Über Design Struggles und Pädagogik

In dem Seminar Designtheorie- Geschichte und aktuelle Diskurse haben Vanessa Hoffmann und Natalia Dill sich mit dem Buch Design Struggles und insbesondere dem Kapitel Pedagogies auseinandergesetzt.

Disclaimer: Wenn wir in dem Text von “wir” oder “uns” sprechen, meinen wir damit uns als Menschen (Natalia Dill und Vanessa Hoffmann), die den Text verfasst haben.

In dem folgenden Text befassen wir uns mit dem Kapitel “Pedagogies” des Buches Design Struggles (2021). Das Buch ist eine Sammlung an Texten von Autor*innen, die sich kritisch mit dem Einfluss von Design auf das Instandhalten von Ungerechtigkeiten und ungleicher Machtverteilung innerhalb gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer, ökologischer und kultureller Strukturen befasst. Es wurde herausgegeben von Claudia Mareis und Nina Paim und über den Valiz Verlag veröffentlicht. Als PDF steht das Buch im Internet frei zum Download zur Verfügung. 

Das Kapitel “Pedagogies” widmet sich der Rolle von Design in der Bildung und diskutiert, inwieweit Designlehre und -forschung dazu beitragen kann, negative Aspekte des Designs auf die Gesellschaft zu bekämpfen. 

Im Rahmen unseres Referats, welches wir am 17.02.2023 vorgetragen haben,  analysierten wir die Texte von Matthew Kiem und Ahmed Ansari, Danah Abdulla und Ramia Mazé in Hinblick auf Kolonialität und Diskriminierung innerhalb von Designlehre &-forschung. Kiem, Ansari und Abdulla beschäftigten sich mit Konzepten der Dekolonisierung  in Bezug auf Design und  ob es möglich ist, Design und Designlehre zu dekolonisieren und wenn ja, was hierfür Ansätze sein könnten. Mazé wiederum fokussiert sich auf Beispiele und Handlungsanweisungen zu der Sichtbarkeit von marginalisierten und unterrepräsentierten Gruppen in der Designlehre und -forschung. Die Texte werfen die Frage auf, ob es gelingen kann, Design von innen und innerhalb festgefahrener (akademischer) Institutionen zu reformieren. Nach einer Zusammenfassung der drei Texte der genannten Autor*innen werden wir einige Punkte aufgreifen, die in der Diskussion nach dem Referat besprochen wurden. Abschließend möchten wir diskutieren, inwiefern Design ein Teil von Transformationsprozessen sein kann oder sollte und ob Transformationsdesign in der Lage ist, etablierte Strukturen zu transformieren, wenn es als eine Unterdisziplin des Designs betrachtet wird, beziehungsweise sich selbst als solche sieht. 

Da wir, wie anfangs erwähnt, nur ausgewählte Texte des Buches Design Struggles (2021) behandeln, bildet die Verschriftlichung nicht alle Diskurse aus dem Buch ab und erhebt auch nicht diesen Anspruch.

WHAT IS NEEDED FOR CHANGE?

Two Perspectives on Decolonization and the Academy

Ahmed Ansari & Matthew Kiem

Der Text “What is Needed for Change: Two Perspectives on Decolonization and the Academy”, verfasst von Ansari und Kiem, beleuchtet kritisch, ob und inwiefern die Designpraxis und -lehre dekolonisiert werden kann. Hierbei werden zum einen die Limitationen im Designfeld aufgezeigt und ein Verstehen von Designpraxis in einem kolonialen Kontext vermittelt. Das von den Autoren selbst gesetzte Ziel ist es, ein Verständnis dafür zu entwickeln, welche Veränderungen notwendig sind, um Design im Kontext von Dekolonisierung zu betrachten. Dabei legen sie einen besonderen Fokus auf die Art und Weise, wie Design bisher gesehen wird. Hierbei sei es wichtig, auch zu betrachten, ob ein solcher Dekolonisierungsprozess im Design mit den allgemeinen Zielen von Dekolonisierung zusammenpasse.

Ahmed Ansari besetzt eine Assistenzprofessur an der New York University. Seine Forschungsfelder umfassen Speculative Design, Critical Design Studies, Geschichte, die Philosophie von Technologie und critical cultural studies. Ansari interessiert sich dafür, wie nicht-eurozentristisches Wissen die Designpraxis beeinflussen kann und ist Gründungsmitglied der “Decolonising Design Platform” und dem “Architecture Design Research Lab”.

Matthew Kiem ist Designer, Forscher und Lehrperson an der “Western Sydney University”. Seine Doktorarbeit verfasste er zum Thema “Coloniality of Design” und ontologisches Design im Licht von dekolonialem Denken mit Fokus auf koloniale Siedlerdynamik in Australien.

Vgl. Ansari, Ahmed / Kiem, Matthew: What is needed for Change? Two Perspectives on Decolonization and the Academy in Design Struggles, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021, S. 156.

2 Vgl. Ansari, Ahmed: “About”, o.J., [online] https://ahmedansari.com/ (abgerufen am 15.03.2023).

3 Vgl. Kiem, Matthew: “Purse Journal”, o.J., [online] https://parsejournal.com/authors/matthew-kiem/ (abgerufen am 15.03.2023).

Ihr gemeinsamer Text im Buch Design Struggles (2021) ist unterteilt in einen von Kiem und einen von Ansari verfassten Abschnitt. Eingeleitet werden beide Abschnitte mit der Beobachtung, dass das Interesse in den Humanwissenschaften an Wissen und Ideen aus dekolonialen Bewegungen in den letzten Jahren stetig gestiegen ist. Kiem und Ansari fragen sich hierzu, inwiefern die Akzeptanz von dekolonialen Theorien eine Strategie sei, um deren politische Bedeutung zu verwässern und zu neutralisieren und um somit koloniale Macht gegen ihre Abschaffung zu immunisieren.4 Sie bemerken außerdem, dass Universitäten und akademisierte Räume, besonders aus dem Globalen Norden, noch nie Orte für strukturelle Dekolonisierung, sondern eher das Gegenteil waren. Um Design also dekolonisieren zu können, ist es wichtig, auch die grundlegende Funktion von Universitäten in Netzwerken kolonialer Macht zu hinterfragen. Dekoloniale Theorie muss sowohl in Designlehre als auch in allen anderen Bereichen des Zusammenlebens Anwendung finden.

4 Vgl. Ansari, Ahmed / Kiem, Matthew: What is needed for Change? Two Perspectives on Decolonization and the Academy in Design Struggles, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021, S. 155

Putting Design on the Line: Matthew Kiem

Kiem knüpft gleich zu Beginn an die Gedanken der Einleitung des Textes an und bemerkt, dass die Frage danach, wer für wen lehrt und wer sich hierbei wie wohl und willkommen fühlen kann, im akademischen Kontext eine Frage des ständigen Aushandelns innerhalb der kolonialen Machtmatrix sei.5 An dem Beispiel der “Rhodes Must Fall”-Bewegung in Südafrika zeigt Kiem auf, dass Prozesse der Wissensproduktion untrennbar mit Machtverhältnissen verknüpft sind und dass Designpraktiken nicht von materiellen Interessen, Transformation und sozialen Konflikten separiert werden können. Aufgrund der unterschiedlichen Wahrnehmungen und Interessen innerhalb des Kolonisierungsprozesses, zum Einen aus Sicht der Kolonisierten und zum Anderen jener der Kolonisierenden, könne Dekolonisierung niemals ein rationaler Prozess sein, der sich mit einer Distanz aushandeln ließe.6 Die Kolonisierenden tendieren dazu, sei es durch Mikro- oder Makroaggressionen, die Debatte um Dekolonisierung als rational und jede Form von Dekolonisierung als Angriff auf die Vernunft zu betrachten. Kiem unterstreicht an dieser Stelle, dass eine solche Betrachtung immer im Sinne der Kolonisierenden ist. 

Für Designtheoretiker*innen ist es darüber hinaus besonders wichtig, die Verbindungen zwischen Materialität, Macht, Interessen, Konflikten und Ideen im Blick zu behalten und zu beobachten, wie das Designfeld dekoloniale Methoden, Konzepte und Ideen implementiert. Kiem stellt an dieser Stelle die Frage, inwiefern innerhalb des Design-Feldes davon ausgegangen wird, dass die Designpraxis dekolonisiert werden kann, ohne dass es zu tiefgreifenden Veränderungen kommen muss.  Er schließt daraus, dass Design nicht die volle Kontrolle darüber haben kann, in welche Richtung ein Dekolonialisieren-Prozess ginge und welche Ergebnisse dieser hervorbringe.7

Weiterhin öffnet Kiem zwei Dimensionen in der Frage nach Design und Dekolonisierung: die Rolle, die Design innerhalb von gesellschaftlichen Konflikten einnimmt und Design selbst als Gegenstand von Geschichte und gesellschaftlichen Konflikten. Zu der Rolle von Design innerhalb gesellschaftlicher Konflikte bemerkt Kiem, dass Design zwar wichtig für soziale Transformation sei, aber ohne eine radikale soziale Transformation nicht dekolonisiert werden könne.8 Bezüglich der Dimension von Design selbst als Gegenstand von gesellschaftlichem Konflikt merkt Kiem an: Design dient zur Reproduktion der kapitalistischen Wirtschaftslogik. Design existiert unter anderem aufgrund der Ressourcen, die durch koloniale Macht im Design verwendet werden konnten. Deshalb muss eine dekoloniale Auseinandersetzung mit (der) Design(praxis) sowohl historisch als auch gegenwärtig erfolgen. Es ist wichtig zu analysieren, welche Machtachsen von Design aufrechterhalten werden und anzuerkennen, dass im Design soziale Strukturen eingeschrieben sind, diese aber oftmals nicht als solche erkannt werden.9 Hierfür müssen Interessen, Bedürfnisse und Annahmen, die Design instandhält, hinterfragt werden, auch wenn Design nicht eine einzige festgelegte Definition hat. 

Kiem schließt mit der Annahme, dass die koloniale Machtmatrix von keiner Theorie vollständig beschrieben und bestimmt werden könne, aber dass es essenziell sei, Designtheorie vor dem Hintergrund von politischer Anfechtbarkeit und sozialer Veränderung zu analysieren. Hierfür müsse anerkannt werden, dass von kolonisierenden Personen sehr klare Positionen bezogen werden müssen, während sie über den Prozess der Dekolonisierung niemals die volle Kontrolle haben dürfen.10 Zu einer ähnlichen Konklusion kommt Jamie Tyberg in dem Text “Unlearning: From Degrowth to Decolonization”. Tyberg bezieht sich in dem Text nicht speziell auf Design, sondern stellt am Beispiel des Green New Deal in den USA infrage, ob es möglich ist in der Vergangenheit nach Lösungen für eine dekoloniale Zukunft zu finden. Degrowth als Konzept und das Abschaffen von kapitalistischen und kolonialen Praktiken weltweit wird hier als ein essenzieller Lösungsbestandteil aufgeführt. 11

5  Vgl. Kiem, Matthew, What is needed for Change? Two Perspectives on Decolonization and the Academy in Design Struggles, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021, S. 157.

6 Vgl. ebd., S. 158.

7  Vgl. ebd., S. 159.

8 Vgl. ebd., S. 159.

9 Vgl. ebd., S. 160.

10 Vgl. ebd., S. 161.

11 Vgl. Tyberg, Jamie, Unlearning: Von Degrowth to Decolonzation, New York, Rosa Luxemburg Stiftung, 2020 S. 8 f.

A Project Doomed to Fail? Ahmed Ansari

Ahmed Ansari beginnt den zweiten Abschnitt des Textes mit der Feststellung, dass trotz der mittlerweile vielen bekannten und beliebten Ansätze, akademische Räume zu dekolonisieren, sich wenig daran verändert habe, wie in anglo-europäischen akademischen Kontexten Wissen produziert wird.12 “Decolonization” ist zu einer Art Mainstream-Begriff geworden, dabei geht das Konzept weit darüber hinaus, ein diskriminierungsarmes Arbeitsumfeld für Mitarbeiter*innen zu schaffen. Ansari sieht hierbei in der Analyse der Rolle von Design innerhalb von sich rapide verändernden gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen eine Möglichkeit, über veränderte Institutionen und alternative soziale Strukturen nachzudenken. 

Wie Kiem bemerkt auch Ansari, dass es in einem ungerechten System nicht reiche, sich Gerechtigkeit zum Ziel zu setzen und dass Design nicht dekolonisiert werden könne, ohne die Konditionen zu ändern, die systemisch auf Design einwirken und vom Design selbst aufrechterhalten werden.13 

Weiterhin stellt Ansari fest, dass, wenn wir Design als ontologisch begreifen, also als grundlegend für die Umstände und Bedingungen, in welchen Menschen existieren, dann sollte dies nahelegen, sich mit der Frage zu beschäftigen, welche Ontologien uns in die aktuelle Situation gebracht haben und auf welche andere Arten menschliche Existenzen gedacht werden können. Ansari stellt die Frage, inwiefern eine Designpraxis aufgebaut werden kann, die darauf abzielt, das aktuelle moderne System und die Arten menschlichen Zusammenlebens zu dekolonisiere. Design müsse auf ein “pluriverse” hinarbeiten, eine Welt, in der viele Welten gleichzeitig existieren können.14 Ansari nennt drei Aspekte, die für einen Dekolonisierungsprozess des Designs beachtet werden müssen: Zum einen muss ein neues Verständnis davon, was Design und die Designpraxis in der menschlichen Geschichte für Rollen gespielt hat und wie es beeinflusst wurde, entwickelt werden. Design muss sich außerdem zurück auf lokalere Felder besinnen. Es muss eine Designpraxis entwickelt werden, die von innen und den eigenen Kosmo-Ontologien und Epistemologien der Communities kommt. Als dritten Punkt nennt Ansari, wie ebenfalls von Kiem im ersten Abschnitt des Textes betont, dass die Orte politischen Handelns ausgemacht werden müssen, innerhalb welcher durch Design funktionale, aktive Projekte für gesellschaftlichen Wandel entwickelt werden können.15 Offen

bleibe hierbei die Frage, welche Rolle anglo-europäische akademische Räume in diesem Prozess spielen können, wenn sie doch darauf begründet seien, dass sie “anderes” (nicht anglo-europäisches) Wissen so verändert haben, um es sich selbst schmackhaft und verständlich zu machen und dies als Instrument nutzen, um die eigene machtvolle Position zu erhalten und zu festigen – besonders vor dem Hintergrund, dass eine sehr verbreitete, monopolhafte Stellung von Eliten festzustellen sei, die vor allem in Westlichen16 Institutionen gelernt haben.17 Ansari bemerkt, dass diese weißen und nicht-weißen Eliten lernen müssen, nicht-anglo-europäische Konzepte und Prinzipien zu inkorporieren und dem Westlichen Markt entgegenzusetzen und ergänzt, dass dieser Prozess niemals allein in akademischen Kreisen angegangen werden kann. Es braucht Perspektiven, die das Potenzial haben, die Präsenz von Westlicher Akademie zu destabilisieren und zu untergraben, so Ansari. 

An dieser Stelle verweist Ansari auf Arturo Escobar’s “struggle towards autonomy”.18 Er bezieht diesen im universitären Kontext auf den politischen Kampf von Lernenden und Lehrenden außerhalb und innerhalb anglo-europäisch geprägter akademischer Strukturen. Das Ziel hiervon ist es, gemeinsam lokales Wissen und andere Formen der Wissensgenerierung  zu aktivieren, wodurch über neue Möglichkeiten des Zusammenlebens nachgedacht und Zukünfte realisiert werden können.

Ansari schließt mit dem Gedanken, dass Design das Potenzial hat, eine Brücke zu schlagen zwischen Projekten, die den Anspruch erheben, Wissen dekolonisieren zu wollen, radikalem strukturellem Umdenken und Projekten der kulturellen Transformation durch aktiven politischen Kampf hin zu einem ontologischen, dekolonialen und autonomen Design.

12 Vgl. Ansari, Ahmed, What is needed for Change? Two Perspectives on Decolonization and the Academy in Design Struggles, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021, S. 161.

13 Vgl. ebd., S. 162.

14 Vgl. ebd., S. 164.

15 Vgl. ebd., S. 164.

16 Mit dem Begriff  „Westen“ wird ein historisches und kein geographisches Konstrukt dargestellt. Das Konstrukt ermöglicht Unterschieden zwischen „Westlichen“ und „nicht-Westlichen“ Gesellschaften und impliziert, dass die einen “entwickelt” und die anderen “nicht entwickelt” sind. Wir verwende eine Schreibweise mit großen Anfangsbuchstaben sowohl für das Nomen „Westen“ als auch für das Adjektiv „Westlich“. Vgl. dazu Hall, Stuart: Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht. In: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hrsg. von Ulrich Mehlem u.a. Hamburg: Argument Verlag 1994, S. 138.

17 Vgl. Ansari, Ahmed, What is needed for Change? Two Perspectives on Decolonization and the Academy in Design Struggles, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021, S. 165.

18 Vgl. ebd., S. 165.

DISCIPLINARY DISOBEDIENCE

A Border-Thinking Approach to Design

Danah Abdulla 

Danah Abdulla beschreibt sich selbst als Designerin, Lehrperson und Forscherin. Sie beschäftigt sich in ihrer Forschung und Lehre mit neuen Designpraktiken, die den Anspruch erheben, die Grenzen des Designs und deren Definitionen auszuweiten.19 

In ihrem Text “Dicsiplinary Disobedience – A Border-Thinking Approach to Design” kritisiert Abdulla das Aufsplitten des Designfeldes in immer mehrere Unterkategorien und -disziplinen, anstatt die Designpraxis als solche neu zu denken. Hierfür schlägt Abdulla “Border-Thinking” als dekoloniale Praxis vor, die dazu beitragen kann, Design als Ganzes mehr als eine sich stetig verändernde, Grenzen überschreitende und sich an und zwischen Grenzen bewegende Praxis zu verstehen. Zu Beginn des Textes beschreibt sie die Designpraxis als eine Praxis, die sich sowohl innerhalb als auch außerhalb von Systemen bewege und die Grenzen von verschiedenen Theorien und Praktiken überschreite.20 Im Zuge der Inkorporierung verschiedener Theorien in die Designpraxis kommt es allerdings eher vor, dass sich immer neue Disziplinen innerhalb des Designs ausbilden, anstatt Grenzen wirklich zu verwischen, aufzuheben und zu übersteigen. Abdulla erkennt an, dass das Ausbilden der verschiedenen Disziplinen im Europa des 19. und 20. Jahrhundert dazu gedient habe, eigene Identitäten innerhalb der Disziplinen zu entwickeln und eine Forschungspraxis klar zu definieren. Würden diese Grenzen der Unterdisziplinen aufgehoben oder verwischt werden, bestünde laut Abdulla die Chance, dass Herausforderungen innerhalb des Designs, aber auch in der Welt, sehr viel schneller und dynamischer angegangen werden könnten.21 Design wäre so sehr viel anpassungsfähiger und nicht mehr gefangen in der scheinbar unveränderbaren, starren Einteilung in bestimmte abgegrenzte Disziplinen. Als Beispiel hierfür nennt Abdulla den Dekoloniesierungsprozess von Design. Es reiche nicht, lediglich eine weitere Disziplin innerhalb des Designs zu eröffnen, welche sich dann dekoloniales Design nennt, sondern Design als Ganzes müsse als ontologisch begriffen und dekolonisiert werden. Dekolonisation lediglich als Zusatz zu den bestehenden Designpraktiken zu sehen, sei nicht zielführend. An dieser Stelle zitiert Abdulla Arturo Escobar und beschreibt, dass Design in der regulären Ordnung, in der es eingebettet ist, destabilisiert werde, sobald es ontologisch und nicht in Kategorien abgegrenzt betrachtet werden würde.22

Abdulla kritisiert nach Zoe Todd außerdem, dass innerhalb der Unterdisziplinen des Designs weiterhin dieselben 60 Jahre alten Texte gelesen und dieselben über 100 Jahre alten Glaubenssätze Anwendung finden, was weiterhin indigene Körper und Realitäten in Hörsälen unsichtbar macht. Das unreflektierte Übernehmen von Methoden und Praktiken aus anderen Disziplinen erwecke den Eindruck, es gäbe einfache Lösungen für komplexe Probleme und Herausforderungen und dass die Welt auf eine einfache Art und Weise gerettet werden könne.23 Die Designjournalistin und -kuratorin Anja Neidhardt bestärkt diesen Punkt in ihrem Text “100 Years of Bauhaus School and the Need for New Perspectives” und zeigt deutlich an dem Beispiel der Bauhaus-Lehre, inwiefern das Übernehmen von 100 Jahre alten Theorien und Lehrkonzepten, rassistisch geprägte und männlich-dominierte Perspektiven oftmals unreflektiert reproduziert werden.24 

Anstatt sich auf das Etablierte zu versteifen, ist es wichtiger, Design als eine fluide, sich immer weiter entwickelnde Praxis zu begreifen und zu lehren, was allerdings durch die aktuelle Aufteilung in verschiedene Kategorien, laut Abdulla, beinahe unmöglich gemacht wird. Sie erkennt an, dass Designer*innen hinsichtlich der aktuellen Weltlage und der verschiedenen Krisen, die es zu bewältigen gebe, sich langsam wegbewegen würden von der Rolle der Expert*in hin zu einer Mediator*innen-Position, wie auch von Arturo Escobar beschrieben. Der Fokus würde zwar langsam eher auf einem Design für die Gesellschaft anstelle des bisherigen Lösens von Problemen der Industrie liegen, allerdings sei Design weiterhin hauptsächlich Industrie-fokussiert und innerhalb der Westlichen Logik von Modernität und “Fortschritt” gefangen. Laut Abdulla wurden die Werkzeuge und Methoden des Designfeldes noch nicht kritisch genug überprüft und reflektiert, denn auch das Integrieren von bisher nicht repräsentierten Positionen und Perspektiven legt den Fokus auf Individuen anstatt auf das Gemeinschaftliche und auf Verbindungen. Das Wissen von Aktivist*innen beispielsweise würde weiterhin ignoriert werden, wie Zoe Todd beschreibt, neben den Rockstars eurozentristischer, Westlicher Perspektive.26
In dem Paper “Solidarity as a Principle for Antisystemic Design Processes: Two cases of alliance with social struggles in Brazil”, beschreiben die Designforscherin Bibiana Oliveira und die Designerin Sâmia Batista das Konzept der Solidarität zwischen Designer*innen und Aktivist*innen oder vom Designprozess betroffene Menschen als Strategie, einen Designprozess auf Augenhöhe durchzuführen. Wenn Solidarität am Anfang des Designprozesses stehe, anstelle von Empathie, lege dies nahe, eine “Anti-System-Perspektive” einzunehmen. Diese verlange nicht nur ein “Problem” zu sehen, sondern unterdrückende Strukturen aufzudecken und so mit den Betroffenen gemeinsam die diskriminierenden Umstände zu überwinden und transformieren, mit denen sie konfrontiert sind.27

19 Vgl. Abdulla, Danah: “About”, o.J., [online] https://www.dabdulla.com/About (abgerufen am: 15.03.2023).

20 Vgl. Abdulla, Danah: Disciplinary Disobedience. A Border-Thinking Approach to Design in Design Struggles, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021, S. 227.

21 Vgl. ebd., S. 229.

22  vgl. Escobar 2018, zit. nach Abdullah, Danah 2021,  Disciplinary Disobedience. A Border-Thinking Approach to Design in Design Struggles, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021 S. 230.

23 Vgl. ebd., S. 231.

24 Vgl. Neidhardt,Anja: 100 Years of Bauhaus School and the Need for New Perspectives, ark, 4/2019, S. 4.

25 Vgl. Abdulla, Danah: Disciplinary Disobedience. A Border-Thinking Approach to Design in Design Struggles, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021 S. 233.

26 vgl. Todd 2016, zit. nach Abdullah, Danah 2021,  Disciplinary Disobedience. A Border-Thinking Approach to Design in Design Struggles, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021 S. 234.

27 Vgl. Oliveira, Bibiana / Batista, Sâmia: Solidarity as a Principle for Antisystemic Design Processes: Two cases of alliance with social struggles in Brazil, Toronto: OCAD University, 2021, S. 51.

Themen wie Rassismus und Machtstrukturen würden in der Designlehre weiterhin kaum eine Rolle spielen.28 Auch der Text “Design Justice: towards an intersectional feminist framework for design theory and practice” von Designer*in und Researcher*in Sasha Constanza Chock betont eben diesen Punkt und gibt mithilfe des Konzepts von “Design Justice” einen Einblick, wie eine Community-zentrierte und diskriminierungssensible Designpraxis aufgebaut werden könne. Hier wird die Prozesshaftigkeit und Fluidität der Designpraxis betont und ein Fokus auf das Zentrieren der Stimmen und Expertisen gelegt, die am meisten von den Konsequenzen der Designpraxis betroffen sei.29 Die Cross-, Inter-, Trans- und Multidisziplinarität, die in Designdiskursen immer wieder gepredigt würde, sei nicht wirklich in der Praxis wiederzufinden. Es würde der Eindruck erweckt, Design erfinde sich neu, während sich in der Realität nur mehr Arten von Designer*innen und Designfeldern herausbilden.30 Madina Vladimirovna Tlostanova argumentiert auch, dass sich hinter der Einführung neuer Disziplinen der Drang verbirgt, mittels “Innovation” und “Kreativität” Arbeitsplätze zu sichern und die eigene Existenz zu rechtfertigen, dabei würden in erster Linie die eigenen Bedürfnisse befriedigt werden, die von den Bedürfnissen der Gesellschaft abweichen. 31

28 Vgl. Abdulla, Danah: Disciplinary Disobedience. A Border-Thinking Approach to Design in Design Struggles, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021 S. 234.

29  Vgl. Chock, Sasha Constanza: Design Justice: towards an intersectional feminist framework for design theory and practice, Design Research Society, Limerick: Design Research Society, 2018.

30 Vgl. Abdulla, Danah: Disciplinary Disobedience. A Border-Thinking Approach to Design in  Design Struggles, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021 S. 235.

31 Vgl. Tlostanova, Madina:  Unlearning and Relearning Design in Design in Crisis, New Worlds, Philosophies and Practices, London: Routledge, 2020, S.165.

Abdulla zeigt im nächsten Abschnitt ihres Textes auf, wie ein “Border-Thinking”-Ansatz als dekoloniales Konzept innerhalb der Designpraxis angewandt werden kann. Unter dem “Border-Thinking”-Ansatz versteht Abdulla nach Eleni Kalantidou und Tony Fry ein Praktizieren und Denken entlang von Grenzen, darin und darüber hinaus; ein Denken, das nomadisch sei, sich immer weiter fortbewege und Besitz, Institutionen und das Denken in Boxen ablehne. Border Thinking ist nicht additiv, sondern systemisch zu verstehen und erfordert ein komplettes Neudenken von Design über die engen, von europäischen Modernitätslogiken geprägten auferlegten Definitionen hinaus. Design kann niemals außerhalb oder getrennt von Kapitalismus und Imperialismus gesehen werden, genauso wie die Herausforderungen, mit denen Design konfrontiert ist.32 Abdulla schlägt in dem Kapitel vor, die Grenzen innerhalb des Designfeldes einzureißen und plädiert dafür, dass Design erst aus den eigenen Kategorien ausbrechen müsse, um dann andere Disziplinen inkludieren zu können. Das Designfeld müsse über europäische Modernitätskonzepte hinausgehen; Abdulla schreibt, um Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen, müsse über Lösungen des 20. Jahrhunderts hinaus gedacht werden.33 Sie sieht das Potenzial, dass Design, sollte es die eigenen internen Grenzen überwinden, auch Einfluss auf nah verwandte Disziplinen nehmen könnte. Es besteht zum Beispiel die Chance, Hierarchien in akademischen Kreisen zu überwinden und abzubauen. Wird das Designfeld inklusive der Designausbildung nicht neu gedacht, wird sich Design allerdings weiterhin um sich selbst kreisen und für sich selbst existieren. Konkrete Praxisanwendungen, wie eben solche Grenzen bereits aufgelöst und überschritten werden, ohne sich auf festgefahrene Disziplinen zu versteifen, zeigt Mazé in ihrem Text “Design Education Futures. Reflections on Feminist Modes and Politics” auf. Besonders anschaulich für eine solche Praxis sind die Dekolonisierungsprozesse des Ontario College of Art and Design (OCAD) in Toronto. Hier werden bestehende Begrifflichkeiten und Strukturen neu gedacht und disziplinäre Abgrenzungen aufgebrochen, verwischt und überschritten. Eine detailliertere Beschreibung des Dekolonisierungsprozesses kann im nächsten Abschnitt dieser Verschriftlichung nachgelesen werden.

32 Vgl. Abdulla, Danah: Disciplinary Disobedience. A Border-Thinking Approach to Design in Design Struggles, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021 S. 136.

33 Vgl. ebd., S. 137.

Abdulla schließt ihren Text mit dem Gedanken, dass Designer*innen in sich kollaborativ seien und schon immer das Potenzial gehabt hätten, verschiedene Felder zu vereinen und zusammenzubringen.34 Durch “Border-Thinking” könne es gelingen, kollektive Praktiken zu etablieren. Abdulla fordert, dass Designer*innen, bevor sie Design in andere Disziplinen tragen, nach innen blicken und die eigene Disziplin transformieren. Designer*innen dürfen Konzepte und Ideen in rigiden Abgrenzungen festhalten, denn diese Grenzen halten sie davon ab, bedeutsame Verbindungen aufzubauen und wirkliche kollektive Kollaborationen zu initiieren. 

Nach Henry Giroux brauche es eine Entwicklung von einer kritischen, informierten und involvierten Praxis, die mit einem gesellschaftlichen Verantwortungsbewusstsein ausgeführt wird und eben so gelehrt wird. Das Entwickeln einer Sensibilität für verschiedene Machtmechanismen und Diskriminierungsstrukturen wie Rassismus oder Klassismus innerhalb der Designpraxis und -lehre erfordere mehr als eine weitere diskriminierungskritische Designströmung. Ein Anfang kann hier das Abschaffen von Grenzen innerhalb des Designs sowie ein Neudenken der Disziplin sein.

34 Vgl. ebd., S. 138.

DESIGN EDUCATION FUTURES

Reflections on Feminist Modes and Politics

von Ramia Mazé  

Ramia Mazé ist Designerin, Forscherin und Pädagogin, die sich auf partizipatorische, kritische und politisch engagierte Designpraktiken sowie auf „Forschung durch Design“ und feministische Erkenntnistheorien spezialisiert hat. 

Nach ihrem Bachelor in Architektur an der Columbia University und dem Master in Computer Related Design am Royal College of Art, promovierte Mazé im Bereich Interaction Design an der Malmö University in Schweden bei Pelle Ehn. 

Mazé hat an mehreren Universitäten in Europa gelehrt, darunter der Aalto University School of  Arts, Design and Architecture in Finland, wo sie auch die Fakultät für Design leitete. Sie war außerdem an der Konstfack University of Arts, Crafts and Design in Stockholm, am KTH Royal Institute of Technology, bei der National Doctoral School Designfakulteten und am Interactive Institute in Schweden. Seit 2020 ist Mazé Professorin im Design für Social Innovation and Sustainability am Londoner College of Communication, University of the Arts. Seit 2016 ist sie zusätzlich die Herausgeberin der wissenschaftlichen Zeitschrift Design Issues. Ihre Forschungsinteressen umfassen Fragen der Nachhaltigkeit, der feministischen Perspektiven auf Design, der Gestaltung von Partizipation und Kollaboration sowie der Rolle von Design in der Gesellschaft. Sie veröffentlicht zahlreiche Artikel und Bücher, häufig in Kooperation mit anderen Menschen über eben diese Themen und referiert oft auf Konferenzen und Veranstaltungen weltweit.35


In dem Essay “Design Education Futures. Reflections on Feminist Modes and Politics” untersucht Mazé mögliche und bevorzugte Zukünfte des Fachgebiets Design und zeigt auf, wie feministische Theorien und Praktiken dazu beitragen können, eine inklusivere und gerechtere Gestaltungspädagogik zu schaffen. Dabei geht sie kritisch auf alltägliche Bestandteile der Designausbildung wie Normen im Design, Lehrpläne und Forschungkonventionen ein. Sie stellt die Frage, wie diese konventionellen Aspekte des Designs verändert werden können, der Status quo hinterfragt, um alternative Ansätze zu entwickeln, um Themen wie Gleichberechtigung, Nachhaltigkeit und andere Paradigmen, die in der Vergangenheit sowohl in der Designbranche als auch in der -ausbildung fehlten, ins Zentrum zu stellen. In dem Text zeigt Mazé Beispiele auf, wie Ausbildung auf eine demokratische Art und Weise gestaltet werden kann, indem alle Beteiligten in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Mazé betont dabei insbesondere die Bedeutung von feministischen, partizipatorischen und kollaborativen Designpraktiken, die nicht nur die Zusammenarbeit zwischen Designer*innen und Nutzer*innen, sondern auch zwischen verschiedenen Disziplinen und Kulturen fördern können. Mazé gibt an, dass wir alle aus unseren Alltagspraktiken heraus als Teil größerer soziopolitischer Einheiten im Hier und Jetzt handeln und die Zukunft beeinflussen können.36

Sie argumentiert, dass die Auswirkungen von Vergangenheit und Gegenwart auf die Zukunft deutlich zu erkennen sind. Bestehende Weltanschauungen, Strukturen, Institutionen, Politiken und Praktiken beeinflussen die Gegenwart und legen den Grundstein für unsere Zukünfte.37 Besonders im Kontext von Design, welches oft als Mittel zur Gestaltung der Zukunft betrachtet wird, könne es wichtig sein, die Vergangenheit und Gegenwart kritisch zu hinterfragen, um wünschenswerte Zukünfte entwerfen zu können. Mazé plädiert für eine reflektierte Designpraxis, die sich für nachhaltige und inklusive Zukünfte einsetze. Ihr nach ist die Aufgabe der kritischen Theorie, den Alltag zu untersuchen und zu hinterfragen, wie bestimmte Normen, Hegemonien, In-/ Ausschlüsse konstruiert und (re)produziert werden. Durch die kritische Geschichtsschreibung werden eben solche Fragen an die Vergangenheit gestellt, kritische Zukunftsstudien untersuchen die Zukunft, durch die Integration feministischer Theorien und Praktiken soll explizit erforscht werden, wie etwas anders sein kann oder werden kann.38

35 Vgl. Mazé Ramia: “About”, o.J., [online] http://www.ramiamaze.com (abgerufen am 15.3.2023).

36 Vgl. Mazé, Ramia, Design Education Futures, Reflections on Feminist Modes and Politics in Design Struggles: Intersecting Histories, Pedagogies, and Perspectives, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021, S.277.

37 Vgl. ebd., S. 260.

38 Vgl. ebd., S. 260.

In ihrem Essay schreibt Mazé aus ihrer eigenen Erfahrung und Arbeit, aber auch über Projekte und Forschung von anderen Menschen. Im Folgenden werden ausgewählte Beispiele aus dem Text dargelegt, mit welchen sich Mazé auseinandergesetzt hat oder auch selbst Teil davon war. In dem Kapitel “Design Education Futures. Reflections on Feminist Modes and Politics” reflektiert Mazé über die Rolle des Design-Kanon und die Lehre von Designausbildungen. Sie stellt in den aufgezeigten Beispielen dar, dass der Design-Canon und die damit verbundenen Lehrkonventionen oft eine einschränkende, eurozentristische Perspektive auf Design haben und dabei viele alternative, marginalisierte Designtheorien und -praktiken übersehen, ignorieren oder sogar ausschließen.39

Mazé beleuchtet die Potenziale verschiedener Praktiken, wie die kritische Geschichtsschreibung, Dekolonisierungsprozesse oder kritische Zitierpraxis, um bestehende Probleme im Design  aufzudecken und sichtbar zu machen. Durch die Implementierung solcher Praktiken in Design-Lehrpläne und Curricula könne eine breite Palette von Designtraditionen und -praktiken integriert werden, die die Vielfalt der menschlichen Erfahrungen und Perspektiven abbilden. Die Berücksichtigung der genannten Praktiken könne somit dazu beitragen, die Grenzen bestehender Design-Konventionen zu überwinden und eine inklusivere und vielfältigere Gestaltung zu fördern.40

39 Vgl. ebd., S. 259 f.

40 Vgl. ebd., S. 260 f.

Kritische Geschichtsschreibung

Was Mazé unter kritischer Geschichtsschreibung versteht, zeigt sie unter anderem anhand des Bauhauses, welches oft im Zusammenhang mit der Designausbildung genannt wird. In dem Essay bezieht sie sich dabei auf die Historikerin Katerina Rüedi, welche Sitzungsprotokolle und bürokratische Unterlagen des Bauhauses, die in institutionellen Archiven gesammelt wurden, untersucht und dabei bestimmte Strukturen mit weitreichenden Folgen und strukturelle Ungleichheit des Bauhauses aufdeckt. Den Unterlagen zur Folge ließ sich erschließen, dass Frauen am Bauhaus höhere Studiengebühren zahlen mussten, außerdem war die Anzahl von Studienplätzen für Frauen begrenzt. Darüber hinaus durften laut Gründer Walter Gropius keine Frauen für den Studiengang Architektur zugelassen werden.41
Auch wenn sich die Zulassungsbedingungen an der Bauhaus-Universität geändert haben und es keine geschlechtsspezifischen Kriterien mehr gibt, war zum Zeitpunkt der Gründung des Bauhauses die Weltanschauung, aufgrund der weiß/männlichen Perspektive der Gründer und auch der überwiegend weiß/männlichen Lehrenden und Studierenden, mit rassistischen, kapitalistischen und patriarchalen Strukturen verwoben.42 Die Arbeit und Ausbildung im Bauhaus beruhte somit auf bestimmten Stereotypen, als Folge dessen haben sich vorwiegend diese Perspektiven in der Designgeschichte und -praxis verankert. Durch die Benachteiligungen von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen entstanden weitreichende Folgen, und eben durch die Praktik der kritischen Geschichtsschreibung können Fälle wie die des Bauhauses, welche elitäre und ausschließende Praktiken verfolgten, als Teil eines umfassenden Phänomens aufgedeckt und untersucht werden.43

41 Vgl. ebd., S. 261.

42 Vgl. Neidhardt, Anja: 100 Years of Bauhaus School and the Need for New Perspectives, ark, 4/2019, S. 9.

43 Vgl. Mazé, Ramia, Design Education Futures, Reflections on Feminist Modes and Politics in Design Struggles: Intersecting Histories, Pedagogies, and Perspectives, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021, S. 261.

Wie ein Artikel von 2020 von Futuress zeigt, ist das Thema Diskriminierung und Benachteiligung an Hochschulen trotz nachhaltiger Bewusstseinsbildung nicht abgeschlossen. In dem Beitrag wird berichtet, dass unter anderem in Schweizer Designschulen Lehrerende und Studierende ihre Unzufriedenheit über Diskriminierung äußern, dabei wird über rassistische und sexistische Praktiken gesprochen. Lehrende und Studierende fordern eine Veränderung in der Lehrplanung und -Gestaltung, Diversitäts- und Sensibilisierungschulungen für Lehrende und Hilfeleistung für Studierende, die Diskriminierung erleben.44 

Als ein weiteres aktuelles Beispiel führt Mazé die Geschichte von Rosa Taikon an, über die die Designhistorikerin Christina Zetterlund nach ihrem Ableben einen Nachruf verfasst hatte, um die Geschichte und Bedeutung von Taikon als Person im Design abzubilden. Taikon studierte an der Konstfack Universität für Kunst, Handwerk & Design in Schweden. In dem Nachruf schreibt Zetterlund, dass Taikon die einzige bekannte Roma-Silberschmiedin in Schweden war und durch ihre Arbeit und Ausstellungen, wie zum Beispiel im schwedischen Nationalmuseum, bei der auch die Geschichte der schwedischen Roma einschließlich schwerer Menschenrechtsverletzungen Thema war, die Silberschmiedin bedeutende und historische Beiträge leistete. Eben durch die Immatrikulation an einer Hochschule hatte Taikon erst den Zugang zum Nationalmuseum und die Chance ausstellen zu können. Das erkannte sie als ein Privileg und nutzte dieses, um ihre Geschichte und die der Roma zu erzählen und aufzuzeigen, wer (welche Menschen) und was (welche Praktiken und Traditionen) im Design eine Rolle spielen könnten.45 

44  Vgl. Futuress, depatriarchise design: “Diviersity Issues in Futuress auf futures”, 2020, [online] https://futuress.org/stories/diversity-issues/ (abgerufen am 15.03.2023).

45 Vgl. Mazé, Ramia, Design Education Futures, Reflections on Feminist Modes and Politics in Design Struggles: Intersecting Histories, Pedagogies, and Perspectives, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021,  S. 261 ff.

Durch das Schreiben von Nachrufen können nach Mazé, Geschichten von übersehenen oder verborgenen Personen im Design, wie in dem Beispiel von Rosa Taikon, welche nicht nur als Aufklärungsarbeit, sondern auch als “Kritik aus dem Inneren” an der Designpraxis verstanden werden kann, aufgezeigt und öffentlich gemacht werden.46 Die Geschichte von Taikon aus feministischer Perspektive zu betrachten, hilft die historischen Ausschlüsse und Marginalisierungen von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen in der Designpraxis zu erkennen. Eben diese Marginalisierungen und Ausschlüsse sind Teil des gesellschaftlichen Systems der Unterdrückung und Ausbeutung. Mazé spricht dabei von “lost histories”. Sie betont, dass verlorene Geschichten von Frauen recherchiert, aufgedeckt und erzählt werden sollten. Vergangene, aber auch bestehende Strukturen und Machtverhältnisse im Design sollten kritisch hinterfragt werden, um alternative Praktiken entwickeln zu können, die auf Gerechtigkeit und Inklusion ausgerichtet sind.47 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass kritische Geschichtsschreibung ein wichtiges Werkzeug sein kann, Vielfalt der Design-Praktiken und -Perspektiven anzuerkennen und zu fördern.

46 Vgl. ebd., S. 261 f.

47 Vgl. ebd., S. 261.

Dekolonisierungsprozesse

Im Folgenden stellt Mazé dar, wie durch Dekolonisierungsprozesse festgefahrene Strukturen an Hochschulen gezielt verändert werden können. Anhand des Ontario College of Art and Design in Kanada (OCAD) zeigt sie, wie innerhalb einer Institution Machtverhältnisse und koloniale Strukturen mittels dekolonialer Praktiken versucht werden, aufzubrechen.
Am OCAD werden verschiedene Praktiken angewandt, um die historische Kolonisierung und Unterdrückung indigener Völker und Gebiete auszugleichen. Zum Beispiel werden gezielt Stellen für indigene Bewerber*innen für Dozierendenstellen mit Festanstellung ausgeschrieben. Außerdem werden Anzeigen bewusst hinsichtlich der Wortwahl, dem Tonfall, der Zeichensetzung sowie den Aufzählungen verfasst, da Gender-Studien zufolge genau solche Parameter verschiedene Auswirkungen auf unterschiedliche Geschlechter48 haben.49 Simone Burel schreibt in einem Beitrag in Quick Guide Female Leadership, dass gerade in Stellenanzeigen für Führungspositionen eher “männlich” konnotierte Wörter verwendet werden, das kann zur Folge haben, dass Frauen sich trotz ähnlicher oder gleicher Qualifikation weniger zutrauen als Männer.50 Damit sich mehr Frauen auf die Stellenanzeigen bewerben, werden am OCAD außerdem traditionelle und ausschließende Kategorien und Begriffe wie Wissenschaft, Design und Forschung durch Begriffe wie “university of the imagination,” “visual culture,” und “indigenous knowledge systems” ersetzt. Das OCAD orientiert sich zudem an indigenen Gemeinschaften und integriert Konzepte in das Leitprinzip des “respektvollen Designs”, welches in den Prinzipien der Hochschule verankert ist und auch Auswirkungen in Bezug auf Kriterien für die Benotung und Bewertung hat.51 Mazé schreibt, dass im Fall von der OCAD es sich zeigt, dass das Schreiben von Stellenanzeigen als kritische Praxis messbare Ergebnisse aufweist. Die kritische Reflexion über die Geschichte und den Kontext von Designpraktiken erlaube es, die zugrunde liegenden kolonialen Machtstrukturen zu erkennen. Die dekolonialen Praktiken fördern Alternativen zu den dominanten westlichen Designpraktiken und ermöglichen es, andere Perspektiven und Erfahrungen zu integrieren. Am OCAD werden lokales Wissen und kulturelle Traditionen in die Designpraktiken eingebettet, das würde zur Zusammenarbeit mit marginalisierten Gruppen und Gemeinschaften sowie Integration ihrer Perspektiven und Bedürfnisse in den Designprozess führen. Durch das Einstellungsverfahren werden am OCAD gezielt “andere” Designdefinitionen und -kulturen ermöglicht, die sich auf künftige Generationen von Designer*innen auswirken können.52

In “Unlearning and Relearning Design” schreibt Tlostanova jedoch, dass solche Beschwichtigungsmaßnahmen nicht ausreichen würden, da Institutionen wie Universitäten und Hochschulen auf einem eurozentrischen epistemischen Vertrag basieren. Das führe dazu, dass Institutionen immer noch Denkansätzen folgen, die andere Systeme ablehnen und unterdrücken würden. Dadurch, dass die Probleme tief in ihrem Denken und ihren Systemen verwurzelt sind, können laut Tlostanova diese nicht einfach mit oberflächlichen Maßnahmen behoben werden können.53

Auch wenn die Maßnahmen am OCAD, die aufgeführt wurden, laut Mazé  zeigen, dass durch kritische Praktiken Veränderungen durchaus möglich sind, zeigt die Arbeit von Tlostanova, dass es eines kritischen Umdenkens und Hinterfragens von Hochschulsystemen an sich bedarf.

48 Mit dem Begriff Geschlecht ist das soziale, gefühlte und gelebte Geschlecht gemeint, nicht das aufgrund körperlicher Merkmale zugewiesene Geschlecht.

49 Vgl. ebd.,  S. 264.

50 Vgl. Burel, Simone: Sprache der Führung – Wörter ändern Mindsets in Quick Guide Female Leadership, Heidelberg: Springer Gabler Berlin, 2020, S. 91 ff.

51 Vgl. Mazé, Ramia, Design Education Futures, Reflections on Feminist Modes and Politics in Design Struggles: Intersecting Histories, Pedagogies, and Perspectives, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021, S. 264.

52 Vgl. ebd., S. 264.

53 Vgl. Tlostanova, Madina:  Unlearning and Relearning Design in Design in Crisis, New Worlds, Philosophies and Practices, London: Routledge, 2020, S. 167.

Kritisches Zitieren

Im Essay betont Mazé immer wieder die Notwendigkeit bei der Verwendung von Zitation in der Designforschung und -praxis kritisch zu hinterfragen. Wem wird eine Stimme gegeben und welche Perspektiven und Stimmen werden dadurch ausgeschlossen? Beim Zitieren wird die Welt um bestimmte Körper reproduziert, so Mazé.54 Meist werden weiße, männliche und Westliche Autoren zitiert und andere Perspektiven ignoriert oder unterrepräsentiert. Das führe dazu, dass die bestehenden Machtstrukturen im Design erhalten werden. Sie selbst schreibt, dass sie sehr genau darauf bedacht ist, wen sie in Lehrplänen, Präsentationen und Veröffentlichungen zitiert. In der Vorbereitung listet sie dafür potenzielle Zitate in Tabellen auf, um zu überprüfen, ob sie eine bewusste Auswahl in Bezug auf Geschlecht und Kultur getroffen hat. Sie gibt an, dass sie selbst bei einem Buchprojekt die Erfahrung machte, dass sich ihre Arbeit grundlegend änderte, nachdem sie erkannte, dass sie hauptsächlich nur weiße, Westliche, männliche Autoren zitiert hatte und daraufhin Quellen von Autor*innen mit unterschiedlichen Hintergründen suchte. Das Zitieren als kritische Praxis und das bewusste Integrieren von Stimmen und Perspektiven von Frauen, People of Color und anderen marginalisierten Gruppen können Ideale, das Wissen und grundlegende Inhalte verändern.55

54 Vgl. Mazé, Ramia, Design Education Futures, Reflections on Feminist Modes and Politics in Design Struggles: Intersecting Histories, Pedagogies, and Perspectives, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021, S. 266.

55 Vgl. ebd., S. 267.

Forschung 

In dem Kapitel “Academic and Research Conventions” setzt sich Mazé mit den Konventionen und Normen in der akademischen Designforschung auseinander.56 Viele der Konventionen basieren bis heute auf eurozentristischen und patriarchalen Vorstellungen von Wissen und Forschung.57 Mazé zeigt anhand von unkonventionellen Beispielen wie ein erweitertes Verständnis von Forschung und Wissen, die auf Erfahrung, Emotion und Beziehungen basieren kann. Durch alternative Ansätze wie feministische, kritische oder partizipatorische Methoden soll die Vielfalt von Perspektiven und Erfahrungen in der Forschung berücksichtigt werden. 

Anhand der Forschungsarbeit von Kristina Lindström und Åsa Ståhl wird deutlich, wie feministische Theorien und Praktiken Einfluss auf ihre Arbeit haben. Mazé beschreibt, wie sie sich mit einem gemeinsam verfassten Forschungsantrag an zwei verschiedenen Fakultäten bewarben und die Arbeit als ein gemeinsam verfasstes Buch schrieben und veröffentlichten. In ihrer Arbeit stützen sich Lindström und Ståhl auf feministische und technik-wissenschaftliche Theorien, durch die sich ihre Vorstellung von Kritik verändert. Laut Mazé überschritten und rekonfigurierten sie somit Grenzen zwischen Wissen, Disziplinen, Methoden und sogar Körpern und Wesen. Sie benennt ihre Arbeit als ein Beispiel dafür, wie feministische Methoden der Kritik nicht nur hinterfragt, sondern auch Alternativen entworfen werden können.58

Im selben Kapitel spricht Mazé auch über die Form des Buches als Norm und das Buchmachen selbst. Sie hebt die Bedeutung von partizipativen, feministischen und kritischen Praktiken hervor, die darauf abzielen, die Perspektiven marginalisierter Gruppen und Gemeinschaften darzustellen und alternative Narrative zu schaffen. Das akademische Buch als Norm neige dazu, bestimmte Autoritäten und Meinungen zu privilegieren und alternative Stimmen und Perspektiven zu unterdrücken. Sie selbst hat zusammen mit anderen Autor*innen aus verschiedenen Disziplinen, das Buchmachen als eine kritische und feministische Gestaltungspraxis neu überdacht.59 Eins der Bücher ist “Feminist Futures of Spatial Practice”. Sie schreibt, dass Feminist Futures als eine Infragestellung des festgelegten Formats des Herausgebers und das Lektorieren von Experten verstanden werden kann. Für das Projekt setzen sie sich sowohl mit Praktiken des kritischen Designs als auch mit kritischer und feministischer Theorie auseinander. Sie betont, dass beim Schaffensprozess Auswahl, Positionierung, Reihenfolge, die Stimmen der Mitwirkenden, Redaktionsprozesse einschließlich der Sprache, Rechtschreibung, Stilrichtlinien, Balance von Theorie und Praxis sowie Arbeit und Ressourcen während des Prozesses und vieles mehr eine wichtige Rolle spielte. Für das Lektorieren wendeten sie die “peer review in the round“ an. Dabei wird das Buch nicht von einzelnen Expert*innen bewertet und lektoriert, sondern unter den mitwirkenden Autor*innen von Angesicht zu Angesicht, im Dialog gemeinsam durchgeführt.60 Im Kapitel “Feminist Practices: Writing around the Kitchen Table” des Buches thematisieren die Autorinnen über die Erfahrungen des Zusammenkommens und Diskutieren an einem gemeinsamen Tisch, über das mietender sein, das anders Handeln und Denken.61 Mazé beschreibt den Prozess als ein kontinuierliches “In-Beziehung-Sein” und das Ergebnis als eine zwischenmenschliche und kollektive Wissensabbildung.62

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Mazé In ihrem Essay verdeutlicht, wie durch kritische Geschichtsschreibung sowie feministische oder dekoloniale Perspektiven in Designtheorie und -praxis ihrer Meinung nach dazu beitragen können, Normen, Lehrkonventionen und Forschungsformen infrage zu stellen, um Ideologien und Narrative zu verstehen, um diese dann verändern zu können. Mazé betont, dass Designer*innen grundsätzlich immer wieder auch sich selbst und ihre Rolle in der Gesellschaft hinterfragen und aktiv bevorzugte Zukünfte leben sollten. Dabei können ihnen eben solche kritischen Perspektiven auf die Geschichte und Gegenwart des Designs helfen, eine bessere Zukunft zu gestalten. Durch partizipatorische und kooperative Ansätze können sie Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Disziplinen und Communitys fördern und voneinander lernen.63

56 Vgl. ebd., S. 268-276.

57 Vgl. Tuhiwai Smith Linda, Decolonizing Methodologies, Research and Indigenous Peoples, London: Zed Books, 2012, S. 42 f.

58 Vgl. Mazé, Ramia, Design Education Futures, Reflections on Feminist Modes and Politics in Design Struggles: Intersecting Histories, Pedagogies, and Perspectives, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021, S. 269 ff.

59 Vgl. ebd., S. 272.

60 Vgl. ebd., S. 274 ff.

61 Vgl. Schalk,Meike/ Kristiansson, Thérèse/ Mazé,Ramia : Feminist Futures of Spatial Practice: Materialisms, Activisms, Dialogues, Pedagogies, Projections, Stockholm: AADR and Spurbuchverlag, 2017, S.171.

62 Vgl. Mazé, Ramia, Design Education Futures, Reflections on Feminist Modes and Politics in Design Struggles: Intersecting Histories, Pedagogies, and Perspectives, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021, S. 276.

63 Vgl. ebd., S. 276.

Fazit

Im Rahmen der Referatsvorbereitung und der vorliegenden Verschriftlichung zu dem Thema Designlehre sind uns verschiedene Problematiken und Herausforderungen im Bereich des Designs aufgefallen, die die Autor*innen bereits in ihren Texten anreißen oder näher beleuchten. Wie von Kiem bereits angesprochen sehen auch wir die Gefahr, dass dekoloniale, indigene und aktivistische Konzepte, in kapitalistische, patriarchale und koloniale (Designlehr-)Räume getragen werden und an das etablierte System angepasst und somit verändert werden. Unserer Ansicht nach wirkt es so, als würde durch Designpraktiken wissentlich in die Konzepte eingegriffen werden, um sie der kapitalistischen Verwertungslogik unterzuordnen. Wie bereits erwähnt schreibt auch Tlostanova, dass “Beschwichtigungsmaßnahmen”, wie Dekolonisierungsversuche innerhalb des Designs wirkungslos seien, wenn sie in patriarchalen Räumen, wie beispielsweise akademischen Institutionen, umgesetzt werden. Hier birgt die Gefahr, dass koloniale Umfelder gegen dekoloniale Theorien “immunisiert” werden. Tlostanova schreibt hierzu:

 “This education has learned to disguise itself as a hub of critical thinking which in reality turns out to be an empty and superficial game. It has also learned to imitate a genuine interest in societal problems which in reality usually comes to a mechanical box-ticking exercise.”64

Auch das Fehlen einer klaren Definition des Designbegriffs erschwert es, Design zu kritisieren und zu hinterfragen. Durch ständig neu aufkommende Disziplinen und unklare Überschneidungen oder Abgrenzungen, wird der Designbegriff ständig neu definiert. 

Unserer Erfahrung nach wurde in keinem unserer Design-Bachelorstudiengänge dekoloniale Theorie thematisiert oder in die Lehre integriert, was die Frage aufwirft inwiefern sie  transformatives Potenzial entfalten sollen, wenn sie im Lehrplan nicht vorgesehen sind und dadurch nur erschwert Anwendung in der Praxis finden. Obwohl einige strukturelle festgeschriebene Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Aufnahmebedingungen oder Studierendenbeiträge, verändert wurden und nicht mehr so offen als diskriminierend wahrgenommen werden, haben wir trotz all dem patriarchale und hierarchische Strukturen in der Designausbildung wahrgenommen und erfahren. Aus diesem Grund haben wir uns, wie viele unserer Kommiliton*innen ebenfalls, für den Master Transformation Design beworben, der sich mit gesellschaftlichem Wandel auseinandersetzt, in der Hoffnung diskriminierenden, festgefahrenen Strukturen, sowohl im Design als auch in der Gesellschaft, entgegenwirken zu können. Weiterhin bleibt für uns allerdings die Frage offen, welche Rolle Design in der Disziplin Transformation Design spielen sollte und ob Transformation Design tatsächlich das Potenzial hat, Gesellschaft zu transformieren, wenn es lediglich als Designströmung betrachtet würde, wie in Abdullas Text beschrieben.  

64 Tlostanova, Madina:  Unlearning and Relearning Design in Design in Crisis, New Worlds, Philosophies and Practices, London: Routledge, 2020, S. 165.


Literaturverzeichnis

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Abdulla, Danah: Disciplinary Disobedience. A Border-Thinking Approach to Design in
Design Struggles, Amsterdam: Valiz Verlag, 2021, S. 229-241


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Chock, S. C.: Design Justice: towards an intersectional feminist framework for design
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Hall, S.: Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht. In: Rassismus und kulturelle Identität,
Ausgewählte Schriften 2. Hrsg. von Ulrich Mehlem u.a., Hamburg: Argument Verlag,
1994

Kiem, Matthiew: “Parse Journal. Authors.” https://parsejournal.com/authors/matthew-kiem/
o.J. (abgerufen am 15.03.2023) 

Mazé, R.: “About” http://www.ramiamaze.com  o.J. (abgerufen am 15.03.2023)

Mazé, R.:, Design Education Futures, Reflections on Feminist Modes and Politics in Design
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Verlag, 2021, S. 259-278

Neidhardt, A.: 100 Years of Bauhaus School and the Need for New Perspectives,
Ark: Arkkitehti Finnish Architectural Review, 2019, S. 8-14

Oliveira, B. & Batista, S.: Solidarity as a Principle for Antisystemic Design
Processes: Two cases of alliance with social struggles in Brazil, Toronto: OCAD
University, 2021

Schalk, M. & Kristiansson T. & Mazé, R.: Feminist Futures of Spatial Practice:
Materialisms, Activisms, Dialogues, Pedagogies, Projections, Amsterdam: Valiz
Verlag, 2017

Tlostanova, M.:  Unlearning and Relearning Design in Design in Crisis, London: Routledge,
2020, S. 163-180

Tuhiwai Smith, L.: Decolonizing Methodologies, Research and Indigenous Peoples,
London: Zed Books, 2012

Tyberg, J.: Unlearning: Von Degrowth to Decolonzation., New York: Rosa Luxemburg
Stiftung, 2020

Text von Vanessa Hoffmann & Natalia Dill
Seminar: Designtheorie- Geschichte und aktuelle Diskurse
bei Michaela Büsse

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