Tim Ingold: “Making. Anthropology, Archaeology, Art und Architecture”

„4 As“ – als Möglichkeiten, die Beziehungen zwischen Menschen und der von ihnen bewohnten Umwelt zu erforschen

Im Rahmen des Seminars Designtheorie – Geschichte und aktuelle Diskurse hat Paula Keilholz sich mit Tim Ingolds Buch “Making. Anthropology, Archaeology, Art and Architecture” auseinandergesetzt. Die „4 As“ – werden von dem Anthropologen als Möglichkeiten gesehen, die Beziehungen zwischen Menschen und der von ihnen bewohnten Umwelt zu erforschen. Ingold argumentiert in seinem Buch für den Wert des Denkens und Lernens durch Machen oder Erschaffen. Anstatt über die Welt nachzudenken und sie zu verstehen, indem man sie beschreibt und darstellt, plädiert er für den Wert des Nachdenkens über sie durch proaktive Auseinandersetzung mit ihren Bestandteilen. 

Der folgende Text ordnet Ingolds Arbeit kritisch ein und bringt sie mit Literatur des Neuen Materialismus in Zusammenhang. Dies ist von Interesse, weil sowohl Tim Ingold als auch Neu Materialistische Denker*innen das gemeinsame, zugrunde liegende Ziel haben, menschlichen Exzeptionalismus zu überwinden. 

“Making. Anthropology, Archaeology, Art und Architecture” ist 2013, bei Routledge Press, erschienen.  


Das Buch “Making. Anthropology, Archaeology, Art und Architecture” des Anthropologen Tim Ingold basiert auf seinem Universitätskurs “The 4 As”.1 Ingold beschreibt im Vorwort, wie das im Buch vermittelte Wissen gemeinsam mit den Studierenden der ersten Generationen des Kurses (2003-2004) und in Gesprächen entstanden ist.2 Ingold argumentiert in seinem Buch für den Wert des Denkens und Lernens durch Machen oder Erschaffen. Anstatt über die Welt nachzudenken und sie zu verstehen, indem man sie beschreibt und darstellt, plädiert er für den Wert des Nachdenkens über sie durch proaktive Auseinandersetzung mit ihren Bestandteilen. Er versteht Anthropologie, Archäologie, Kunst und Architektur – die „4 As“ – als Möglichkeiten, die Beziehungen zwischen Menschen und der von ihnen bewohnten Umwelt zu erforschen. Die im Buch vermittelten Erkenntnisse kritisieren indirekt sowohl konventionelle Wissensvermittlung als auch Dichotomien zwischen “Theorie” und “Praxis”. 

Institutionalisierte Wissensvermittlung ist meist wie eine Transaktion oder Übertragung zwischen Lehrenden, Pädagogen und Lernenden gestaltet. Dies bildet sich auch in Lernräumen ab, wo Lernenden sowie Lehrenden meist eine körperlich passive Rolle zugeschrieben wird. Ein Kerngedanke des Buchs ist der Zusammenhang von Bewegung und Wissen. Das Buch skizziert eine grundlegende Herangehensweise an die materielle

Welt und sucht nach einem neuen Ansatz des Verständnisses der Beziehung zwischen Bewegung, Wissen und Beschreibung im menschlichen sozialen Leben und Erleben.

Für Ingold ist theoretisches Denken eingebettet in beobachtende Praxis, d.h. Wissen ist im Kern des Seins. Theorie erwächst aus einer direkten, praktischen und beobachtenden Auseinandersetzung mit der Materie oder dem Material. 

Ingold argumentiert, dass sein Ansatz es ermögliche, disziplinäre Barrieren zu durchbrechen und somit gemeinsame Grundlagen für gegenseitigen multidisziplinären Nutzen zwischen Disziplinen wie Anthropologie, Archäologie, Kunst und Architektur zu schaffen. Die Erzählweise des Autors bewegt sich ebenfalls frei zwischen den vier Fächern.

1  vgl. Ingold, Tim: Making: Anthropology, Archaeology, Art and Architecture, Routledge, 21.03.2013: Preface and Acknowledgements.

2 vgl. Ingold, 2013: Preface and Acknowledgements.

“we know because “we” are of the world”3 –  die Positionality von Tim Ingold und Situierung der “4 As”

Tim Ingolds Arbeit ist insofern ungewöhnlich, weil sie Anthropozentrismus überwindet und Regen, Sonne zusammen mit nicht-statischen Objekten, durch ihre wechselnden Material-Zustände gekennzeichnet, in ihren theoretischen Rahmen mit aufnimmt. Das Interesse für die  Signifikanz unserer materiellen Welt für die menschliche Gesellschaft zeichnet sich bereits zu Anfang von Tim Ingolds Karriere ab. Ingolds erstes Buch und Doktorarbeit, “The Skolt Lapps today” von 1976, ist das Ergebnis von ethnographischer Feldforschung unter den Saami und den Finnen in Lappland.4 Das Buch ist geprägt von für die Saami und Finnen wichtigen Fragen, die sich unter den Gegenständen der sozialen Organisation, Umwelt und Technologie zusammenfassen lassen.5

Auf seiner Website unterteilt Ingold sein Schaffen grob in vier Phasen. Die erste Phase, die mit seiner Feldforschung in Lappland beginnt, datiert Ingold von 1970 bis 1988. In dieser Zeitspanne beschäftigte  er sich unter anderem mit Mensch-Umwelt-Beziehungen, Studien über Jäger und Sammler und widmete sich dem Einbinden von Erkenntnissen der Evolutionsbiologie in die Sozialanthropologie. Diese Ergebnisse veröffentlichte er in seinem vierten Buch “Evolution and Social Life” von 1986.6

Die zweite Phase seiner Karriere als Anthropologe war geprägt von der Auseinandersetzung mit der ökologischen Psychologie, und besonders von den Arbeiten von James J. Gibson7. Diesen Schwerpunkt in seiner Arbeit verfolgte er von 1988 bis 20028.  Angetrieben war diese Beschäftigung von dem als gescheitert beschriebenen Buchprojekt  “Evolution and Social Life”9. Ingold war auf der Suche nach entwicklungsbiologischen (Individualentwicklung der Lebewesen (Ontogenese) in der Evolutionsgeschichte) statt evolutionsbiologischen Ansätzen (Evolutionsgeschehen im Laufe der Erdgeschichte), um eine Synthese zu schaffen, die rein relational ist. Gibsons Arbeit trägt auch dazu bei, die von Ingold als problematisch wahrgenommenen Trennungen von Mensch und Nicht-Mensch sowie zwischen Natur und Kultur zu überbrücken. Diesen Themenkomplex bearbeitete Ingold in Aufsätzen, häufig für Konferenzen verfasst, die er in einem Buch “The perception of the environment: essays on livelihood, dwelling and skill”, das 2000 veröffentlicht wurde, zusammenfasste10.

3 Ingold, 2013:5. Ingold zitiert Karen Barad: Barad, 2007: 185.

4 vgl. Ingold, Timothy: Tim Ingold, in: timingold.com, o. D., https://www.timingold.com/research-statement (abgerufen am 20.02.2023).

5 vgl. Ingold, o. D.

6 vgl. Ingold, o. D.

7 vgl. Ingold, o. D.

8 vgl. Ingold, o. D.

9 vgl. Ingold, o. D.

10 vgl. Ingold, o. D.

Dieses Buch ordnet Ingold in seine dritte Schaffensperiode ein, die er von 2002 bis 2018 fasst11.  In diesem Zeitraum spielte weiterhin die ökologische Psychologie und die Arbeit von James Gibson eine Rolle, obwohl er auch dessen Ansatz wegen seiner Grenzen kritisiert12. Ein Hemmnis der Theorie sieht Ingold darin, dass Gibson zwar Wahrnehmenden eine aktive Rolle zuschreibt, aber die erfasste Welt als statisch beschrieben wird13. Eine für Ingold inspirierende Annahme Gibsons ist die Idee, dass Wahrnehmen heißt, Dingen Aufmerksamkeit zu schenken und dass Aufmerksamkeit eine Fähigkeit ist, die geschärft und entwickelt werden kann14.

Diese These ist zentral in “Making.”, sie findet sich auch im Konzept der „Correspondence“ wieder. Ein weiteres zentrales Thema dieser Arbeitsspanne sind “Linien”15. Diesem Thema begann sich Ingold kurz nach seinem Umzug 1999 von Manchester nach Aberdeen zu widmen, wo er ein neues Forschungs- und Lehrprogramm für die Anthropologie aufbauen konnte16. 1995 wurde Ingold zum Professor für “Social Anthropology” an der Universität von Aberdeen ernannt. Zuvor hatte er 25 Jahre an der University of Manchester unterrichtet. Er schreibt, dass er sich seit 2002 hauptsächlich der Schnittstelle von Anthropologie, Kunst und Architektur widmet17. Das besprochene Buch, das diese Schnittstellen zum Hauptgegenstand hat, behandelt Fragen der Herstellung, des Designs, der Materialität, Funktion und Form, Wahrnehmung und Handwerk, bis hin zu eben genannten Linien und Zeichnungen18. Die “4 A’s” werden als Essenz von praktischer und beobachtender Auseinandersetzung gesehen und werden in dem Buch mit einem Fokus auf Bildung bearbeitet. Es finden sich immer wieder Erkenntnisse aus Ingolds Auseinandersetzung mit Linien im Buch, zum Beispiel, wenn es um die Beziehung von Bewegung, Wissen und Beschreibung geht. Linien scheinen für Ingold ein fruchtbares Analysewerkzeug zu sein, weil sie immer wieder in seiner Arbeit auftauchen. Er schreibt unter anderem von der Wichtigkeit von Wegen oder Linien gegenüber Orten, oder auch vom Gehen und von der Linearität des Schreibens. Bücher zu diesem Thema sind ferner “Lines: a brief history” von 2007, “Ways of walking: ethnography and practice on foot” von 2008, gemeinsam verfasst mit Jo Vergunst und “The Life of Lines” von 201519.

11 vgl. Ingold, o. D.

12 vgl. Ingold, o. D.

13 vgl. Ingold, o. D.

14 vgl. Ingold, o. D.

15 vgl. Ingold, o. D.

16 vgl. Ingold, o. D.

17 vgl. Ingold, o. D.

18 vgl. Ingold, o. D.

19 vgl. Ingold, o. D.

Seit 2018 ist Tim Ingold offiziell im Ruhestand, er schreibt und forscht aber weiterhin. Diese Periode scheint aber weniger von einem neuen Interesse, einer neuen Thematik geprägt zu sein, als viel mehr Forschungen und Fragen weitergeführt, neu kontextualisiert oder aufgefrischt werden.

Ein Detail über Tim Ingold, das ich neben seiner akademischen Karriere nennen möchte, weil es mir als relevant für seine Arbeit und Fähigkeit der “correspondence” (Das Konzept wird in der folgenden Arbeit erläutert) scheint, ist, dass er Cello spielt20.  In seinen Büchern schildert er häufig Erfahrungen und erklärt anhand von Metaphern, in den meisten Fällen wird im Text aber nicht herausgestellt, ob der Autor die Erfahrungen selbst gemacht hat. In keinem der Bücher, die ich von Tim Ingold in den Händen hielt, gab es einen Steckbrief des Autors, was verwundert, wenn man bedenkt, wie sehr er betont, dass das, was wir wissen, mit Erleben und Erlebten zusammenhängt. Tim Ingold ist 1948 in England geboren21.

20 vgl. Valler, Matt/Matt Baker/Tim Ingold: Tim Ingold /// Animating Anthropology By War Machine, 2021, https://soundcloud.com/warmachinepodcast/tim-ingold-animating-anthropology (abgerufen am 14.02.2023).

21 vgl. Wikipedia-Autoren: Tim Ingold, 06.08.2014, https://de.wikipedia.org/wiki/Tim_Ingold (abgerufen am 20.02.2023).

Tim Ingolds Anthropologiebegriff: 

Das erste Kapitel „Knowing from the inside“ beginnt mit Ingolds Definition der Anthropologie, indem er sie von der Ethnographie unterscheidet. Ethnographie ist die Beschreibung einer ethnisch definierten Gruppe, während „Anthropology is studying with and learning from”22. Ingold beschreibt eine ethnografische Methode, “Participant observation” oder “teilnehmende Beobachtung”, als Art des “knowing from the inside”23. Erkenntnisgewinn ist für ihn eine “teilnehmende Beobachtung”, weil die Wissens-Ermittler*in in die Welt verstrickt ist und von innen etwas über sie lernt. Beispielsweise entsteht archäologisches Wissen durch praktische Auseinandersetzung mit Dingen (materiellen Kulturen), die in der Erde eingebettet sind.Ingolds Definition kritisiert die westliche Auffassung von Wissenschaft mit ihrer Trennung von Praktiker*innen und Theoretiker*innen. Seine Gedanken zur Wissenschaft erinnern an Deleuzes und Guattaris Erläuterungen von “royal science“ und „nomad science”24. „Nomad science” erlaubt Heterogenität und Entwicklung, während “royal science” konstant, dauernd und stabil ist25. Ingold illustriert Anthropologie als Disziplin, die wertvoll für die Zukunft ist, um zentrale intellektuelle, ethische und politische Fragen zu lösen26. Sein Anthropologie-Begriff zieht Konsequenzen aus der Verstrickung der Disziplin mit Krieg und Kolonialismus und begegnet Erfahrung und Wissen von Menschen überall auf der Welt, unabhängig vom sozial-ökonomischen Hintergrund, mit Offenheit, Respekt und Situiertheit27. Anthropologie kann in seinem Verständnis die großen Fragen der Menschheit adressieren28, er sieht ihre besondere Qualität in der Auseinandersetzung mit Menschen und Dingen statt mit einem fachlichen Kanon. Er beschreibt eine kritische, offene und generative Disziplin, die für ihn “philosophy with the people in”29 ist.

Die Auseinandersetzung mit Menschen und Dingen, die Kunst des Forschens, “The art of inquiry“, will Ingold in seinem Kurs zu den „4 As“, wie auch in  “Making. Anthropology, Archaeology, Art und Architecture”, vermitteln30. Die Kurse zielten darauf ab, die Beobachtungsgabe, ihr Urteilsvermögen und folgend das präzises Reagieren auf Dinge,  von Studierenden zu stärken. Ingold plädiert für  eine Forschungs-Kunst, die „weit davon entfernt ist, ihre Pläne und Vorhersagen zu beantworten”. Er beschreibt eine weitreichende Praxis, die mit dem Beobachteten träumt. “Far from answering to their plans and predictions, it joins with them in their hopes and dreams.”31. Ein zentraler Begriff für die teilnehmende Beobachtung und Ingolds Idee von Anthropologie ist “correspondence”32. Die Begrifflichkeit möchte ich nachfolgend aufgreifen und mit anderen Ideen des “mit” wie Karen Barads “Intra-Action”33 in Verbindung bringen.

Im Buch bezieht sich Ingold immer, wenn die Tätigkeit des Herstellens erwähnt wird, sowohl auf das Erlangen von Wissen als auch auf den Herstellungsprozess von Artefakten. Theoretische Fragen basieren auf Praktiken des wirklichen Lebens, Praxis und Theorie sind miteinander verwoben.

22 Ingold, 2013:3.

23 Ingold, 2013:5.

24 vgl. Deleuze, Gilles/Felix Guattari/Brian Massumi: A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia (English Edition),1987:361.

25 vgl. Deleuze et al., 1987:361.

26 vgl.Ingold, 2013:6.

27  vgl. Ingold, Tim: Anthropology: Why It Matters, 1., Polity, 28.03.2018.

28 vgl. Ingold, 2018. siehe auch  Ingold, 2013:6.

29 Ingold, 2018:4.

30 vgl. Ingold, 2013:6.

31 Ingold, 2013:7.

32 vgl.Ingold, 2013:7.

33 Barad 2007:105.

Entstehen und Werden (die Materialien des Lebens) 

Ingolds Buch widmet sich dem “thinking through making” und dem „learning by doing“. Für Ingold ist theoretisches Denken, wie bereits erwähnt, eingebettet in beobachtende Praxis, d.h. Wissen ist im Kern des Seins. Theorie erwächst aus einer direkten, praktischen und beobachtenden Auseinandersetzung mit der Materie oder dem Material. Um die “correspondence”34 von Wissens-Ermittler*in und Praktiker*in mit Materie oder Material beschreiben zu können, braucht es eine Vorstellung dessen, was die “material world”  ist und was mit ihrem Sein einhergeht.

Zentral für Ingolds Verständnis der materiellen Welt ist die Kritik am Hylemorphismus, die er auf Kritiken des Technik-Philosophen Gilbert Simondon und des Philosophen Gilles Deleuze sowie des Psychoanalytikers Félix Guattari aufbaut. 

Das Wort setzt sich aus den griechischen Wörtern hyle (Materie) und morphe (Form) zusammen35. “Whenever we read that in the making of artifacts, practitioners impose forms internal to the mind upon a material world `out there´, hylomorphism is at work.”36 Ingolds Kritik richtet sich an die Vorstellung des Machens als ein Projekt, das mit einer Idee beginnt, die ein Ziel darstellt. Die Idee und Zielsetzung plant mit benötigten Rohstoffen und beschreibt ein in-Form-bringen. Das Projekt gilt als abgeschlossen, sobald das Material in die beabsichtigte Form gebracht wurde.37 Innerhalb dieser Theorie steckt die konventionelle Vorstellung, dass der Geist dem Material eine Form aufzwingen kann. 

34 vgl.Ingold, 2013:7.

35 vgl.Ingold, 2013:20.

36 vgl.Ingold, 2013:21.

37 vgl.Ingold, 2013:20.

Dem entgegen entwickelt Ingold die Idee des Machens und Schaffens als Entwicklung und Prozesshaftigkeit38. Er betont den Prozess und sieht den statischen Zustand als zweitrangig. Er betrachtet Dinge im Hinblick auf Fluidität anstelle von Solidität. Er konstatiert das Entstehen und Werden anstelle der “fertigen Formen”. Wissens-Ermittler*in und Praktiker*in verbünden sich mit der aktiven und lebendigen Materie, die bearbeitet wird, um an ihrer Entstehung teilzuhaben. Ingold plädiert dafür, das menschliche Schaffen als „Wachstumsprozess“ zu sehen39. Die Hersteller*in ist Teil einer Welt aktiver Materialien40. Das Machen ist ein Prozess der Entsprechung: Sein Ziel ist nicht das Aufzwingen einer vorgefassten Form auf ein Material, eine passive Zutat, sondern das Hervorbringen von Möglichkeiten, die einer Welt des Werdens immanent sind. In einer phänomenhaften Weltsicht ist jedes Material im Werden, dynamisch und reich an Potential41. Ingold leiht sich die Worte von Karen Barad und zitiert, Material habe eine “already [an] ongoing historicity“42

Ingolds Idee der “correspondence”43, die sich bereits in seiner Auffassung von Anthropologie abzeichnet, wird hier deutlich, “menschliches Schaffen” ist für ihn vielmehr die Entsprechung zwischen menschlichen Gesten und Materialien.44 

38 vgl.Ingold, 2013:30.

39 vgl.Ingold, 2013:21.

40 vgl.Ingold, 2013:21.

41 vgl.Ingold, 2013:31

42 vgl.Ingold, 2013:31 / vgl. Barad, Karen: Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter, in: Signs, University of Chicago Press, Bd. 28, Nr. 3, 01.03.2003, doi:10.1086/345321. 

43 vgl.Ingold, 2013:7.

44 vgl.Ingold, 2013:31

“Interaction” und “correspondence”

Ingold sieht den Menschen eher in Korrespondenz als in Interaktion mit Materialien. Korrespondenz macht für ihn den Kern des Machens aus45. Machen ist für ihn eine Korrespondenzbeziehung zwischen Menschen, Materialien und Werkzeugen46. Er fasst die Produktion von Artefakten in einem Tanz der “animacy”, Belebtheit, zusammen47. Aufmerksamkeit und Prozess sind Schlüsselbegriffe seiner Theorie des sozialen Lebens48.

“To correspond with the world, in short, is not to describe it, or to represent it, but to answer to it. Thanks to the mediating work of transduction, it is to mix the movements of one’s own sentient awareness with the flows and currents of animate life. Such mixture, where sentience and materials twine around one another on their double thread until – like lovers´ eye-beams – they become indistinguishable, is of the essence of making.”49

Er schreibt, “mit der welt zu korrespondieren heißt nicht, sie zu beschreiben, sondern ihr zu antworten”50. Es geht ihm um einen Modus des empfindungsfähigen Gewahrseins51. Ein Austausch von Briefen wird für gewöhnlich Korrespondenz genannt52. Für Ingold zeichnet sich der Begriff einerseits dadurch aus, dass er eine Bewegung in Echtzeit beschreibt, andererseits dadurch, dass er  eine empfindsame Bewegung aufzeigt53. Er schreibt, “einen Brief zu lesen ist nicht nur über den Antwortenden, sondern mit ihr oder ihm zu lesen.”54. Außerdem hat Korrespondenz, laut Ingold, weder Anfang noch Ende55.

45 vgl. Ingold, 2013:108.

46 vgl.Ingold, 2013:100-101.

47 vgl. Ingold, 2013:101.

48 vgl. Ingold, 2013:108.

49 Ingold, 2013:108.

50 Ingold, 2013:108.

51 vgl.Ingold, 2013:108.

52 vgl.Ingold, 2013:105.

53 vgl.Ingold, 2013:105.

54  Ingold, 2013:105.

55 vgl.Ingold, 2013:105.

Der Begriff „Interaktion“, der häufig genutzt wird, um Ähnliches zu beschreiben, genügt Ingold nicht. Die Vorsilbe inter- , von “interaction” oder „Interaktion“, so Ingold, impliziere, dass die “interagierenden” Parteien in sich geschlossen seien56. Um zu verstehen, warum Ingold, In-sich-Geschlossenheit ablehnt, ziehe ich Ingolds Unterscheidung von “animacy” und „agency“ heran.

Zu Beginn von Kapitel 7 befasst sich Ingold sowohl mit antiker als auch moderner Skulptur und formuliert Kritik an der zugrunde liegenden Handlungstheorie57. Er fragt, ob nicht-menschlichen und nicht-lebendigen Entitäten “agency” zuerkannt werden sollte58. Ingold dreht diese geläufige Diskussion um und fragt, ob “agency” überhaupt jemals auf den Menschen angewendet hätte werden solle59. Er schlägt vor, viel mehr in Begriffen kombinierter Aktionen und Mischungen von Strömen und Kräften zu denken, in denen Menschen gefangen und mitgerissen werden60.

Dies illustriert er mit dem Beispiel des Fliegens eines Drachens. Die absichtliche Handlung des Drachenhalters sei nur ein Teil in einem Kräfte-Geflecht, das die Bewegungen der Luft einschließt61. Weder der Flug des Drachens noch seine Form können allein durch menschliches Handeln erklärt werden62.

56 vgl.Ingold, 2013:107.

57 vgl.Ingold, 2013:95.

58 vgl.Ingold, 2013:96.

59 vgl.Ingold, 2013:96.

60 vgl.Ingold, 2013:99.

61 vgl.Ingold, 2013:97- 100.

62 vgl.Ingold, 2013:99.

“In the dance of animacy, bodily kinaesthesia interweaves contrapuntally with the flux of materials within an encompassing, morphogenetic field of forces.”63

63 Ingold, 2013:101.

Die hohe Bedeutung, die Ingold Prozessen, Flüssen und Transformation beimisst, passt nicht zu Vorstellungen von Geschlossenheit. Für Ingold sind auch Körper Dinge, “die durch Produktion entstehen, in laufende soziale Projekte verwickelt sind und aufmerksames Engagement erfordern”64. Er fährt fort: “The living body, likewise, is only sustained thanks to continually taking in materials from its surroundings, and in turn discharging into them, in the process of respiration and metabolism. Yet as with pots, the same process that keeps it alive also renders it forever vulnerable to dissolution. That is why constant attention is necessary, and also why bodies and other things are poor containers. Left to themselves, materials can run riot. Pots crumble; bodies disintegrate. It takes effort and vigilance to hold things together, whether pots or people.65” 

Tim Ingold lehnt die Verkörperung von “agency” ab, stattdessen spricht er  von “animacy”. Für Ingold ist der Begriff “agency” fehlleitend, weil dieser die Idee des „embodiment“ trägt und der Autor vielmehr davon ausgeht, dass Dinge (auch menschliche Körper) von Handlung besetzt werden. Die “animacy”, Belebtheit, liegt bei Ingold zwischen Dingen, in ihrem Austausch, und wird nicht verkörpert. “Animacy” bedeutet nach Ingold für lebendige Körper als auch für Dinge die ständige Aufnahme und Abgabe von Stoffen (z.B. Atmung)66. Er beobachtet, dass das gleiche Prinzip, das Dinge belebt, sie auch ihrem Ende nahe bringt67. Er beschreibt, dass es ständige Aufmerksamkeit und Anstrengung erfordert, die Dinge zusammenzuhalten. Er schreibt,dass Materialien sich austoben ( zerbröckeln, auflösen..), wenn Wachsamkeit und Anstrengung nachlassen68

Einen weiteren Grund für die Ablehnung des Begriffs “interaction” sehe ich in der impliziten Richtung. Der Begriff beinhaltet einen Austausch, bei dem sich die “Dinge” gegenüber stehen, doch für Ingold geht es vielmehr um eine “gemeinsame Fortbewegung“69. Bei dieser sensitiven gemeinsamen Bewegung wird in jedem Moment die lebendige Präsenz des “Anderen” wahrgenommen und beantwortet70. Es geht um ein parallele verbindende Bewegung, die Ingold nicht durch “interaction” repräsentiert sieht, weil dem Wort eine Richtung implizit ist71.  Korrespondenz artikuliert hingegen, laut Ingold, Punkte in Bewegung, die dadurch Linien beschreiben, die sich lebendig umeinander winden.72

64 Ingold, 2013:101. siehe auch Pollard 2004: 60

65 Ingold, 2013:101.

66 vgl.Ingold, 2013:101.

67 vgl.Ingold, 2013:101.

68 vgl.Ingold, 2013:101.

69 Ingold, 2013:106.

70 Ingold, 2013:108.

71  vgl.Ingold, 2013:107.

72 vgl.Ingold, 2013:107.

Tim Ingold, Bruno Latour und Vertreter*innen des Neuen Materialismus  

Im Folgenden möchte ich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Konzepten und Ideen neu-materialistischer Denker*innen und Tim Ingolds Konzept der “animacy” sowie der “correspondence” eingehen. Dies ist von Interesse, weil ich in den Arbeiten das  gemeinsame, zugrunde liegende Ziel sehe, menschlichen Exzeptionalismus zu überwinden. Der Wunsch, hergebrachte Vorstellungen von Leben zu hinterfragen, ist keine neo-materialistische Erfindung73. Das Motiv findet sich beispielsweise auch in den Arbeiten Bruno Latours und vor allem seiner “Akteur-Netzwerk-Theorie” (kurz ANT)74. Die ANT überwindet den Dualismus von Natur und Kultur und fordert den Einbezug nicht menschlicher “agency” in das Wechselspiel von Netzwerken und Akteurskonstellationen75. Latour sehe ich neben (öko-)feministischen Arbeiten als einen der Wegbereiter aktueller neo-materialistischer Denker*innen, weswegen ich ihn mit einbeziehe. 

Eine der Grundzüge aus Kapitel 7 von Tim Ingolds “Making” ist die Kritik am Konzept der “agency”, dem Ingold seine Idee der “animacy” vorzieht. Bruno Latour vertritt dieses Konzept der “agency” in seiner “Akteur-Netzwerk-Theorie” und neu-materialistische Denker*Innen wie Karen Barad oder Jane Bennett greifen sie ebenfalls in ihren Theorien auf. In meiner Auffassung beurteilt Ingold das Konzept als verwirrend und schlicht überflüssig. Der Schritt, den Ingold nicht mit Latour, Barad und Bennett geht, ist, aus “act” “action” und in einem weiteren Schritt “agency” zu machen76. Dieser Schritt zieht nach sich, dass alles, was passiert, als  Resultat von “Agency” scheint.  Für Ingold liegt das “acting” von Dingen in ihrer bloßen Existenz und das Konzept von “agency” ist daher verkomplizierend und irreführend. Für Ingold sind Dinge, auch lebendige Dinge, “Immersed in action”77 und die vermeintliche Generativität von “agencies” liegt im Leben selbst und der Vitalität der Materialien78. Dies beschreibt er mit dem Ansatz der „Animacy“. 

73 vgl. Hoppe, Katharina/Thomas Lemke: Neue Materialismen zur Einführung, 2., unveränderte, Junius Verlag, 13.12.2021:11.

74 vgl. Hoppe/Lemke, 2021:11.

75 vgl. Hoppe/Lemke, 2021:11.

76 vgl.Ingold, 2013:96.

77 Ingold, 2013:96 siehe auch Whitehead, 2022:217.

78 vgl.Ingold, 2013:97.

Obwohl Karen Barad und Tim Ingold unterschiedliche Worte finden und Ingold das Konzept der “agency” überflüssig findet, das bei Barad eine zentrale Rolle spielt, sind sie sich in ihren Vorstellungen vom Leben einig. Mir scheinen Unterschiede in Begrifflichkeiten vor allem aus fachlichen variierenden Hintergründen (Quantenphysik und Anthropologie) und divergierenden Leser*innengruppen zu erwachsen. So schreibt Barad beispielsweise, ähnlich wie es Ingold beschreibt, dass Dinge von Lebendigkeit erfasst werden; dass eine Theorie des Lebens vonnöten ist, “that allows matter its due as an active participant of the world’s becoming”79. Auch Barad betont also Lebendigkeit und Prozess. Was Ingold mit “correspondence” beschreibt, nennt Barad “Intra-action”80. Damit grenzt sie sich von der „Interaktion“ ab, wie Ingold es auch tut, weil „Interaktion“ zwei gegenüberstehende, isolierbare Entitäten meint. “Interaktion” ist zum Beispiel in der Akteur-Netzwerk-Theorie zu finden.  “Intra-action” ist bei Barad eine diskursiv-materielle Konfiguration und meint, dass die Relata einer Beziehung, beispielsweise Subjekt und Objekt, erst in und durch Relationen in Kraft gesetzt werden81. Was Barad mit ihrem Begriff der “Intra-action” wie Ingold sieht, ist also, dass die vermeintliche “agency” nichts ist, was Dinge besitzen, sondern vielmehr etwas, was zwischen ihnen liegt. Barads Theoriekonstrukt des “Agentiellen Realismus” zielt auf eine radikal relationale Ontologie ab. Bei ihr erlangen “Phänomene” durch materiell-diskursive Praktiken und Beziehungskonstellationen erst Bestimmtheit82. Der Neologismus “Agentieller Realismus” beschreibt einerseits die über Realitäten verfügende Rolle von Materialität, andererseits verdeutlicht er ihren variablen und dynamischen Kern83. Barads Arbeit ist getrieben davon, ihr eigenes Fach, die Quantenphysik, die als schwerwiegendes Erbe das Atomzeitalter hervorgebracht hat, zu dekonstruieren. Sie zerlegt Ideen der klassischen Newtonschen Physik, wie Zeitlichkeit, die ebenfalls ihren eigenen Nachlass in Kolonialismus und dem militärisch-industriellen Komplex haben. Da ihre Motivation und ihr fachlicher Hintergrund sich so grundlegend von Ingold unterscheiden, ist ihre Theorie weitreichender und bewegt sich um andere Begriffe, wie “time” und “space”. In ihrem Interesse für die Verflechtung von “matter” und “meaning”84 sehe ich allerdings Parallelen zu Ingolds Interesse des Denkens durch Machen85.  Der Anthropologe und die Quantenphysikerin verorten beide den Kern des Wissens im Sein86. “We do not obtain knowledge by standing outside the world; we know because “we” are of the world. We are part of the world in its differential becoming”87.

79 Barad, 2003: 803.

80 Barad, 2007: 105.

81 Barad, 2007: 105f.

82 Barad, 2007: 333f.

83 vgl. Hoppe/Lemke, 2021:59.

84 Barad, 2007: 4.

85 vgl.Ingold, 2013:6.

86 vgl.Barad, 2007: 185., vgl.Ingold, 2013:6.

87 Barad, 2007: 185.

Jane Bennett und ihre Konzeptionalisierung der Lebendigkeit der Dinge sieht Ingold als problematisch. Er greift auf, dass sie selbst daran zweifelt, ihre “vital-non-humans” “agents” oder “agencies” zu nennen.88 Die Frage, die dieser Uneinigkeit zugrunde liegt, ist, wo Effekt und Ursache liegen. Bennett formuliert einerseits wie Barad eine relationale Ontologie, legt aber in ihrer Idee von Dingen nahe, dass Vitalität oder Lebendigkeit den Dingen bereits eingeschrieben sind89. Dieser Uneinigkeit, die Bennett zwar bewusst ist, die sie aber nicht aufzulösen vermag90, ist ein Angriffspunkt für Ingold zu fordern: “We need a theory not of agency but of life”91

Für Ingold verkompliziert das Konzept der „agency“ und ist somit überflüssig. Er beschreibt, dass Prozesse generativ sind und es zweitrangig ist, ob das “agency” zugeschrieben wird oder nicht. Ingold meint, der Effekt der Existenz von etwas sei das Gleiche wie zu sagen, etwas existiere. Er beschreibt Menschen als “Werden” gegenüber

der Sichtweise des Menschen als “Wesen” mit “agency” und meint, Mensch zu sein, komme mit Tun und Lassen92.  Mensch zu sein, ist also ein Verb93.  Ingold lehnt auch distribuierte Agency ab, wie sie in der ANT vorkommt. In einem Interview zieht er Parallelen zu seinem Buch über Linien94 und sagt, in der Frage zu “Agency” spiegele sich die Frage “Network” versus “Meshwork”95. Er will mit diesem Beispiel (Netzwerk vs. Geflecht) ausdrücken, dass es nicht um Punkte mit Verbindungen geht, sondern um die Linien, die sich verstricken und verwickeln, und dass sein Interesse diesem Gewirr gilt.

88 vgl.Ingold, 2013:97.

89 vgl. Hoppe/Lemke, 2021:53.

90 vgl. Hoppe/Lemke, 2021:53.

91 Ingold, 2013:97.

92 vgl. Ingold, o. D.

93 vgl. Ingold, o. D.

94 Ingold, Tim/Quirin Rieder: Eine kurze Geschichte der Linien (Ethnographien), 1. Aufl., Konstanz University Press, 01.02.2021.

95  vgl. Valler, Matt/Matt Baker/Tim Ingold: Tim Ingold /// Animating Anthropology By War Machine, 2021, https://soundcloud.com/warmachinepodcast/tim-ingold-animating-anthropology (abgerufen am 14.02.2023).

Die Relation des Machens zum Design oder “Anticipatory Foresight”

Wie bereits angeklungen, argumentiert Ingold, dass Kreativität in einem fortlaufenden, improvisierten Prozess zwischen Macher*innen, Materialien und anderen nicht-menschlichen Dingen, wie Werkzeugen und der physischen Umgebung, entsteht. Diese nicht-menschlichen Dinge spielen eine aktive Rolle in der Beeinflussung der Prozesse des Machers und umgekehrt. Das Machen von Objekten und das Lernen vollziehen sich innerhalb komplexer und wechselseitiger Beziehungen zwischen diesen Kräften. Dies legt nahe, dass neue Objekte nicht dadurch entstehen, dass Menschen

vorgefertigte Ideen auf Materialien projizieren, da dies die eigentliche Kreativität der Prozesse, in denen sowohl Dinge als auch Ideen entstehen, außer Acht lassen würde. In Kapitel 4 “On Building a House” stellt Tim Ingold die Frage: Waren mittelalterliche Kathedralen das Produkt einer vorherigen Planung96? Ingold legt überzeugend dar, dass diese Bauwerke Teil von Prozessen der Auseinandersetzung mit dem Material und der kreativen Problemlösung waren, und nicht Ergebnisse von vorgefertigten Entwürfen als solche97. Solche Gebäude waren Hunderte von Jahren im Entstehen und befinden sich immer noch im Prozess des Werdens98. Wenn Kreativität und Objekte in stetiger „Korrespondenz“ von menschlichen und nicht menschlichen Akteur*innen entstehen, wo verortet Tim Ingold dann die Rolle des Designs? Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen “making” und “design”99? Ingold zitiert den niederländischen Architekten und Theoretiker Spuybroek, der vorschlägt, dass Vorstellungsbilder für Kunst und Design aus der Gartenarbeit und dem Kochen kommen sollten100. “A great gardener or chef’, he observes,`not only sees the state of things but senses where they are going”101 Für dieses nach vorne gerichtete Erspüren hat Tim Ingold den Begriff “anticipatory foresight”, „antizipatorische Voraussicht“, geprägt. Eine Voraussicht, die nicht so sehr eine vorgefasste Idee mit einem endgültigen Objekt verbindet, sondern dazwischen liegt. Voraussehen heißt für Ingold, in die Zukunft sehen, nicht, einen zukünftigen Sachverhalt von der Gegenwart aus projizieren; Es geht darum, zu sehen, wohin etwas geht, nicht um das Erreichen eines festgelegten Endpunktes102. Diese “antizipatorische Voraussicht“ brauchen zum Beispiel Künstler*innen, um Distanz zum Prozess zu wahren, während sie in absoluter Nähe zum Material arbeiten103. Sie ermöglicht es Praktizierenden weiterzumachen104. Er schreibt:  “In this tension, between the pull of hopes and dreams and the drag of material constraint, and not in any opposition between cognitive intellection and mechanical execution, lies the relation between design and making.105 Die Rolle des Designs sieht Ingold also in “anticipating the future”106 in Parallele zur “antizipatorischen Voraussicht“, die auch Macher*innen brauchen. 

96 vgl. Ingold, 2013:56.

97 vgl. Ingold, 2013:56-59.

98 vgl. Ingold, 2013:57.

99 vgl.Ingold, 2013:70.

100 vgl. Ingold, 2013:70.

101 vgl. Spuybroek, Lars: The Sympathy of Things: Ruskin and the Ecology of Design, 01. Aufl., NAI Publishers, 29.02.2012:243. zitiert in vgl. Ingold, 2013:70

102  vgl. Ingold, 2013:69.

103 vgl. Ingold, 2013:69.

104 vgl. Ingold, 2013:69.

105 Ingold, 2013:73.

106 Ingold, 2013:71.

Kernthesen und Evaluation für Designer*innen

Ingolds Ausführungen zur Relation des Machens zum Design sind in erster Linie eine Kritik an der konventionellen Verortung von Kreativität. Designer*innen oder Anhänger*innen anderer Gestaltungsdisziplinen wie Architekt*innen (eines der 4a’s) geben sich der Illusion hin, dass die gesamte kreative Arbeit, die z.B. in die Gestaltung eines Gebäudes einfließt, sich auf den Entwurfsprozess konzentrieren würde107. Die anschließende Bauphase wird als kaum mehr als die Umsetzung mit Ziegel und Mörtel dargestellt108. Der Wert des “Denkens durch Machen” bleibt in dieser Art der Praxis weitgehend ungenutzt. 

Daraus ergibt sich vor allem eine Designkritik, die mehr Anerkennung von Macher*innen ( z.B. Handwerker*innen) als Kreative fordert und auch dem Material mehr Wirkmacht einräumt. Er kritisiert Dichotomien zwischen “Theorie und Praxis”. Für Ingold steht das “Denken durch Machen”, wie er seine Praxis nennt, dem “Machen durch Denken”, wie in herkömmlichen Design-Vorstellungen, diametral gegenüber. Eine praktische Ableitung ist die Kritik an konventioneller Wissensvermittlung. Ingold schlägt mit seiner Herangehensweise eine individuelle, proaktive und kreative Auseinandersetzung mit den Bestandteilen der Welt vor. Herstellen meint in diesem Buch auch immer das Erlangen von Wissen.

Prozesse sind für Ingold transformativ, wobei die “Korrespondenz” im Vordergrund steht und nicht versucht wird, Handlungsmacht zu verorten. Tim Ingold schlägt in seiner Arbeit vor, Objekte nicht in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, sondern sie vielmehr als Teil von Lebensprozessen und Materialflüssen sehen. Kreativität entsteht für ihn in „Korrespondenz“ von nicht-menschlichen Akteuren (z.B. Material und Werkzeug) und Macher*innen (z.B. Designer*innen und Handwerker*innen). Künstler*innen und Handwerker*innen sind für den Autor in “Anticipatory Foresight“ geübt, die es ihnen erlaubt, nach vorne gerichtet zu erspüren und damit eine vorgefasste Idee mit dem entstehenden Objekt  zu verbinden. 

Schon aus dem Titel des Buchs geht hervor, dass Ingold interdisziplinäre Zusammenarbeit sinnvoll erscheint. Er spürt Gemeinsamkeiten der 4a’s auf, die beinahe “anti-disziplinär” wirken, weil sie so lebhaft Disziplinen verbinden. 

Die Erkenntnisse von Tim Ingold scheinen mir besonders relevant, weil sie aus der Praxis erwachsen sind und deswegen auch zugänglicher als andere Arten der Theorie. Es ergeben sich sinnvolle Handlungsanweisungen für konventionelles Verständnis von Design; Dies hätte zur Folge, weniger objektzentriert zu arbeiten und mehr Materialflüsse in den Fokus zu nehmen. Die Arbeit bietet aber auch Erkenntnisse, die helfen, Ideen des “Expert-Designers” zu relativieren und Design mehr in einem ontologischen Designverständnis und auch als alltägliche, menschliche Handlung zu verstehen.

Ingolds Konzept der “animacy” scheint mir als analytisches Werkzeug sinnvoll, wenn sich auf generative Prozesse konzentriert werden soll statt, wer oder was die Agenten dieser Prozesse sind. Indem er die Idee der „agency“ ablehnt, kommuniziert der Autor eine Sichtweise auf die Welt, die sich auf generative Prozesse konzentriert. Sowohl das Konzept der “agency” als auch “animacy” können nützlich sein, um die Beziehungen zwischen Menschen und der Welt um uns herum zu verstehen und zu erklären, sie betonen jedoch unterschiedliche Aspekte. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein, dass die Begriffe  „agency“ und „animacy“ bestimmte Vorannahmen und Perspektiven implizieren, aber es letztendlich in beiden Begriffen darum geht, eine umfassende Sichtweise auf die Welt und unser Verhältnis zu ihr zu entwickeln.

107 vgl. Ingold, 2013:47.

108 vgl. Ingold, 2013:47.


Quellen:

Barad, Karen: Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter, in: Signs, University of Chicago Press, Bd. 28, Nr. 3, 01.03.2003, [online] doi:10.1086/345321, S. 801–831.

Barad, Karen (2007): Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham/London: Duke University Press. 

Deleuze, Gilles/Felix Guattari/Brian Massumi: A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia (English Edition), 1987.

(https://files.libcom.org/files/A%20Thousand%20Plateaus.pdf)

Hoppe, Katharina/Thomas Lemke: Neue Materialismen zur Einführung, 2., unveränderte, Junius Verlag, 13.12.2021.

Ingold, Tim: Making: Anthropology, Archaeology, Art and Architecture, Routledge, 21.03.2013.

Ingold, Tim: Anthropology: Why It Matters, 1., Polity, 28.03.2018.

Ingold, Timothy: Tim Ingold, in: timingold.com, o. D., [online] https://www.timingold.com/research-statement (abgerufen am 20.02.2023).

Ingold, Tim/Quirin Rieder: Eine kurze Geschichte der Linien (Ethnographien), 1. Aufl., Konstanz University Press, 01.02.2021.

 Pollard, J. 2004. The art of decay and the transformation of substance. In Substance, Memory, Display, eds. C. Renfrew, C. Gosden and E. DeMarrais. Cambridge: McDonald Institute for Archaeological Research, pp. 47–62.

Spuybroek, Lars: The Sympathy of Things: Ruskin and the Ecology of Design, 01. Aufl., NAI Publishers, 29.02.2012.

Valler, Matt/Matt Baker/Tim Ingold: Tim Ingold /// Animating Anthropology By War Machine, 2021, [online] https://soundcloud.com/warmachinepodcast/tim-ingold-animating-anthropology (abgerufen am 14.02.2023).

Whitehead, Alfred: Science and the Modern World (English Edition), 1. Aufl., Z & L Barnes Publishing, 14.08.2022.

Wikipedia-Autoren: Tim Ingold, 06.08.2014, [online] https://de.wikipedia.org/wiki/Tim_Ingold (abgerufen am 20.02.2023).

Text von Paula Keilholz
Seminar: Designtheorie- Geschichte und aktuelle Diskurse
bei Michaela Büsse

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