durch wiederkehrende Feedbackloops und kritische Selbstreflexion in steter Veränderung bleiben. Ich würde mir wünschen, dass situierte und respektvolle Lehr- und Lernräume eine neue Art von Bildung implizieren und anstreben:

„[…] eine neue Bildung, die ernst nimmt, dass sie selbst umkämpft ist, dass sie innerhalb von Machtverhältnissen stattfindet und Position beziehen muss, die zugleich davon ausgeht, dass alle Wissen haben und ständig in und mit Kultur und Bildung leben und handeln […]“ 

Nora Sternfeld 2019: 23.

Um nun wieder zu meiner Leitfrage zurückzukehren: Ich plädiere für verwobene Darstellungen und eine Vielfalt lokalen Wissens. Die Wichtigkeit von Kommunikation zwischen Gemeinschaften und Kontexten ist mir im Angesicht aktueller Diskriminierungen, Rassismen und sozialem Ausschluss stärker bewusst denn je. Es existieren bereits Netzwerke, Kollektive und Verbindungen, die als Wissensübersetzer*innen fungieren, doch das ist nicht genug. Anstatt zu warten, bis sich Netzwerke formen und etablieren, können wir im Hier und Jetzt damit beginnen, Weltübersetzer*innen zu werden (und sei es ‚nur‘ durch unsere eigene alltägliche Praxis des Begegnens, Denkens und Handelns). Ein kurzes Innehalten, Stehenbleiben und Durchatmen kann die Möglichkeit bieten, die Vergangenheit zu reflektieren und sich der eigenen Wirkmacht in der Gegenwart bewusst zu werden. Dasselbe kann durch Interaktionen und Dialogen mit Mitmenschen, Umwelt und dem eigenen verkörperten Wissen entstehen. Durch das Anerkennen, dass Wissen diverse Formen annehmen kann und dass es nicht universal ist, sind die ersten Schritte bereits gegangen. 

Wie der Künstler und Designer Paul Elliman so schön festhält: Vielleicht ist es eine der Schlüsselaufgaben im Leben, unsere eigenen Wege zu finden, wie wir mit der Welt interagieren (vgl. Elliman 2011: 157). Ist der größte Lehrraum nicht das eigene Treiben zwischen den Zeilen, zwischen Menschen und Geschehnissen, das uns diese Wege der Resonanz eröffnet?

Der Essay „Weltübersetzer*in werden - Wege zu einer situierten Wissens(co)produktion.“ ist im Kontext des Seminars Designtheorie geschrieben worden..

LITERATUR


Elliman, Paul (2011): A school is a building with a school in it: Evening Class, [online]https://evening-class.org/posts/a-school-is-a-building-with-a-school-in-it [abgerufen am 27.02.2022].

Dr. Elizabeth Tunstall (2021): Respectful Design: 6 Steps for Diversity, Equity & Decolonizing Design: YouTube, [online] https://www.youtube.com/watch?v=7duwNkAvAu0 [abgerufen am 27.02.2022].

Hammer, Carmen/Immanuel Stieß/Donna Haraway (1995): Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen, 1. Aufl., Frankfurt, New York: Campus Verlag.

Rosa, Hartmut (2019): Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, 5. Aufl., Berlin: Suhrkamp Verlag.

Sternfeld, Nora (2019): Wessen Kultur und wessen Bildung?, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Bd. 13, Nr. 2, S. 21–26.

Mazé, Ramia (2021): Design Education Futures. Reflections on Feminist Modes and Politics, in: Claudia Mareis/ Nina Paim (Hrsg.), Design Struggles: Intersecting Histories, Pedagogies, and Perspectives, Amsterdam: Valiz, S. 259-278.

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