„Im Lehr- und Lernakt gibt es zwei Willen und zwei Intelligenzen. Man wird ihr Zusammenfallen Verdummung nennen. In der experimentellen Situation, die von Jacotot geschaffen wurde, war der Schüler an einen Willen gebunden, an jenen von Jacotot, und an eine Intelligenz, jene des Buches, beide gänzlich voneinander getrennt. Man wird die anerkannte und aufrechterhaltenen Differenz dieser zwei Verhältnisse, den Akt einer Intelligenz, die nur sich selbst gehorcht, selbst wenn der Wille einem anderen Willen gehorcht, Emanzipation nennen.“
(Rancière et al. 2018: 23)
Inwiefern können die „Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation“ (Rancière et al. 2018) eine zeitgemäße (Transformations-)Designbildung informieren?
Nachdem im ersten Schritt wichtige Aspekte des genannten Textes erläutert und mit anderen Quellen in Bezug gebracht werden, soll im zweiten Schritt überlegt werden, was aus diesem gelernt werden kann – für das (Transformation) Design, die Gestaltung von Curricula und für die Vermittlung innerhalb von Transformations- und Designprozessen. Dazu möchte ich genauer darauf schauen, was die Intention von Curricula sein könnten und was dies für ihre Gestaltung bedeutet. Es soll geprüft werden, ob es nicht wie Rancière vorschlägt die Rolle der Bildung sein sollte, zu emanzipieren. Dabei wird beim „Unwissenden Lehrmeister“ vor allem dem Willen und der Intelligenz eine besondere Rolle zugesprochen. Besonders spannend ist dessen Zusammenhang zwischen Lehrenden und Lernenden. Hier möchte ich die Frage aufwerfen, ob nicht das Emanzipieren der Intelligenz die autodidaktische Schlüsselfähigkeit von Designer*innen ist?
Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation
Der Text „Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation“ des französischen Philosophen Jacques Rancière widmet sich einem Pädagogen des frühen 19. Jahrhunderts.
Die Erzählung handelt von Joseph Jacotot, der eine radikale Neukonzeption des pädagogischen Verhältnisses auf der Basis der Gleichheit vorgenommen hat. Es wird von seinem Unterricht berichtet, in dem das autoritäre Verhältnis oder auch das „Verhältnis der Verdummung“ von wissenden Lehrenden einerseits und unwissenden Lernenden andererseits grundlegend in Frage gestellt wird. Dabei sind die Gedanken und Experimente scheinbar aus der Not geboren, da Jacotot niederländische Studierende Französisch lehren soll. Die Schwierigkeit hierbei liegt darin, dass er selbst kein Niederländisch spricht und somit die vermittelnde gleiche Sprache fehlt. Aus dieser Erfahrung ergibt sich die Notwendigkeit einer Behauptung des Jacotots: Dass ein Unwissender einem anderen Unwissenden das beibringen kann, was er selbst nicht weiß. Die Erfahrung, dass seine Studierenden auch ohne Erklärung erfolgreich Lernen konnten, war entscheidend für die Wiederentdeckung der „Methode des universellen Unterrichts”. Diese Methode ging vor dem Hintergrund der Forderungen der Französischen Revolution davon aus, dass alle Menschen die gleiche Intelligenz besitzen. Er wendet sich dabei grundlegend vom klassischen Unterrichtsansatz ab, bei dem in kleinen Schritten vom Kleinsten zum Größeren unterrichtet wird (etwa im Sprachunterricht von Wörtern und Sätzen, von einfachen grammatikalischen Formen zu komplizierteren Konstruktionen). Mit dem Universalunterricht wird viel mehr die Prämisse verfolgt, dass sich, um Dinge verstehen und lernen zu können, das notwendig Wissen selber angeeignet werden kann. Es wird mit Texten und nicht mit der Grammatik begonnen, mit Zusammenhängen und nicht mit Details. So sind es die Lernenden selbst, die die einzelnen Schritte, die ihr Verständnis ermöglichen, wählen und nachvollziehen (vgl. Rancière et al. 2018 & Sternfeld 2008: 25).
„Der Mensch […] kann einen Lehrmeister benötigen, wenn sein Wille nicht stark genug ist, um ihn auf seinen Weg zu bringen und dort zu halten. Aber diese Unterwerfung besteht rein zwischen Willen und Wille. Sie wird verdummend, wenn sie eine Intelligenz an eine andere Intelligenz bindet.“
(Rancière et al. 2018: 23)
Somit fiel Jacotot nicht mehr die Rolle der vermittelnden Person zu, die den Lernprozess durch ihre eigene Intelligenz begrenzt und die versucht den Lernenden etwas beizubringen oder zu erklären. Es war jedoch nicht so, dass ihm gar keine Rolle mehr zufiel, sondern eine andere. Er musste den Willen des Lernenden aktivieren, denn die Methode der Gleichheit war eine Methode des Willens – „Man konnte, wenn man es wollte, alleine und ohne erklärenden Lehrmeister durch die Spannung seines eigenen Begehrens oder durch den Zwang der Situation lernen“ (Rancière et al. 2018: 22). Der Text spricht hier von einem „Aufzwingen”. Die Worte sind im Kontext der Entstehungszeit des Textes nicht ganz so bestimmend zu lesen. Aus meiner Sicht kann die Rolle so verstanden werden, wie es Hartmut Rosa mit seinen Resonanzachsen beschreiben würde. Mit seinen Worten wäre es die Aufgabe der vermittelnden Person, die Begeisterung zu wecken und die Lernenden zu erreichen, indem ein Lernstoff ausgewählt wird, der beiden Seiten als bedeutungsvolle Möglichkeit und Herausforderung erscheint. Hierdurch kann intrinsisches Interesse und bei der Erarbeitung ein noch stärkeres Selbstwirksamkeitserleben entstehen. Dieser kurze Gedankenimpuls mit Hartmut Rosa kann die Rolle der emanzipierten Lehrmeister*in aktualisieren und die „Unterwerfung des Willens“ dahingehend interpretieren, dass die Lehrperson impulsgebend und inspirierend ist. (vgl. Rosa 2019: 409–415)
Diese Aktualisierung des Originaltextes ist eine gute Gedankenstütze, um das Aufzwingen und Unterwerfen des Willens weniger autoritär zu besetzen. Grundsätzlich hilft bereits der Lehrmeister (in der Beschreibung von Rancière), die eigene Lernfähigkeit zu entdecken und diese durch den „Zirkel der Fähigkeit“1 zu fördern und zu emanzipieren. Damit bricht Jacotot auch hier mit der Methode der Ungleichheit und dem Zirkel der Unfähigkeit, der an die Erklärung einer Lehrperson gebunden ist.
Es sollte die Frage aufgeworfen werden, ob es die Rolle der vermittelnden Person ist, Inhalte beizubringen, wenn diese ohne den Anstoß nicht gelernt worden wären. Oder ob es stattdessen nicht die Rolle sein sollte, den Lernenden den Freiraum zu ermöglichen, eigene Lerninhalte zu wählen – und die Denkanstöße der Lehrperson gegebenenfalls auch abzulehnen. Hier lohnt es sich, den Blick zurück auf den Text von Rancière zu lenken und nach der Intention der Arten des Unterrichtens zu fragen.
1 „eine Intelligenz in einen willkürlichen Zirkel einschließt, aus dem sie nur herauskommt, indem sie sich für sich selbst notwendig macht. […] Der Unwissende wird alleine lernen, was der Lehrmeister nicht kann, wenn der Lehrmeister glaubt, dass er es kann und ich dazu verpflichtet, seine Fähigkeiten zu aktualisieren.“ Rancière et al. 2018: 26)
„Der Lernakt konnte nach vier verschieden kombinierten Bestimmungen vollzogen werden: durch einen emanzipierenden Lehrmeister oder durch einen verdummenden; durch einen wissenden Lehrmeister oder durch einen unwissenden Lehrmeister.“
(Rancière et al. 2018: 24)
Die Vermutung liegt nahe, dass es einfacher sein könnte, in der Rolle der unwissenden Lehrmeister*in zu agieren, jedoch wird diese anders und deutlich komplexer. Denn Ziel war es zu unterrichten worin der Lehrende unwissend ist und dadruch zu emanzipieren. Denn „wer lehrt, ohne zu emanzipieren, verdummt. Und wer emanzipiert, hat sich nicht darum zu kümmern, was der Emanzipierte lernen muss. […] Er wird wissen, dass er lernen kann, weil dieselbe Intelligenz in allen Produktionen am Werk ist, er wird wissen, dass ein Mensch immer die Rede eines anderen Menschen verstehen kann.“ (Rancière et al. 2018: 28) An dieser Stelle wird deutlich, dass ein Aufzwingen des Willens in emanzipierenden Lernprozess nicht vorgibt, was genau gelernt werden soll. Vielmehr soll die Wichtigkeit der Lerninhalte deutlich gemacht werden. Zu wissen, was gelernt werden soll, wird dabei der Intelligenz des Lernenden überlassen.
Nun bleibt die Frage offen, was einen emanzipierten Vermittelnden von einem Verdummenden unterscheidet. Auch drauf liefert Rancière direkt die Antwort, denn „um einen Unwissenden zu emanzipieren, muss man selbst emanzipiert sein, das heißt, sich selbst der wahren Macht des menschlichen Geistes bewusst sein – und das genügt“ (Rancière et al. 2018: 26). Auch dies scheint nicht allzu schwer zu sein. Allerdings wird deutlich, dass das Verwenden des “Zirkels der Fähigkeit” anstelle des “Zirkels der Unfähigkeit” eine intellektuelle Revolution bedeutet. Denn der Zirkel der Unfähigkeit ist immer schon da und kann als Kleber zum Funktionieren der gesellschaftlichen Welt verstanden werden. Hier wird deutlich, dass eine unwissende Lehrmeister*in sich eingestehen muss, dass er*sie gegen die Konventionen handeln müsste und damit auch seine*ihre eigenen intellektuellen Fähigkeiten in Form des eigenen Wissens abwertet. Was so einfach klingt: „selber emanzipiert zu sein, sich selbst der wahren Macht des menschlichen Geistes bewusst sein“ (Rancière et al. 2018: 26) ist eine Schlüsselstelle in dem Text von Rancière. Die vermittelnde Person muss Abstand von ihren eigenen intellektuellen Fähigkeiten nehmen und damit nicht nur mit ihrem eigenen Wissen brechen, sondern auch mit den darin enthaltenen vorherrschenden Machtpositionen. Dies geht mit einem Verringern der Machtdistanz einher und verlangt uneigennütziges Handeln, welches Gleichheit fördert. Die Aufgabe ist damit schwieriger und zeugt von einer hohen persönlichen Entwicklung, die der Lehrperson abverlangt wird.
Abschließend zu den Beobachtungen des unwissenden Lehrmeisters ist aufzuführen, dass Rancière in der gängigen Form des Unterrichtens nicht nur eine Art von Verdummung sieht, sondern auch immer eine Art von unterrichtetem Gehorsam, der zum Weiterbestehen der ungleichen Zustände beiträgt (vgl. Sternfeld 2008: 33). Solange nicht der Prozess der Emanzipation in der Lehre angestoßen wird, wird die Ordnung der Dinge höchstwahrscheinlich so bleiben wie sie war.
„Alle praktizieren diese Methode, wenn es nötig ist, aber niemand will sie anerkennen, niemand will sich der intellektuellen Revolution, die sie bedeutet, stellen. Der gesellschaftliche Zirkel, die Ordnung der Dinge, verbietet ihr, als das erkannt zu werden, was sie ist: die wahre Methode, durch die jeder lernt und durch die jeder seine Fähigkeit erproben kann. Man muss wagen, sie anzuerkennen und die offene Verifizierung ihrer Macht zu verfolgen. Andernfalls wird die Methode der Unfähigkeit, die Alte, solange dauern wie die Ordnung der Dinge.“
(Rancière et al. 2018: 27)
Einbettung in die heutige Zeit & kritische Gesellschaftsanalyse
Es gibt viele Wörter, die versuchen, die heutige Zeit zu beschreiben. Ob es die Spätmoderne ist, der Hyperkapitalismus, miteinander verflochtene multiple Krisen oder auch „Wicked Problems”. Alle unterscheiden sich und haben doch auch ähnliche Aspekte, was nicht verwunderlich ist, denn sie schauen aus unterschiedlichen Perspektiven auf unserer Realitätskonstruktionen. Jedoch machen sie deutlich, dass wir schon lange nicht mehr die Wahl haben (und vielleicht auch nie hatten), unser Denken und Handeln aus unserer systemischen Verflechtung und Kontexten losgelöst zu betrachten. In dieser Welt, die immer unsicherer, mehrdeutiger, brüchiger, unverständlicher und komplexer wird, stellt sich ganz zentral die Frage, was die Aufgabe eines Bildungssystems sein kann und sollte und, daran anknüpfend, auf welche Arten von pädagogischen Konzepten, Epistemologie, Ontologie dabei zurückgegriffen werden sollte.
„Die Schule der Zukunft steht vor der Aufgabe, eine realistische und positive Pädagogik zu entwerfen: angesichts der wachsenden Ohnmachtsgefühle, angesichts der scheiternden Anstrengungen, der Naturzerstörung Einhalt zu gebieten, angesichts der Angriffe der Medienindustrie auf unsere Lebenszeit und das Gemüt unserer Kinder, angesichts der Angst aus Unwissenheit und der Furcht, die aus dem Wissen wächst“
(Greffrath 2021)
Eine Bildung im Sinne einer kritischen Bildung zur sozial-ökologischen Transformation beinhaltet eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den globalen Krisen. Diese basiert auf kritischen Gesellschaftsanalysen, d. h. sie bezieht neben einer naturwissenschaftlichen auch eine sozialwissenschaftliche Perspektive mit ein und verbleibt nicht auf der Ebene der Symptome, sondern befasst sich mit den strukturellen Ursachen und Folgen (vgl. Lingenfelder 2020). Radikale Analysen 2 lassen diese tief vernetzten Krisen unter anderem auf die „matrix of domination“ zurückführen. Diese besteht aus „white supremacy, heteropatriarchy capitalism, and settler colonialism” und ist tief in den mentalen Strukturen unseres Denkens und Handelns verankert (Costanza-Chock 2018). Zwischen der Matrix der Dominanz und der „hinter der Erklärung” liegenden Logik im Text von Rancière sind Parallelen zu erkennen. Durch die Wertung von Wissen wird eine Ungleichheit vorausgesetzt und reproduziert, die sich auch dadurch verfestigt, welches Wissen anerkannt und weitergebenswert ist. Um diese Form der Unterdrückung zu durchbrechen, benötigt es einerseits eine Anerkennung dieser Muster, als auch langwierige Verlern- und Transformationsprozesse. Diese in eine Praxis zu übersetzen und in kleinen Mikropraktiken jeden Tag zu leben ist entscheidend, um subversiv und transformative in den entsprechenden Kontexten zu wirken (vgl. Mazé 2019: 22). Diese Bemühungen sind besonders innerhalb einer Bewegung des Designs zu beobachten, welche sich unter dem Begriff Design Justice3 formiert hat.
2 zu radicalis lat „an die Wurzel gehend, von Grund auf, gründlich“ < radix lat ‘Wurzel’ - (DWDS 2008)
3 Design justice is a field of theory and practice that is concerned with how the design of objects and systems influences the distribution of risks, harms, and benefits among various groups of people. Design justice focuses on the ways that design reproduces, is reproduced by, and/or challenges the matrix of domination. Design justice is also a growing social movement that aims to ensure a more equitable distribution of design’s benefits and burdens; fair and meaningful participation in design decisions; and recognition of community based design traditions, knowledge, and practices. (Costanza-Chock 2018)
Die (intellektuelle) Revolution, die Rancière anstoßen wollte, ist meines Erachtens auch unabdingbar im heutigen Bildungssystem nötig. Nur eine neue Designausbildung zu fordern wird nicht reichen.
In diesem dritten Akt4 befinden wir uns: Immer mehr Menschen haben ein Bewusstsein davon gewonnen, dass die Dinge außer Kontrolle geraten, wenn wir so weitermachen. Wenn das nicht geschehen soll, müssen an vielen Orten der Erde Revolutionen stattfinden: Revolutionen der Weltwirtschaft, der Energiesysteme, der Rohstoffnutzung, der Konsumansprüche, der Vergnügungen, der Rechtsordnungen. […] Das ist ungewohnt, aber diese Perspektive könnte ehrgeizige und neugierige Menschen reizen, könnte Engagement und Leidenschaft zünden. Nur freitags streiken reicht da nicht – es geht darum, die Bildungsanstalten zukunftstauglich zu machen – auch von Montag bis Donnerstag. Und den ganzen Rest natürlich auch. Weil soziale Bewegungen und Veränderung der Schule Hand in Hand gehen. Direkt oder subversiv.“
(Greffrath 2021)
4 Bezieht sich auf ein Drama. Dort gibt es zwei Akte, in denen die Probleme sich entwickeln. Im dritten Akt geschieht dann etwas, das die Wendung zum glücklichen oder zum unglücklichen Ende einleitet.
Was ist die Intention von Bildungsprozessen? Dieser Frage sollte gestellt werden und überleget werden, ob nicht ganz tief in bestehenden Bildungssystemen verankert ist, dass Menschen dafür ausgebildet werden in dem aktuellen Systeme möglichst ‘normal’ zu funktionieren und bloß kein Ärger zu machen.
Der Text von Rancière stellt diese Frage ganz bewusst und doch subtil. Sie wird vom Autor damit beantwortet, dass Menschen dazu emanzipiert werden sollen, ihre eigene Intelligenz zu nutzen. Also eine Form von Lernen zu erlernen und damit einen handelnden Menschen zu entlassen, der sich eben nicht nur zu den bestehen Zuständen in Systemstrukturen verhält und alles als gegeben und unveränderbar ansieht. Darin ist eine Form von kritischer politischer Bildung zu sehen. Zusätzlich können weitere immer wieder auftauchende Vorschläge als mögliche Intentionen diskutiert werden. So könnte es auch um Entwicklung gehen, jedoch nicht im materiellen Sinne, sondern in einer Weiterentwicklung unserer inneren Denkmuster und Strukturen hin zu einem sich entwickelnden Selbst (vgl. Kegan 1983). Weiterhin könnten einer Persönlichkeitsentfaltung und Selbstkenntnis spannenden Aspekte des Bildungssystems sein (Plath 2018). Alle diese Intentionen sind unterschiedlich und doch haben sie große Gemeinsamkeit darin, in Frage zu stellen, ob und worauf Menschen im klassischen Bildungssystem eigentlich vorbereitet werden. Außerdem gehen alle wie auch Rancière von einer Gleichheit der Intelligenz aus und versuchen, Hierarchien innerhalb von Wissensformen und auch Lehrkonstellationen aufzulösen. Die Intention hat eine entscheidende Rolle in Bildungsprozessen, denn diese entscheidet, worauf der Wille gelenkt wird und welche Herausforderungen überhaupt die Intelligenz von Lernenden anzieht.
“Mainstream design, the design profession, and our established cultural and educational institutions are resistant to change and may favor abstract and often uncritical conceptions of “innovation” and “progress.” Here, the idea of the future is critical – we cannot know what needs to be different (or “innovated”) nor what direction we prefer (“progression”) without making a fuss. We must pause to reflect on the past and present.
(Mazé 2019: 22)
Die Frage, wie eine intellektuelle Revolution aussehen kann, ist aktueller denn je. Zudem wurde aufgezeigt, dass Teile der Antworten bereits in dem Text von Rancière angelegt sind. Nun soll noch einmal genauer darauf geschaut werden, was dies für das Designcurricula bedeuten kann.
Wenn Designer*innen auf aktuelle Krisen reagieren, sensibler für ihre Umwelt werden und die Auswirkungen ihrer Arbeit auf menschliche und nicht-menschliche Akteure verstehen lernen wollen, kann dies zu einer Verlagerung führen: ihre Anliegen zunehmend in den Dienst der Gesellschaft stellen, anstatt Probleme für Auftraggeber*innen zu lösen.
Dieses neue Bewusstsein im Design führt dazu, dass Rollen, in denen Designer*innen auftreten, aber auch vorgefundene Umstände andere sind als bislang in der Geschichte des Designs. An dieser Stelle wird deutlich, dass es nicht den einen Job gibt, für den die Ausbildung vorbereiten soll, sondern diese eher eine Wegweisung und Unterstützung darstellt. Sie soll darauf vorbereiten, dass sich Menschen innerhalb der Projekte selbstständig Fähigkeiten aneignen, die an dieser Stelle kontextabhängig benötigt werden. Um die Prinzipien des Design Justice auch in der Lehre umzusetzen, benötigt es die Akzeptanz, dass andere Wege des Denkens, Wissens und Seins etabliert werden müssen und diese nur bedingt innerhalb der Strukturen eines Hochschulstudiums erreicht werden können. (vgl. Danah Abdulla & Haytham Nawar 2021 & Mareis et al. 2021)
Doch ist es ausreichend, Lehren aus dem Text von Rancière nur für die Entwicklung von Curricula und Bildungssystemen zu ziehen? Oder ist nicht auch für Transformationsdesigner*innen viel aus diesen Lehren zu ziehen? Transformationsprozesse versuchen häufig auch durch Vermittlungsformate Perspektivwechsel zu ermöglichen. Hierzu benötigt es eine Lenkung des Willens auf zu lernende oder zu verlernende Inhalte. Somit kann das eigene Handeln zur unwissenden Lehrmeister*in für andere werden. Wertzuschätzen ist allerdings auch die Fähigkeit, wissende Lehrmeister*innen zu akzeptieren und von ihnen etwas zu lernen oder sogar das Verhältnis umzukehren und subversive emanzipierende Prozesse und transformative Gedanken auf der anderen Seite anzustoßen. Denn um nichts anderes geht es im Kern: Aus der Unterdrückung des Wissens zu entkommen und eine Entwicklung zuzulassen. Eine Entwicklung hin zu einer Welt, in der es um Entfaltung, Gemeinwohl und Gleichheit geht statt um Herrschaft und Dominanz. Solch ein Handeln als unwissende Lehrmeister*in verleiht Selbstwirksamkeit und lässt Transformationsprozesse zu Emanzipatiosprozessen werden, die jeweils neue Transformationsdesigner*innen/unwissende Lehrmeister*in hervorbringen und damit den Zirkel der Emanzipation fortsetzen.
“Not even a teacher needs to have a answers to questions that don’t necessarily have answers: questions that are just as important a part of the process of exploration, or of reseach intended to illuminate a field of connections and not necessarily draw a conclusion or offer explanations. – or that contribute to the lesson that we shouldn’t be afraid to work things out for ourself.”
(Elliman 2014)
Der Comic Herausgeber der Peanuts Charles Schulz sagte einst: „NO ONE IS GOING TO GIVE YOU THE EDUCATION YOU NEED TO OVERTHROW THEM”. Am Ende können wir uns jedoch fragen, ob es wirklich eine Ausbildung braucht oder nur eine*n andere*n Unwissenden, die*der uns emanzipiert und uns dazu einlädt, uns die Fähigkeiten selber zu holen und anfangen unsere eigene Intelligenz zu nutzen. Damit werden wir gegenseitig unwissende emanzipierende Lernmeister*innen werden und voneinander lernen. Durch diese Praxis können wir neue Möglichkeitsräume eröffnen und metaphorisch Bäume pflanzen, unter dessen Schatten wir eventuell nicht sitzen werden.
Abschließend möchte ich deutlich machen, dass durch die Praxis des Zitierens und dem Berufen auf das Wissen anderer meine Intelligenz von der des Textes getrennt wird. Weiterhin möchte ich bewusst die Leser*in dieses Textes dazu aufrufen, seine*ihre eigene Intelligenz zu nutzen, an Leerstellen weiter zu suchen, Dinge bei Bedarf selbst zu recherchieren und diesen Text als eine Perspektive zu lesen und kritisch zu reflektieren.
Der Essay „Unwissende Lehrmeister*innen als Vermittelnde im Transformation Design“ ist im Kontext des Seminars Designtheorie geschrieben worden.
LITERATUR
Costanza-Chock, Sasha (2018): Design Justice: towards an intersectional feminist framework for design theory and practice, in: DRS2018: Catalyst, S. 1–13, [online] doi:10.21606/drs.2018.679.
Danah Abdulla & Haytham Nawar (2021): Future of Education, YouTube - Tasmeem Doha 2022: Radical Futures, [online] https://www.youtube.com/watch?v=RyrGzIlV7WI [abgerufen am 19.02.2022].
DWDS (2008): „Radikal“ - Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, DWDS, [online] https://www.dwds.de/wb/radikal [abgerufen am 26.02.2022].
Elliman, Paul (2014): A School is a Building with a School in it, Design Open Data, [online] https://designopendata.wordpress.com/portfolio/a-school-is-a-building-with-a-school-in-it-2006-paul-elliman/ [abgerufen am 19.02.2022].
Escobar, Arturo (2007): Worlds and knowledges otherwise: Designs for the Pluriverse: Radical Interdependence, Autonomy, and the Making of Worlds, in: Cultural Studies, Bd. 21, Nr. 2–3, S. 179–210, [online] doi:10.1080/09502380601162506.
Greffrath, Matthias (2021): Inventur und Neustart (3/3) - Was die Schule der Zukunft leisten sollte, Deutschlandfunk, [online] https://www.deutschlandfunk.de/inventur-und-neustart-3-3-was-die-schule-der-zukunft-100.html [abgerufen am 19.02.2022].
Kegan, Robert (1983): The Evolving Self: Problem and Process in Human Development, Reprint, Cambridge , USA: Harvard University Press.
Lingenfelder, Julia (2020): Transformative Bildung – Außerschulische Bildung, Außerschulische Bildung, [online] https://fachzeitschrift.adb.de/transformative-bildung/ [abgerufen am 19.02.2022].
Mareis, Claudia/Nina Paim/Danah Abdulla/Tanveer Ahmed/Zoy Anastassakis (2021): Design Struggles: Intersecting Histories, Pedagogies, and Perspectives (PLURAL), 01. Aufl., Amsterdam, Niederlande: Valiz.
Mazé, Ramia (2019): Design Education Practice: Reflections on feminist modes and politics, in: Bauhaus Futures, S. 3–23, [online] doi:10.7551/mitpress/12044.003.0005.
Plath, Maike (2018): Befreit euch!: Anleitung zur kleinen Bildungsrevolution. : Theorie und Praxis., 2. Aufl., Norderstedt, Deutschland: Books on Demand.
Rancière, Jacques/Peter Engelmann/Richard Steurer-Boulard (2018): Der unwissende Lehrmeister: Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation (Passagen forum), 3., verbesserte, Verlag, Deutschland: Passagen.
Rosa, Hartmut (2019): Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung (suhrkamp taschenbuch wissenschaft), 5. Aufl., Berlin , Deutschland: Suhrkamp Verlag.
Sternfeld, Nora (2008): Das pädagogische Unverhältnis: Lehren und lernen bei Jacques Rancière, Antonio Gramsci und Michel Foucault, 1., Aufl., Wien, Österreich: Turia + Kant.
ein angenehm offener, universalistischer, grundlegender didaktik-exkurs – der wertvollerweise den blick auf kognitive grundlagen von designprozessen lenkt. vielen dank für die veröffentlichung.
Eine dinosaurische Referenz, aus der Frühzeit kritischer Emanzipation: das Konzept des „unwissenden Lehrmeisters“ dürfte zurückgehen auf SOKRATES. Nicht nur historisch-faktisch, sondern bezeichnenderweise zugleich in textgebundener Verwendung als Kunstfigur bei Platon. Die Abstreifung der Referenz (über moderne, europäische Autoren) wiederum entlastet von „Ideenlehren“, Rezeptionsgeschichte und Inventar des deutschen Bildungsbürgertums, zugehörigem Patriarchat.
„Wie kann man in der Informationsgesellschaft ein Grieche sein ?“ (H. v.d.Boom), so warf einer meiner Lehrmeister in den 90er-Jahren die Frage noch auf (was heute sprachlich nicht mehr ginge, den persönlich-sachlichen Spannungsbogen incl. historischer Referenz aber gut beschreibt). Meine persönliche Antwort wäre wohl: jedenfalls mit Umsicht (schon um sokratischem Schicksal zu entgehen), gutem Rückhalt sowohl intellektuell als auch somatisch und sozial, einschlägigem System alltäglicher „Mikropraktiken“. Bewusst gepflegte Virtualität in beruflichen Angelegenheiten (Design) ! Jede Wirklichkeit ist immer auch Möglichkeit.
von Daniele Lauriola.
Inwiefern können die „Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation“ (Rancière et al. 2018) eine zeitgemäße (Transformations-)Designbildung informieren?
Nachdem im ersten Schritt wichtige Aspekte des genannten Textes erläutert und mit anderen Quellen in Bezug gebracht werden, soll im zweiten Schritt überlegt werden, was aus diesem gelernt werden kann – für das (Transformation) Design, die Gestaltung von Curricula und für die Vermittlung innerhalb von Transformations- und Designprozessen. Dazu möchte ich genauer darauf schauen, was die Intention von Curricula sein könnten und was dies für ihre Gestaltung bedeutet. Es soll geprüft werden, ob es nicht wie Rancière vorschlägt die Rolle der Bildung sein sollte, zu emanzipieren. Dabei wird beim „Unwissenden Lehrmeister“ vor allem dem Willen und der Intelligenz eine besondere Rolle zugesprochen. Besonders spannend ist dessen Zusammenhang zwischen Lehrenden und Lernenden. Hier möchte ich die Frage aufwerfen, ob nicht das Emanzipieren der Intelligenz die autodidaktische Schlüsselfähigkeit von Designer*innen ist?
Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation
Der Text „Fünf Lektionen über die intellektuelle Emanzipation“ des französischen Philosophen Jacques Rancière widmet sich einem Pädagogen des frühen 19. Jahrhunderts.
Die Erzählung handelt von Joseph Jacotot, der eine radikale Neukonzeption des pädagogischen Verhältnisses auf der Basis der Gleichheit vorgenommen hat. Es wird von seinem Unterricht berichtet, in dem das autoritäre Verhältnis oder auch das „Verhältnis der Verdummung“ von wissenden Lehrenden einerseits und unwissenden Lernenden andererseits grundlegend in Frage gestellt wird. Dabei sind die Gedanken und Experimente scheinbar aus der Not geboren, da Jacotot niederländische Studierende Französisch lehren soll. Die Schwierigkeit hierbei liegt darin, dass er selbst kein Niederländisch spricht und somit die vermittelnde gleiche Sprache fehlt. Aus dieser Erfahrung ergibt sich die Notwendigkeit einer Behauptung des Jacotots: Dass ein Unwissender einem anderen Unwissenden das beibringen kann, was er selbst nicht weiß. Die Erfahrung, dass seine Studierenden auch ohne Erklärung erfolgreich Lernen konnten, war entscheidend für die Wiederentdeckung der „Methode des universellen Unterrichts”. Diese Methode ging vor dem Hintergrund der Forderungen der Französischen Revolution davon aus, dass alle Menschen die gleiche Intelligenz besitzen. Er wendet sich dabei grundlegend vom klassischen Unterrichtsansatz ab, bei dem in kleinen Schritten vom Kleinsten zum Größeren unterrichtet wird (etwa im Sprachunterricht von Wörtern und Sätzen, von einfachen grammatikalischen Formen zu komplizierteren Konstruktionen). Mit dem Universalunterricht wird viel mehr die Prämisse verfolgt, dass sich, um Dinge verstehen und lernen zu können, das notwendig Wissen selber angeeignet werden kann. Es wird mit Texten und nicht mit der Grammatik begonnen, mit Zusammenhängen und nicht mit Details. So sind es die Lernenden selbst, die die einzelnen Schritte, die ihr Verständnis ermöglichen, wählen und nachvollziehen (vgl. Rancière et al. 2018 & Sternfeld 2008: 25).
Somit fiel Jacotot nicht mehr die Rolle der vermittelnden Person zu, die den Lernprozess durch ihre eigene Intelligenz begrenzt und die versucht den Lernenden etwas beizubringen oder zu erklären. Es war jedoch nicht so, dass ihm gar keine Rolle mehr zufiel, sondern eine andere. Er musste den Willen des Lernenden aktivieren, denn die Methode der Gleichheit war eine Methode des Willens – „Man konnte, wenn man es wollte, alleine und ohne erklärenden Lehrmeister durch die Spannung seines eigenen Begehrens oder durch den Zwang der Situation lernen“ (Rancière et al. 2018: 22). Der Text spricht hier von einem „Aufzwingen”. Die Worte sind im Kontext der Entstehungszeit des Textes nicht ganz so bestimmend zu lesen. Aus meiner Sicht kann die Rolle so verstanden werden, wie es Hartmut Rosa mit seinen Resonanzachsen beschreiben würde. Mit seinen Worten wäre es die Aufgabe der vermittelnden Person, die Begeisterung zu wecken und die Lernenden zu erreichen, indem ein Lernstoff ausgewählt wird, der beiden Seiten als bedeutungsvolle Möglichkeit und Herausforderung erscheint. Hierdurch kann intrinsisches Interesse und bei der Erarbeitung ein noch stärkeres Selbstwirksamkeitserleben entstehen. Dieser kurze Gedankenimpuls mit Hartmut Rosa kann die Rolle der emanzipierten Lehrmeister*in aktualisieren und die „Unterwerfung des Willens“ dahingehend interpretieren, dass die Lehrperson impulsgebend und inspirierend ist. (vgl. Rosa 2019: 409–415)
Diese Aktualisierung des Originaltextes ist eine gute Gedankenstütze, um das Aufzwingen und Unterwerfen des Willens weniger autoritär zu besetzen. Grundsätzlich hilft bereits der Lehrmeister (in der Beschreibung von Rancière), die eigene Lernfähigkeit zu entdecken und diese durch den „Zirkel der Fähigkeit“1 zu fördern und zu emanzipieren. Damit bricht Jacotot auch hier mit der Methode der Ungleichheit und dem Zirkel der Unfähigkeit, der an die Erklärung einer Lehrperson gebunden ist.
Es sollte die Frage aufgeworfen werden, ob es die Rolle der vermittelnden Person ist, Inhalte beizubringen, wenn diese ohne den Anstoß nicht gelernt worden wären. Oder ob es stattdessen nicht die Rolle sein sollte, den Lernenden den Freiraum zu ermöglichen, eigene Lerninhalte zu wählen – und die Denkanstöße der Lehrperson gegebenenfalls auch abzulehnen. Hier lohnt es sich, den Blick zurück auf den Text von Rancière zu lenken und nach der Intention der Arten des Unterrichtens zu fragen.
1 „eine Intelligenz in einen willkürlichen Zirkel einschließt, aus dem sie nur herauskommt, indem sie sich für sich selbst notwendig macht. […] Der Unwissende wird alleine lernen, was der Lehrmeister nicht kann, wenn der Lehrmeister glaubt, dass er es kann und ich dazu verpflichtet, seine Fähigkeiten zu aktualisieren.“ Rancière et al. 2018: 26)
Die Vermutung liegt nahe, dass es einfacher sein könnte, in der Rolle der unwissenden Lehrmeister*in zu agieren, jedoch wird diese anders und deutlich komplexer. Denn Ziel war es zu unterrichten worin der Lehrende unwissend ist und dadruch zu emanzipieren. Denn „wer lehrt, ohne zu emanzipieren, verdummt. Und wer emanzipiert, hat sich nicht darum zu kümmern, was der Emanzipierte lernen muss. […] Er wird wissen, dass er lernen kann, weil dieselbe Intelligenz in allen Produktionen am Werk ist, er wird wissen, dass ein Mensch immer die Rede eines anderen Menschen verstehen kann.“ (Rancière et al. 2018: 28) An dieser Stelle wird deutlich, dass ein Aufzwingen des Willens in emanzipierenden Lernprozess nicht vorgibt, was genau gelernt werden soll. Vielmehr soll die Wichtigkeit der Lerninhalte deutlich gemacht werden. Zu wissen, was gelernt werden soll, wird dabei der Intelligenz des Lernenden überlassen.
Nun bleibt die Frage offen, was einen emanzipierten Vermittelnden von einem Verdummenden unterscheidet. Auch drauf liefert Rancière direkt die Antwort, denn „um einen Unwissenden zu emanzipieren, muss man selbst emanzipiert sein, das heißt, sich selbst der wahren Macht des menschlichen Geistes bewusst sein – und das genügt“ (Rancière et al. 2018: 26). Auch dies scheint nicht allzu schwer zu sein. Allerdings wird deutlich, dass das Verwenden des “Zirkels der Fähigkeit” anstelle des “Zirkels der Unfähigkeit” eine intellektuelle Revolution bedeutet. Denn der Zirkel der Unfähigkeit ist immer schon da und kann als Kleber zum Funktionieren der gesellschaftlichen Welt verstanden werden. Hier wird deutlich, dass eine unwissende Lehrmeister*in sich eingestehen muss, dass er*sie gegen die Konventionen handeln müsste und damit auch seine*ihre eigenen intellektuellen Fähigkeiten in Form des eigenen Wissens abwertet. Was so einfach klingt: „selber emanzipiert zu sein, sich selbst der wahren Macht des menschlichen Geistes bewusst sein“ (Rancière et al. 2018: 26) ist eine Schlüsselstelle in dem Text von Rancière. Die vermittelnde Person muss Abstand von ihren eigenen intellektuellen Fähigkeiten nehmen und damit nicht nur mit ihrem eigenen Wissen brechen, sondern auch mit den darin enthaltenen vorherrschenden Machtpositionen. Dies geht mit einem Verringern der Machtdistanz einher und verlangt uneigennütziges Handeln, welches Gleichheit fördert. Die Aufgabe ist damit schwieriger und zeugt von einer hohen persönlichen Entwicklung, die der Lehrperson abverlangt wird.
Abschließend zu den Beobachtungen des unwissenden Lehrmeisters ist aufzuführen, dass Rancière in der gängigen Form des Unterrichtens nicht nur eine Art von Verdummung sieht, sondern auch immer eine Art von unterrichtetem Gehorsam, der zum Weiterbestehen der ungleichen Zustände beiträgt (vgl. Sternfeld 2008: 33). Solange nicht der Prozess der Emanzipation in der Lehre angestoßen wird, wird die Ordnung der Dinge höchstwahrscheinlich so bleiben wie sie war.
Einbettung in die heutige Zeit & kritische Gesellschaftsanalyse
Es gibt viele Wörter, die versuchen, die heutige Zeit zu beschreiben. Ob es die Spätmoderne ist, der Hyperkapitalismus, miteinander verflochtene multiple Krisen oder auch „Wicked Problems”. Alle unterscheiden sich und haben doch auch ähnliche Aspekte, was nicht verwunderlich ist, denn sie schauen aus unterschiedlichen Perspektiven auf unserer Realitätskonstruktionen. Jedoch machen sie deutlich, dass wir schon lange nicht mehr die Wahl haben (und vielleicht auch nie hatten), unser Denken und Handeln aus unserer systemischen Verflechtung und Kontexten losgelöst zu betrachten. In dieser Welt, die immer unsicherer, mehrdeutiger, brüchiger, unverständlicher und komplexer wird, stellt sich ganz zentral die Frage, was die Aufgabe eines Bildungssystems sein kann und sollte und, daran anknüpfend, auf welche Arten von pädagogischen Konzepten, Epistemologie, Ontologie dabei zurückgegriffen werden sollte.
Eine Bildung im Sinne einer kritischen Bildung zur sozial-ökologischen Transformation beinhaltet eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den globalen Krisen. Diese basiert auf kritischen Gesellschaftsanalysen, d. h. sie bezieht neben einer naturwissenschaftlichen auch eine sozialwissenschaftliche Perspektive mit ein und verbleibt nicht auf der Ebene der Symptome, sondern befasst sich mit den strukturellen Ursachen und Folgen (vgl. Lingenfelder 2020). Radikale Analysen 2 lassen diese tief vernetzten Krisen unter anderem auf die „matrix of domination“ zurückführen. Diese besteht aus „white supremacy, heteropatriarchy capitalism, and settler colonialism” und ist tief in den mentalen Strukturen unseres Denkens und Handelns verankert (Costanza-Chock 2018). Zwischen der Matrix der Dominanz und der „hinter der Erklärung” liegenden Logik im Text von Rancière sind Parallelen zu erkennen. Durch die Wertung von Wissen wird eine Ungleichheit vorausgesetzt und reproduziert, die sich auch dadurch verfestigt, welches Wissen anerkannt und weitergebenswert ist. Um diese Form der Unterdrückung zu durchbrechen, benötigt es einerseits eine Anerkennung dieser Muster, als auch langwierige Verlern- und Transformationsprozesse. Diese in eine Praxis zu übersetzen und in kleinen Mikropraktiken jeden Tag zu leben ist entscheidend, um subversiv und transformative in den entsprechenden Kontexten zu wirken (vgl. Mazé 2019: 22). Diese Bemühungen sind besonders innerhalb einer Bewegung des Designs zu beobachten, welche sich unter dem Begriff Design Justice 3 formiert hat.
2 zu radicalis lat „an die Wurzel gehend, von Grund auf, gründlich“ < radix lat ‘Wurzel’ - (DWDS 2008)
3 Design justice is a field of theory and practice that is concerned with how the design of objects and systems influences the distribution of risks, harms, and benefits among various groups of people. Design justice focuses on the ways that design reproduces, is reproduced by, and/or challenges the matrix of domination. Design justice is also a growing social movement that aims to ensure a more equitable distribution of design’s benefits and burdens; fair and meaningful participation in design decisions; and recognition of community based design traditions, knowledge, and practices. (Costanza-Chock 2018)
Bildungssysteme & (Transformation) Designausbildung
Die (intellektuelle) Revolution, die Rancière anstoßen wollte, ist meines Erachtens auch unabdingbar im heutigen Bildungssystem nötig. Nur eine neue Designausbildung zu fordern wird nicht reichen.
4 Bezieht sich auf ein Drama. Dort gibt es zwei Akte, in denen die Probleme sich entwickeln. Im dritten Akt geschieht dann etwas, das die Wendung zum glücklichen oder zum unglücklichen Ende einleitet.
Was ist die Intention von Bildungsprozessen? Dieser Frage sollte gestellt werden und überleget werden, ob nicht ganz tief in bestehenden Bildungssystemen verankert ist, dass Menschen dafür ausgebildet werden in dem aktuellen Systeme möglichst ‘normal’ zu funktionieren und bloß kein Ärger zu machen.
Der Text von Rancière stellt diese Frage ganz bewusst und doch subtil. Sie wird vom Autor damit beantwortet, dass Menschen dazu emanzipiert werden sollen, ihre eigene Intelligenz zu nutzen. Also eine Form von Lernen zu erlernen und damit einen handelnden Menschen zu entlassen, der sich eben nicht nur zu den bestehen Zuständen in Systemstrukturen verhält und alles als gegeben und unveränderbar ansieht. Darin ist eine Form von kritischer politischer Bildung zu sehen. Zusätzlich können weitere immer wieder auftauchende Vorschläge als mögliche Intentionen diskutiert werden. So könnte es auch um Entwicklung gehen, jedoch nicht im materiellen Sinne, sondern in einer Weiterentwicklung unserer inneren Denkmuster und Strukturen hin zu einem sich entwickelnden Selbst (vgl. Kegan 1983). Weiterhin könnten einer Persönlichkeitsentfaltung und Selbstkenntnis spannenden Aspekte des Bildungssystems sein (Plath 2018). Alle diese Intentionen sind unterschiedlich und doch haben sie große Gemeinsamkeit darin, in Frage zu stellen, ob und worauf Menschen im klassischen Bildungssystem eigentlich vorbereitet werden. Außerdem gehen alle wie auch Rancière von einer Gleichheit der Intelligenz aus und versuchen, Hierarchien innerhalb von Wissensformen und auch Lehrkonstellationen aufzulösen. Die Intention hat eine entscheidende Rolle in Bildungsprozessen, denn diese entscheidet, worauf der Wille gelenkt wird und welche Herausforderungen überhaupt die Intelligenz von Lernenden anzieht.
Die Frage, wie eine intellektuelle Revolution aussehen kann, ist aktueller denn je. Zudem wurde aufgezeigt, dass Teile der Antworten bereits in dem Text von Rancière angelegt sind. Nun soll noch einmal genauer darauf geschaut werden, was dies für das Designcurricula bedeuten kann.
Wenn Designer*innen auf aktuelle Krisen reagieren, sensibler für ihre Umwelt werden und die Auswirkungen ihrer Arbeit auf menschliche und nicht-menschliche Akteure verstehen lernen wollen, kann dies zu einer Verlagerung führen: ihre Anliegen zunehmend in den Dienst der Gesellschaft stellen, anstatt Probleme für Auftraggeber*innen zu lösen.
Dieses neue Bewusstsein im Design führt dazu, dass Rollen, in denen Designer*innen auftreten, aber auch vorgefundene Umstände andere sind als bislang in der Geschichte des Designs. An dieser Stelle wird deutlich, dass es nicht den einen Job gibt, für den die Ausbildung vorbereiten soll, sondern diese eher eine Wegweisung und Unterstützung darstellt. Sie soll darauf vorbereiten, dass sich Menschen innerhalb der Projekte selbstständig Fähigkeiten aneignen, die an dieser Stelle kontextabhängig benötigt werden. Um die Prinzipien des Design Justice auch in der Lehre umzusetzen, benötigt es die Akzeptanz, dass andere Wege des Denkens, Wissens und Seins etabliert werden müssen und diese nur bedingt innerhalb der Strukturen eines Hochschulstudiums erreicht werden können. (vgl. Danah Abdulla & Haytham Nawar 2021 & Mareis et al. 2021)
Unwissende emanzipierte Transformationsdesigner*innen
Doch ist es ausreichend, Lehren aus dem Text von Rancière nur für die Entwicklung von Curricula und Bildungssystemen zu ziehen? Oder ist nicht auch für Transformationsdesigner*innen viel aus diesen Lehren zu ziehen? Transformationsprozesse versuchen häufig auch durch Vermittlungsformate Perspektivwechsel zu ermöglichen. Hierzu benötigt es eine Lenkung des Willens auf zu lernende oder zu verlernende Inhalte. Somit kann das eigene Handeln zur unwissenden Lehrmeister*in für andere werden. Wertzuschätzen ist allerdings auch die Fähigkeit, wissende Lehrmeister*innen zu akzeptieren und von ihnen etwas zu lernen oder sogar das Verhältnis umzukehren und subversive emanzipierende Prozesse und transformative Gedanken auf der anderen Seite anzustoßen. Denn um nichts anderes geht es im Kern: Aus der Unterdrückung des Wissens zu entkommen und eine Entwicklung zuzulassen. Eine Entwicklung hin zu einer Welt, in der es um Entfaltung, Gemeinwohl und Gleichheit geht statt um Herrschaft und Dominanz. Solch ein Handeln als unwissende Lehrmeister*in verleiht Selbstwirksamkeit und lässt Transformationsprozesse zu Emanzipatiosprozessen werden, die jeweils neue Transformationsdesigner*innen/unwissende Lehrmeister*in hervorbringen und damit den Zirkel der Emanzipation fortsetzen.
Der Comic Herausgeber der Peanuts Charles Schulz sagte einst: „NO ONE IS GOING TO GIVE YOU THE EDUCATION YOU NEED TO OVERTHROW THEM”. Am Ende können wir uns jedoch fragen, ob es wirklich eine Ausbildung braucht oder nur eine*n andere*n Unwissenden, die*der uns emanzipiert und uns dazu einlädt, uns die Fähigkeiten selber zu holen und anfangen unsere eigene Intelligenz zu nutzen. Damit werden wir gegenseitig unwissende emanzipierende Lernmeister*innen werden und voneinander lernen. Durch diese Praxis können wir neue Möglichkeitsräume eröffnen und metaphorisch Bäume pflanzen, unter dessen Schatten wir eventuell nicht sitzen werden.
Abschließend möchte ich deutlich machen, dass durch die Praxis des Zitierens und dem Berufen auf das Wissen anderer meine Intelligenz von der des Textes getrennt wird. Weiterhin möchte ich bewusst die Leser*in dieses Textes dazu aufrufen, seine*ihre eigene Intelligenz zu nutzen, an Leerstellen weiter zu suchen, Dinge bei Bedarf selbst zu recherchieren und diesen Text als eine Perspektive zu lesen und kritisch zu reflektieren.
Comments (2)
ein angenehm offener, universalistischer, grundlegender didaktik-exkurs – der wertvollerweise den blick auf kognitive grundlagen von designprozessen lenkt. vielen dank für die veröffentlichung.
zufällig gefunden beim versuch, subversiv emanzipierende Prozesse in der kommunalpolitik anzustossen : https://www.mitreden.braunschweig.de/dialoge/ideenplattform/kommunalverfassungsrechtlicher-und-politikwissenschaftlicher-crahskurs-fuer
Eine dinosaurische Referenz, aus der Frühzeit kritischer Emanzipation: das Konzept des „unwissenden Lehrmeisters“ dürfte zurückgehen auf SOKRATES. Nicht nur historisch-faktisch, sondern bezeichnenderweise zugleich in textgebundener Verwendung als Kunstfigur bei Platon. Die Abstreifung der Referenz (über moderne, europäische Autoren) wiederum entlastet von „Ideenlehren“, Rezeptionsgeschichte und Inventar des deutschen Bildungsbürgertums, zugehörigem Patriarchat.
„Wie kann man in der Informationsgesellschaft ein Grieche sein ?“ (H. v.d.Boom), so warf einer meiner Lehrmeister in den 90er-Jahren die Frage noch auf (was heute sprachlich nicht mehr ginge, den persönlich-sachlichen Spannungsbogen incl. historischer Referenz aber gut beschreibt). Meine persönliche Antwort wäre wohl: jedenfalls mit Umsicht (schon um sokratischem Schicksal zu entgehen), gutem Rückhalt sowohl intellektuell als auch somatisch und sozial, einschlägigem System alltäglicher „Mikropraktiken“. Bewusst gepflegte Virtualität in beruflichen Angelegenheiten (Design) ! Jede Wirklichkeit ist immer auch Möglichkeit.