Objektivität und Machterhalt

von Vee Hoffmann

Einleitung

Während des Schreibens über Objektivität komme ich immer wieder zu verschiedenen Fragen zurück, die meinen Schreib- und Rechercheprozess ausbremsen und mich zum Nachdenken bringen. Ist meine Methodik wissenschaftlich genug? Ist mein Schreibstil zu persönlich? Wie nah darf ich an einem Thema dran sein, um meine Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren? 


Der weiße1 cis männliche Philosoph und Historiker Stephen Gaukroger beschreibt in seinem Buch Objektivität – Ein Problem und seine Karriere (2017) Objektivität unter anderem folgendermaßen:

“Die erste Bedeutung von Objektivität ist vielleicht die geläufigste. Sie besagt, dass ein objektives Urteil ein solches ist, das frei von Vorurteilen und Voreingenommenheiten ist. Man könnte das in der Aussage fassen, dass es sich um ein Urteil handelt, dem jede unparteiische Person zustimmen kann, unabhängig davon, was für Ansichten sie hat.”2

Doch ist es für irgendeine Person möglich, eine Situation, egal ob sie persönlich involviert ist oder nicht, unvoreingenommen und vorurteilsfrei, und somit laut Gaukroger ‘objektiv’ zu bewerten? Wer kann es sich überhaupt leisten, den eigenen Standpunkt als ‘objektiv’ zu betiteln? Welche Strukturen und Denkweisen werden hierdurch bekräftigt und wessen Perspektiven werden ausgeblendet? Mit diesen Fragen und vielen weiteren werde ich mich in dem folgenden Text auseinandersetzen. Gerne möchte ich die Antwort auf die erste Frage direkt vorwegnehmen und als Überleitung in eine Teilverortung meiner Perspektive verwenden: Ich glaube nicht, dass es möglich ist, eine Situation objektiv zu betrachten, für keinen Menschen. So ist es auch nicht möglich für mich diesen Text zu schreiben, ohne meine persönlichen Befangenheiten mit einzubringen. Deshalb werde ich dir, als Person, die diesen Text gerade liest, nun versuchen, einen kurzen Einblick in meine Perspektiven zu gewähren indem ich mich politisch und gesellschaftlich teilverorte. Ich bin eine 26 Jahre alte, nicht-binäre trans-maskuline Person. Ich bin weiß und in Deutschland in einer mittelständischen Familie groß geworden. Ich habe als erste Person in meiner Kernfamilie Abitur gemacht und einen Bachelorabschluss. Ich bin nicht von Ableismus betroffen und würde mich als politisch links verorten. Vielleicht fällt dir jetzt schon auf, warum ich eben von Teilverortung gesprochen habe: Nichts von dem, was ich dir hier mitteile, kann ansatzweise ein vollständiges Bild von mir zeichnen und somit auch niemals vollständig einordnen, welche Grundannahmen hinter meinen Aussagen stehen. Ganz abgesehen davon, dass sich auch diese mit der Zeit ständig verändern werden. Um zu unterstreichen, dass das Wissen, das ich im Rahmen dieses Textes teile, die Quellen, die ich ausgewählt habe und vor allem diejenigen, die ich nicht ausgewählt habe, untrennbar mit mir als Person und meinen Erfahrungen in dieser Gesellschaft verwoben sind, wähle ich im Schreiben die ‘ich-Form’ und spreche dich, als lesende Person, direkt an. Vielleicht fällt dir so auch das ein oder andere Mal auf, wie du als Person mit deinen Erfahrungen den Text auf eine bestimmte Art und Weise liest, dir gewisse Informationen merkst und andere nur überfliegst, mir zustimmst oder nicht und was die hier abgetippten Worte sonst in dir persönlich auslösen.

Jetzt, wo du Teile meiner Perspektiven kennst, die Einfluss auf den folgenden Text nehmen, möchte ich kurz erläutern, wie ich mit den Identitäten der Menschen umgehen möchte, auf deren intelligenten, einfühlsamen und inspirierenden Gedanken ich mich im Folgenden beziehen werde. Für die Menschen, die ich im Laufe des Textes erwähne und zitiere, verwende ich selbstverständlich die von ihnen gewählten Pronomen, darunter sind die Pronomen er und sie, sowie geschlechtsneutrale Neopronomen, wie zir und dey. Wie du im Laufe der Zeit feststellen wirst, wird es viel um Verortung und Identität gehen, darum, wessen Identität benannt wird und wessen Identität ‘unsichtbar’ bleibt. Ich schreibe diese Stelle, nachdem ich schon den gesamten Text verfasst habe und merke, wie ich in dem Versuch Identitäten gleichermaßen zu benennen (sowohl trans als auch cis, sowohl weiß als auch Black Indiginous People of Color (BIPoC), etc.) in die Falle tappe, mich gezwungen zu sehen, Identitäten zu vermuten, wenn ich sie durch Recherche nicht herausfinden konnte. Einer Person eine Identität zu geben, die ich auch nur aus meiner persönlichen Perspektive vermuten kann, die deshalb zumindest unvollständig und im schlimmsten Fall einfach falsch sein kann, widerstrebt mir. Es werden deshalb leider nicht von allen zitierten Personen die Identitäten gleichermaßen benannt. Dass dies wiederum in einer Diskrepanz zu einigen Aspekten und Aussagen im Text steht, zeigt in welchem Spannungsfeld wir uns bewegen, wenn wir versuchen Objektivitätsansprüche aufzudecken, unsichtbare Normen zu benennen und Identitäten, Lebenserfahrungen und daraus resultierende Bias transparent zu machen.

Gefühlt sind wir hiermit schon mitten im Thema, deshalb an dieser Stelle erst einmal eine Übersicht zum Aufbau des Textes:  
Ich werde damit beginnen, eine kurze Definition des Objektivitätsbegriffs wiederzugeben und diese mit der Perspektive der feministischen, weißen Forscherin und Professorin Donna Haraway ergänzen. Anschließend nehme ich mir den Zusammenhang von Objektivität, Machterhaltung und Unterdrückung vor. Ich werde die Bereiche Androzentrismus, also eine Perspektive auf die Welt, die ‘das Männliche’ als Norm voraussetzt, sowie white supremacy culture, also eine Kultur, die auf der Idee der Dominanz und ‘Vorherrschaft’ weißer Menschen beruht, genauer betrachten. Du wirst vermutlich bemerken, dass sich diese Themen nicht voneinander trennen lassen und intersektional auf  vielen Ebenen ineinander verwoben sind, sich überschneiden und verstärken. Um allerdings eine Art von Struktur in diesen Text zu bringen, habe ich mich dazu entschieden, mich auf dieses zwei Aspekte zu konzentrieren. Abschließend werde ich einen Ausblick darauf geben, was es bedeuten kann, wenn Berichterstattung einem Objektivitätsanspruch folgt und welche Fragen sich hier auftun.

1 Im folgenden Text werden die Wörter Schwarz und weiß verwendet, um zu beschreiben, wie Menschen in unserer Gesellschaft politisch markiert sind. Dabei wird Schwarz als Selbstbezeichnung von Personen afrikanischer und afro diasprischer Abstammung, Menschen mit dunkler Hautfarbe und PoC groß und weiß  bewusst klein und kursiv geschrieben, um deutlich zu machen, dass es sich hierbei nicht um phänotypische Beschreibungen handelt, sondern um das Aufzeigen eines rassistischen Systems, von dem weiße Menschen profitieren und in welchem Schwarze Menschen tagtäglich systemische Diskriminierung erfahren.

2 Vgl.: Gaukroger, Stephen, Objectivity. A Very Short Introduction. Oxford, New York: Oxford University Press, 2012, übersetzt ins Deutsche 2017.

Was ist Objektivität und wer bestimmt das?

Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) definiert Objektivität folgendermaßen: “Objektivität, die [lat.]; Sachlichkeit, Neutralität; die Fähigkeit, Menschen, Gegebenheiten, Situationen etc. – kurz: die Realität – vorurteilsfrei und unvoreingenommen einzuschätzen und zu beurteilen.” Sie beschreibt Subjektivität als “einseitig”, “voreingenommen”, “parteiisch”3 und somit als das Gegenteil von Objektivität. Die Wissenschaftspsychologische Gesellschaft beschreibt Objektivität weiterhin als “Gütekriterium”4 und dass hierdurch sichergestellt werden könne, dass ein Forschungsprozess und dessen Ergebnisse nicht in Abhängigkeit von der forschenden Person und beispielsweise deren Tagesform stehen. Doch wie kann ein Mensch sich selbst von der eigenen Tagesform entkoppeln? Welche Maßnahmen muss ich treffen, um mich von meinen Vorurteilen zu befreien und wie kann ich sicherstellen, dass mir das gelingt? Wenn Subjektivität das Gegenteil von Objektivität ist und Subjektivität ‘einseitig’ bedeutet, bin ich dann objektiv, wenn ich zwei Seiten betrachte? Oder drei? Oder alle, die es gibt? Oder nur die Seiten, die relevant sind? Und woher weiß ich, wie viele es gibt und welche relevant sind? 

3  Vgl.: https://www.bpb.de/themen/medien-journalismus/krieg-in-den-medien/500430/objektivitaet/ (abgerufen am: 15.09.2023).

4 Vgl.: https://wpgs.de/fachtexte/ergebnisinterpretation/objektivitaet-als-guetekriterium/ (abgerufen am: 15.09.2023).

What would Donna say: Objektivität nach Haraway

Donna Haraway bietet hier in ihrem Paper Situated Knowledges The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective (1988)5 eine alternative Perspektive auf diese dualistische Definition von Objektivität und Subjektivität, die mir an dieser Stelle neue Denkweisen aufgezeigt hat und in welcher sich einige der eben aufgelisteten Fragen von vorneherein gar nicht erst stellen. Haraway bringt direkt zu Beginn an, dass die Verwendung des Begriffs der ‘Objektivität’ so wie er von Wissenschaftler*innen und Philosoph*innen definiert wird, die patriarchale und typisch männliche Sichtweisen vertreten, Feminist*innen in einem Dualismus einsperrt, der so nicht angenommen werden muss.6 Sie plädiert dafür weiterzugehen, als lediglich die ‘guten wissenschaftlichen’ und die ‘schlechten, voreingenommenen’ Standpunkte voneinander zu trennen und beschreibt Dualismen wie  ‘use vs. misuse’, ‘bias vs. objectivity’, ‘science vs. pseudoscience’ als eine verkürzte Darstellung. Bereits hier bemerke ich, dass es in meiner weiteren Recherche eine klare Aufteilung von Objektivität und Subjektivität zu hinterfragen gilt, da diese Herangehensweisen anscheinend gar nicht so leicht voneinander trennbar sind. Stattdessen ruft Haraway Feminist*innen dazu auf, eine eigene Definition für den Objektivitätsbegriff zu suchen, die über diese dualistische Denkweise hinausgeht und mehr Raum lässt für unterschiedlich verortete Körper, für Kritik an Hegemonien, für Diskrepanzen zwischen kulturell und gesellschaftlich geprägtem Wissen sowie Wissenschaftlichkeiten und Wege für Mediation und Austausch.7 

In diesem Zusammenhang zitiert sie außerdem die ebenfalls weiße US-amerikanische Philosophin und feministische Wissenschaftskritikerin Sandra Harding. Harding betont, lokales Wissen sei radikal vielfältig und Differenzen können nicht weg reduziert oder wegrationalisiert werden.8 Eine einfache Aufteilung in ‘subjektiv’ und ‘objektiv’ greife gerade dann zu kurz, wenn es darum geht, unterschiedliche Perspektiven, Sozialisierungen und Arten der Wissensgenerierung zu berücksichtigen. Feministische Theorie dürfe, laut Harding, nicht den Blick für Mediation und Vermittlung verlieren. Sie plädiert dafür, das weltweite Netzwerk aus Wissensbeständen zu berücksichtigen, welche eng miteinander verknüpft sind und teilweise ineinander übersetzt werden können.9 

5 Vgl.: Haraway, Donna: Situated Knowledges The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, Feminist Studies, Band 14, Nr. 3, 1988, S. 575-599.

6 Vgl. ebd., S. 576.

7 Vgl. ebd., S. 578.

8 Vgl. ebd., S. 579.

9 Vgl. ebd., S. 580.

Haraway bringt weiterhin die Komponente der Körperlichkeit ein, um dem binären Denken in Gegenteilen entgegenzuwirken. Körperlichkeit verstehe ich in diesem Kontext als Körper und die Gedanken, Ideen und Visionen, die an diese Körper geknüpft sind und diesen entspringen, die niemals ohne Kontext existieren, die zwangsläufig immer irgendwo verortet sind und auf unterschiedliche Weise im Verhältnis zu ihrem Umfeld stehen. Um diesen Aspekt deutlich zu machen, werde ich an ein persönliches Beispiel anbringen: Mir als weißer Person wird tendenziell in professionellen Kontexten mehr Glauben geschenkt als einer PoC (Person of Color), gleichzeitig kann es sein, dass mein trans sein und die Tatsache, dass ich nicht in ein binäres Geschlechtersystem eingeordnet werden kann, dafür sorgt, dass ich weniger ernst genommen werde, als eine cis geschlechtliche Person und dass meine Geschlechtsidentität andere meiner Kompetenzen überschattet. Mein Körper ist also auf verschiedene Arten ‘markiert’, wie Haraway das ausdrückt, und diese Markierungen wiegen in verschiedenen Kontexten unterschiedlich viel. Haraway ergänzt hierzu, dass das Berücksichtigen von Körperlichkeiten dabei helfen kann, den gaze from nowhere10 zu vermeiden, der den Anspruch erhebt, markierte Körper von außen beschreiben und bewerten zu können. Sie plädiert weiterhin dafür, dass wir lernen müssen, unsere Perspektive an unsere eigene Situiertheit in mentalen und physischen Räumen zu knüpfen.11 Das folgende Zitat fasst Haraways Standpunkt zur Definition von Objektivität meiner Meinung nach sehr gut zusammen. Donna Haraway schreibt: “Feminist objectivity is about limited location and situated knowledge, not about transcendence and splitting of subject and object”12. Durch das Konzept von Situated Knowledges wird also nicht lediglich eine männliche Perspektive durch eine weibliche Perspektive ergänzt oder ersetzt. Das wäre aus dem Grund unvollständig, weil es jegliche geschlechtliche Diversität, als auch andere intersektionale Aspekte, wie den Einfluss einer Behinderung oder Rassismuserfahrung auf Perspektiven und Wahrnehmung nicht berücksichtigt würde. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass das Konzept von Objektivität an sich neu gedacht wird.

In den vergangenen Abschnitten haben wir uns näher mit dem Begriff der Objektivität selbst beschäftigt und die Definition der Bundeszentrale für politische Bildung und der Wissenschaftspsychologischen Gesellschaft, um einige neue feministische Aspekte ergänzt. Nun möchte ich gerne einmal herausfinden, wie der von Haraway beschriebene gaze from nowhere Machtstrukturen innerhalb von androzentristisch geprägten und von white supremacy (weiße Vorherrschaft) durchzogenen Gesellschaften wirkt, wer von diesem Blickwinkel profitiert und wessen Wissensbestände und Perspektiven infolgedessen unsichtbar gemacht werden.

10  engl.: der Blick von nirgendwo.

11  Vgl. ebd., S. 582f. 

12  Vgl. ebd., S. 583 engl.: Bei der feministischen Objektivität geht es um eine begrenzte Verortung und ein situiertes Wissen, nicht um Transzendenz und die Aufspaltung von Subjekt und Objekt.

Made by men for whom? Objektivität und Androzentrismus

Während ich versuche mich der Frage nach einem Objektivitätsanspruch als Machterhaltungsstrategie im Patriarchat anzunähern, bin ich auf das Konzept des ‘Androzentrismus’ gestoßen. Das Referat Genderforschung der Universität Wien beschreibt Androzentrismus folgendermaßen: 

“Androzentrismus bezeichnet eine Perspektive auf die Welt, das Männliche [wird] als stillschweigende Norm gesetzt und die Frau als Abweichung dieser Norm gesehen. Gleichzeitig wird die männliche Perspektive als neutral und universal verstanden, die weibliche als Sonderfall.”13

Das Genderglossar der Universität Bielefeld ergänzt: “Mit der Normsetzung des Mannes geht die Universalsetzung der männlichen Perspektive als neutral einher; der Mensch ist eigentlich der Mann.”14 An dieser Stelle möchte ich außerdem gerne ergänzen, dass diese Definition sehr kurz greift, was intersektionale Aspekte angeht. Da weder trans Männer noch Schwarze und nicht-weiße Männer als Gruppen dieser Norm entsprechen, genauso wie behinderte oder Männer mit geringen finanziellen Ressourcen. Ich werde im weiteren Text von weißen, nicht-behinderten cis-Männern sprechen, um an diese intersektionale Komponente zu erinnern, bin mir aber dessen bewusst, dass noch viele weitere Faktoren existieren, die auch in dieser Bezeichnung unsichtbar bleiben. Ich finde es wichtig, sich dessen bewusst zu sein, dass wenn von Normsetzung die Rede ist, eigentlich tatsächlich nur eine relativ kleine Gruppe gemeint sein kann, die als Maßstab für das Leben sehr vieler unterschiedlicher Menschen gilt. 

In beiden Definitionsversuchen werden die Worte ‘Norm’, ‘neutral’ und ‘universal’ verwendet, die wir bereits aus der Definition von Objektivität der Bundeszentrale für politische Bildung kennen. Und so gerne ich einfach Donna Haraways Art Objektivität zu betrachten übernehmen würde, so glaube ich auch, dass es an dieser Stelle hilfreich sein kann, einmal von dem aktuell weiter verbreiteten Verständnis von Objektivität auszugehen. Aus diesem Grund werde ich für den nächsten Abschnitt vor allem die Definition der bpb als Referenzpunkt verwenden. 

An der Kombination und den vorhandenen inhaltlichen Überschneidungen der Definitionen von Androzentrismus und Objektivität interessiert mich besonders, dass anscheinend in androzentristisch geprägten Gesellschaften die Tendenz besteht ‘männliche’ Perspektiven und Verhaltensweisen als neutral und universell, also objektiv zu bewerten. Und im Umkehrschluss: alle anderen Perspektiven eher (je nach Kontext) als subjektiv und voreingenommen zu verstehen. Hierbei drängt sich für mich nun die Frage auf, was dann mit Objektivität bzw. Neutralität gemeint ist, wenn diese in der Wissenschaft, der Berichterstattung, der Philosophie und vielen weiteren Disziplinen als Maßstab für eben Wissenschaftlichkeit, Glaubwürdigkeit oder Wahrheit verwendet wird. Bedeutet das, wenn ich bei der Bewertung meiner Hausarbeit das Feedback bekomme, dass sie nicht ‘objektiv’ genug sei, meine Perspektive nicht nah genug an der weißen, nicht-behinderten cis-männlichen Perspektive ist? Wenn ich das so formuliere, klingt es für mich fast nach einer erstrebenswerten Art Texte zu verfassen.

13  Vgl. https://genderplanet.univie.ac.at/begriffsuniversum/androzentrismus.html (abgerufen am: 15.09.2023).

14  Vgl. https://www.uni-bielefeld.de/fakultaeten/sportwissenschaft/studium-und-lehre/gender-in-der-lehre/glossar/#:~:text=Der%20Androzentrismus%20beschreibt%20eine%20Sicht,als%20Nicht%2D%E2%80%8BM%C3%A4nner%20konzipiert. (abgerufen am: 15.09.2023).

Die zu Beginn des Textes bereits zitierte weiße US-amerikanische Philosophin und feministische Wissenschaftskritikerin Sandra Harding beschreibt in ihrem Buch The Science Question in Feminism (1986), wie die Entscheidung und Auswahl der Problematiken und Phänomene der Welt, die als ‘erforschenswert’ gelten, darauf gemünzt sind, welche Problematiken und Phänomene Männer15 als ‘erforschenswert’ einstufen und was sie aus ihrer Perspektive interessiert, verwundert oder irritiert. Interessant ist hierbei, dass diese ‘männliche’ Perspektive aber weitestgehend unsichtbar bleibt und dadurch angenommen wird, dass Problematiken von Männern auch für andere Geschlechter relevant sein müssen. Dies führe zwangsläufig dazu, dass viele Dinge, die Frauen problematisch finden, nicht berücksichtigt werden oder in eine direkte Abhängigkeit mit ihrem Frausein gebracht werden, während dies bei Männern nicht der Fall ist.16 Reubs J. Walsh, eine nicht-binäre weiße trans Person, publiziert und forscht unter anderem zu biologischen und psychobiologischen  Prozessen in Bezug auf sex und gender. Walsh problematisiert in der Publikation Feminism & Psychology (2015) in Kapitel 6 “‘Objectivity’ and intersectionality: How intersectional feminism could utilise identity and experience as a dialectical weapon of liberation within academia” die Überbetonung von marginalisierten Identitäten in wissenschaftlichen Kontexten, wodurch ihre Befangenheit herausgestellt wird, während die gesellschaftliche weiße cis-männliche nicht-behinderte Norm unbenannt und somit unmarkiert bleibt. Befangenheit in Walsh’ Sinne interpretiere ich, als Betroffenheit von einem bestimmten Thema beziehungsweise einer Lebensrealität, die meist nur betont wird, wenn sie nicht der weißen cis-männlichen nicht-behinderten Norm entspricht. Dey bricht mit diesem Muster und bezieht sich in deren Kapitel auf Befangenheit, die durch Privilegien entsteht und wie diese Befangenheit im wissenschaftlichen Arbeiten selten in Bezug zu den entsprechenden Privilegien gesetzt wird.17 Walsh geht noch einen Schritt weiter und betont, dass es sogar verlässlicher sein kann, denjenigen Glauben zu schenken und deren Perspektiven miteinzubeziehen, die ihr Leben lang gezwungen waren, jeden Aspekt ihrer Identität und Perspektive zu hinterfragen, weil sie eben nicht dieser privilegierten, weißen, cis-männlichen nicht-behinderten Norm entsprachen und somit tendenziell bewusster mit dem umgehen, was sie als ‘normal’ voraussetzen. In deren Buch zitiert Walsh ebenfalls Sandra Harding. Harding beschreibt die ‘privilegierte’ Perspektive als problematisch, da sie die Möglichkeit bietet, die eigenen Wissensstandards und Glaubenssätze als wünschenswert für alle rationalen Wesen vorauszusetzen. Eine Möglichkeit, die marginalisierten Gruppen nicht offen steht.18 Walsh beschreibt, dass wir, um Objektivität zu erlangen, unser Wissen kontextualisieren und daran arbeiten müssen, Befangenheiten abzubauen. Dey versucht also nicht, wie Donna Haraway, den Begriff der Objektivität als solchen von Grund auf neu zu denken, sondern plädiert für Verortung und eine Auflösung der Illusion des gaze from nowhere. Weiterhin betont dey, dass aus dem Existieren in einer Diskrepanz mit der gesellschaftlichen Norm eine tiefe Analyse und Reflexion dieser Erfahrung resultiere, was in sich eine eigene Art der Wissensgewinnung aus marginalisierter Perspektive sei.19 Anhand des folgenden Zitats der Schwarzen lesbischen Feministin, Mutter, Civil Rights Aktivistin und Schriftstellerin Audre Lorde

“For the master’s tools will never dismantle the master’s house. They may allow us temporarily to beat him at his own game, but they will never enable us to bring about genuine change.”20

macht Walsh deutlich, dass sich aus dieser Art der Wissensgewinnung aus marginalisierter Perspektive die Möglichkeit ergibt, die master’s tools (nach Walshs Interpretation, die vorgefertigte Definition von Objektivität aus weißer cis-männlicher nicht-behinderter Perspektive) neu zu denken. Lorde erklärt, dass das Hinterfragen, der master’s tools und das Reflektieren der eigenen Diskrepanzen zur ‘Norm’ als Stärke überlebenswichtig sei. 

Lordes Zitat unterstützt auch die Aussage Donna Haraways, dass es nicht dienlich für Feminist*innen und Angehörige marginalisierter Gruppen sei, den Objektivitätsbegriff, wie er von weißen, nicht-behinderten cis-männlichen Wissenschaftlern geprägt wurde, zu übernehmen, da es so nie zu einem grundlegenden Aufbrechen des Denkens entlang einer cis-männlichen weißen nicht-behinderten Norm, kommen kann. 

Walsh argumentiert, dass durch das Kontextualisieren und Einordnen von Wissen und das Reflektieren aus welchen Perspektiven dieses generiert wurde, das ‘Persönliche’ und das ‘Professionelle’ verschmilzt und nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden kann, beziehungsweise sich nicht mehr gegenseitig ausschließen oder das eine das andere entkräften kann.  Ganz im Gegenteil plädiert dey dafür, dass in der Praxis das Persönliche das Professionelle validiert.21 Weiterhin betont Walsh den Aspekt der Intersektionalität und macht hiermit auch die Begrenztheit deren eigenen Perspektive deutlich. Dey schreibt, dass wir nicht erwarten können, dass andere ihre Perspektive erweitern, um hetero-cis-Sexismus zu hinterfragen, wenn wir nicht auch bereit sind als Feminist*innen von Rassismus und Klassismus betroffene Menschen, Sex-Arbeiter*innen, Überlebende von sexualisierter Gewalt, sowie die Familienverhältnisse, Geschlechtsidentität, Sexualität, eurozentristische Schönheitsstandards, sichtbare und unsichtbare, physische und psychische Behinderungen mitzudenken. Walsh zieht hier ein Fazit: Wenn akademische Räume nicht in der Lage seien, gesellschaftliche normierte Annahmen zu hinterfragen und Menschen mit Marginalisierungserfahrung einzubeziehen, können sie sich nicht als ‘objektiv’ bezeichnen, sondern sind ebenso befangen durch Leitbilder, die fälschlicherweise als ‘Normalität’ interpretiert werden. Dey betont weiterhin, dass ein Feminismus, der sich lediglich darauf bezieht, eine Form der Diskriminierung zu bekämpfen, sich durch dieses Auslassen nicht ‘neutral’ zu anderen Diskriminierungsformen verhält, sondern, an den master’s tools festhält, die letztendlich Feminismus zu sehr vereinfachen und schwächen.22

15 Harding verwendet ebenfalls eine sehr vereinfachte, binäre und cis-normative Aufteilung und Definition von Männern und Frauen. Da ich an dieser Stelle sehr nah an ihren Worten arbeite, möchte ich ihr keine neuen Definitionen in den Mund legen, trotzdem aber in dieser Fußnote auf die verkürzte Darstellung von Geschlechterdiversität aufmerksam machen.

16 Vgl. Harding, Sandra: “The Science Question in Feminism”, Cornell Univeristy Press, 1986, S. 22.

17 Vgl. Walsh, Reubs J.  “Feminism & Psychology”, Feminism & Psychology, Band 25, Kapitel 6, 2015 S. 62 ff.

18 Vgl. Walsh, Reubs J.  “Feminism & Psychology”, Feminism & Psychology, Band 25, Kapitel 6, 2015 ebd., S. 63.

19 Vgl. ebd., S. 63.

20 Vgl. Lorde, Audre, Sister outsider: Essays and speeches. Freedom, California: Crossing Press, 1984 ebd., S. 111–112.

21 Vgl. Walsh, Reubs J. “Feminism & Psychology”, Feminism & Psychology, Band 25, Kapitel 6, 2015 S. 65.

22  Vgl. ebd., S. 65.

Die weiße butch Lesbian, Autor*in und trans Aktivist*in Leslie Feinberg, äußert sich in zis Buch Trans Liberation: Beyond Pink and Blue (1998) ebenfalls zur Verallgemeinerung von Lebenserfahrungen. Und ruft dazu auf, sich im Kontext von wissenschaftlicher Theorie, als generalisierte Lebenserfahrung, die Frage zu stellen, wessen Erfahrung einer Theorie zugrunde liegt und aus welcher Perspektive diese gewachsen ist. Zir bringt außerdem den Aspekt von Macht durch Besitz im Kapitalismus ein und schreibt, dass die dominierenden Theorien in Gesellschaften die wirtschaftlichen Interessen derjenigen widerspiegeln, die diese Gesellschaft dominieren (tendenziell: vermögende, weiße, nicht-behinderte cis-Männer). Feinberg zieht diejenigen, die Lehrpläne, öffentliche Berichterstattung, Presse und Medien beeinflussen, in die direkte Verantwortung, den Status quo zu hinterfragen, dessen Nutzen zir einzig und allein darin sieht, die Stimmen, die für Veränderung laut werden, verstummen zu lassen. Feinberg appelliert an diejenigen, in einflussreichen Positionen sich selbst zu fragen: “Auf welcher Seite möchte ich stehen?”23 Zir bezieht sich weiterhin darauf, wie Geschichtserzählung ebenfalls von der Perspektive der erzählenden Person abhängt und immer entweder von dem ‘hunter’ oder ‘the hunted’24 berichtet wird. Zir schreibt, dass das Bild von Historiker*innen, die ‘hinter einem Zaun sitzen’ und über Geschehnisse objektiv berichten, nicht existiere.25 Geschichte sei immer eine Aneinanderreihung von Kämpfen, in denen die beschriebenen Zäune eher Barrikaden sind und Barrikaden in Kämpfen seien kein guter Ort um zu sitzen und den Kampf zu beobachten. Dementsprechend ruft Feinberg auch Historiker*innen dazu auf, sich zu positionieren und zu hinterfragen, auf welcher Seite sie stehen möchten und betont, wie Walsh zuvor, die Notwendigkeit der persönlichen Verortung und das Auflösen der Illusion des gaze from nowhere.

An einigen wenigen Stellen habe ich bisher den Versuch gewagt, auch intersektionale Aspekte und Kritiken zumindest zu erwähnen. Wie Walsh bereits schrieb, wird eine feministische Perspektive, die die intersektionale Verwebung von Diskriminierungsformen nicht berücksichtigt, durch diese Auslassungen geschwächt. Es ist mir leider nicht möglich in derselben Ausführlichkeit auf alle Aspekte, Nuancen und unendlichen Kombinationen von Marginalisierung einzugehen, trotzdem möchte ich an dieser Stelle nochmal näher den Einfluss von Objektivitätsanspruch auf Gesellschaften, die durch white supremacy26 geprägt sind, beleuchten. Da ich als weiße Person nicht von Rassismus betroffen bin und von white supremacy profitiere, werde ich mich im folgenden Abschnitt auf Wissensbestände und Erfahrungen beziehen, die mir, teilweise kostenlos und mit einem enormen Energieaufwand vonseiten derer, die von Rassismus betroffen sind, zur Verfügung gestellt werden. Ich kann diese Wissensbestände an dieser Stelle nutzen, um meine Hausarbeit zu schreiben und in meinem akademischen Werdegang als weiße Person, in einem System, das vielen von Rassismus betroffenen Menschen verschlossen bleibt, nutzen. Meine Hoffnung an dieser Stelle ist, dass wir durch das Bezug-nehmen aufeinander, durch das Zusammendenken unserer Kämpfe, als von Rassismus, Sexismus, Klassismus, Ableismus und all diesen unterschiedlichen -ismen betroffenen Personen auf eine inklusivere, tolerantere und empathischere  Gesellschaft hinarbeiten können. Ich möchte besonders alle Menschen in privilegierten Positionen und vor allem mich selbst daran erinnern, Machtverhältnisse, von denen ich profitiere, zu hinterfragen und werde nach allen meinen Fähigkeiten besonders sorgsam mit Sichtbarkeit der Menschen umgehen, auf die ich mich beziehe und die zur Verfügung gestellten Wissensbestände dankbar und wertschätzend in meine Arbeit integrieren. 

23 Vgl. Feinberg, Leslie, Trans Liberation: Beyond Pink and Blue, Beacon Press Boston, 1998, S. 115.

24 Vgl. ebd., S. 119.

25 Vgl. ebd., S. 119.

26  Da ich keine zufriedenstellende Übersetzung aus dem Englischen für das Konzept white supremacy finden konnte, werde ich den englischen Begriff wieBegriff, wie einen Eigennamen für das Konzept verwenden. Ebenso verhält es sich für mich für das Konzept white supremacy culture, da es sich hier nach meinem Gefühl auch um ein eigenes Konzept handelt, welches so nicht wortwörtlich übersetzt werden kann, ohne dass sich die Bedeutung oder Konnotation ändern würde.
 

White supremacy culture: Wie weiß ist Objektivität? 

Die weiße Schriftstellerin, Künstlerin, Lehrperson und Aktivistin Dr. Tema Okun beschreibt und erforscht gemeinsam mit vielen anderen Kurator*innen, wie sich das Konzept einer white supremacy culture, also einer Kultur, die auf der Idee der Dominanz und ‘Vorherrschaft’ weißer Menschen beruht, in Arbeitskontexten und Institutionen äußert und von welchen verschiedenen Charakteristika diese geprägt ist.27
Die Schwarze Schriftstellerin, Dichterin und Aktivistin Alice Malsenior Tallulah-Kate Walker beschreibt white supremacy culture folgendermaßen:

“[…] I use the term white supremacy, I am referring to the ways in which these ruling class elite or the power elite in the colonies of what was to become the United States used the pseudo-scientific concept of race to create whiteness and a hierarchy of racialized value […].”28

Heute wird white supremacy culture weiter reproduziert, mit dem Ziel, Black Indigenous People of Color (BIPoC) und weiße Menschen in zwei Kategorien aufzuteilen, BIPoC voneinander zu trennen, weiße Menschen von weißen Menschen zu spalten, alle Menschen von der Erde und der Natur zu distanzieren und Menschen von sich selbst zu entfremden, wie die weiße Dyke Lesbian Kari Point beschreibt.29 White supremacy culture schadet also allen Lebewesen, sowie der Erde, die diese bewohnen. Auf der sehr umfangreichen Seite www.whitesupremacyculture.info sind unfassbar viele Charakteristika, sowie Glaubenssätze, die sich in white supremacy culture wiederfinden und diese prägen, beschrieben. 

Ich möchte an dieser Stelle den Glaubenssatz one right way30 betrachten, da hier das Konzept von Objektivität eine wichtige Rolle spielt, ich kann aber nur empfehlen auch die anderen Charakteristika durchzulesen und damit zu beginnen zu hinterfragen, welche Strukturen und Kontexte des eigenen Lebens von diesen durchzogen und geprägt werden. 

Dieser Glaubenssatz, dass es ‘einen einzigen richtigen Weg’ gäbe, etwas zu tun, zu glauben oder zu sein, umfasst verschiedene Unterkategorien, wie Paternalismus, Perfektionismus, Objektivität und den  Glauben an eine bestimmte Art der Qualifikation. Paternalismus beispielsweise beschreibt die Annahme, dass diejenigen in Machtpositionen in der Lage wären und den Anspruch erheben könnten, Standards zu setzen und einen einzigen richtigen Weg für alle zu definieren, sowie Entscheidungen treffen zu können, die im Interesse derjenigen liegen, die sich nicht in Machtpositionen befinden. Ein Thema, auf welches wir schon mehrfach im Laufe dieses Textes zurückgekommen sind: Menschen, die privilegierten Gruppen angehören, die bewusst oder unbewusst eine Norm definieren, die sie als ‘gut’ für alle Menschen empfinden und nach welcher sich dementsprechend alle Menschen richten müssen. Objektivität wird im Kontext der white supremacy culture durch verschiedene Punkte beschrieben, die ich an dieser Stelle gerne einmal zusammenfassen möchte. Hierzu zählen der Glaube daran, dass es überhaupt möglich ist ‘objektiv’ oder ‘neutral’ zu irgendetwas zu stehen, sowie die Annahme, Emotionen und Gefühle seien inhärent destruktiv und irrational und sollten keine Rolle in Entscheidungsprozessen spielen. Auch das Hochhalten und Aufwerten von Rationalität und das Abwerten von Emotionalität, auch wenn sogenannte ‘Rationalität’ oftmals, wenn nicht immer, Emotionalität in ‘Logik’ und anspruchsvoller Sprache verpackt ist, zählen zu Merkmalen und Glaubenssätzen, die einen Objektivitätsanspruch prägen. In diesem Zusammenhang wird außerdem linearen Denkweisen mehr Wert zugesprochen, während alle anderen Arten zu denken herab gewertet werden. Hinzu kommt ein Unbehagen mit Denkweisen, die nicht ‘logisch’ oder ‘rational’ zu sein scheinen und die existierenden Machtstrukturen nicht unterstützen. Denjenigen in Machtpositionen ist es erlaubt, wütend, unlogisch und irrational zu sein, während diejenigen, die marginalisierten Gruppen angehören, sich stets logisch und rational äußern sollen. Auch hier überschneiden sich die Worte der Kurator*innen der Seite www.whitesupremacyculture.info mit denen der bereits zitierten Autor*innen. Die Reaktionen derjenigen, die Machtmonopole in unserer Gesellschaft halten, stehen niemals in Abhängigkeit zu ihrer gesellschaftlichen Position, weshalb ihre Reaktion stets als angemessen und gerechtfertigt wahrgenommen wird, während die Reaktion von Menschen in Marginalisierung oftmals als irrational, emotional, übertrieben und subjektiv abgetan wird. Weiterhin wird Objektivität in einer white supremacy culture dadurch geprägt, dass diejenigen in Machtpositionen sich weigern anzuerkennen, dass ‘logisches’ Denken und das ‘rationale’ Treffen von Entscheidungen, oftmals ein Vorwand sind, um von persönlicher Befangenheit und individuellen Interessen abzulenken, mit dem Ziel, Macht zu erhalten, das eigene Gesicht zu wahren oder in der eigenen Komfortzone zu bleiben. Schlussendlich zählt hierzu auch das Verweigern anzuerkennen, dass Objektivität genutzt wird, um Macht und den Status quo aufrechtzuerhalten.31 Wie bei Walsh wird auch hier nochmal auf den Aspekt der Intersektionalität hingewiesen und dass sich diese Charakteristika  ebenso in anderen Unterdrückungsformen, wie Klassismus und Gender-basierter Diskriminierung wiederfinden. Der weiße trans Mann, Aktivist und Journalist Lewis Raven Wallace schreibt “White supremacy culture requires that we cut ourselves off from our emotions in order to participate, so emotional intelligence is anathema to white supremacy culture.”32 Wallace beschreibt, dass marginalisierte Gruppen, wie People of Color (PoC), trans Menschen oder trans Menschen of Color bei Debatten, in denen es um ihre Existenz geht, also beispielsweise, ob es in Ordnung ist, dass sie sich in öffentlichen Räumen bewegen und sicher fühlen können, niemals einen ‘neutralen’ Standpunkt einnehmen werden oder können. Wie sollten sie? Es geht schließlich um ihre Existenz. Wallace weist außerdem darauf hin, dass der Standpunkt, der als ‘Mitte’ und als ‘ausgeglichen’ wahrgenommen wird, verschiebbar ist und eher als Taktik begriffen werden kann, um eine breite Masse an Menschen zu erreichen. Ich nehme diesen Punkt zum Beispiel besonders in Debatten rund um Rechtsextremismus und generell politisch rechte Positionen in Deutschland wahr. Mir fällt immer häufiger auf, dass viele Aussagen, die über trans Menschen, über Klima-Aktivist*innen, über fliehende Menschen oder migrantisierte Menschen in Talkshows oder von Politiker*innen getroffen werden, in dieser Schärfe und Abwertung, vor einigen Jahren und Jahrzehnten in der Öffentlichkeit und in den Medien noch stärker verurteilt worden wären. Debattenkultur scheint immer rechter zu werden, während sich die von der Dominanzgesellschaft wahrgenommene sogenannte ‘Mitte’ einfach mitbewegt und weiter nach rechts verschiebt. Wallace bringt weiterhin an, dass auch die Frage danach, was in den Nachrichten wie viel Raum einnimmt und über welche Themen berichtet, aber vor allem über welche nicht berichtet wird, ebenfalls eine subjektive Entscheidung aus einer bestimmten Perspektive heraus ist und schließt mit den Worten: “[…] facts are real, but so are priorities and perspective.”33

27  Vgl. https://www.whitesupremacyculture.info/what-is-it.html (abgerufen am 15.09.2023).

28 Vgl. https://www.whitesupremacyculture.info/what-is-it.html Walker, Alice Malsenior Tallulah-Kate Abs.: WHITE SUPREMACY IS A PROJECT OF CONDITIONING, (abgerufen am 28.07.2023).

29 Vgl.  https://www.whitesupremacyculture.info/what-is-it.html Pont, Kari, WHITE SUPREMACY CULTURE COMES AFTER ALL OF US, (abgerufen am 28.07.2023).

30 Vgl.  https://www.whitesupremacyculture.info/one-right-way.html (abgerufen am 15.09.2023).

31 Vgl. https://www.whitesupremacyculture.info/one-right-way.html Abs.: objectivity (abgerufen am 15.09.2023).

32 Vgl.  https://medium.com/@lewispants/objectivity-is-dead-and-im-okay-with-it-7fd2b4b5c58f (abgerufen am 15.09.2023) Wallace, Lewis Raven, Objectivity is dead and I’m OK with it, medium.com, 2017.

33 Vgl.  https://medium.com/@lewispants/objectivity-is-dead-and-im-okay-with-it-7fd2b4b5c58f (abgerufen am 15.09.2023) Wallace, Lewis Raven, Objectivity is dead and I’m OK with it, medium.com, 2017.

Zusätzlich zu den Charakteristika von Objektivität innerhalb der white supremacy culture, bietet die Seite www.whitesupremacyculture.org sogenannte ‘Antidotes’, also Vorschläge, wie Handlungen und Glaubenssätze angepasst werden können, um die spaltenden und machterhaltenden Charakteristika der Kategorie one right way und objectivity aufzuweichen.34 An dieser Stelle würde ich gerne die Vorschläge gegen machterhaltende Objektivität in white supremacy culture teilen. Es lohnt sich aber auf jeden Fall auch alle weiteren Vorschläge und Ideen durchzulesen und zu reflektieren, wie und wo solche Handlungen und Gedanken eventuell in das eigene Leben integrierbar wären und einen Mehrwert für das gesellschaftliche und persönliche Miteinander bieten würden.Zu den Gegenmitteln zählt beispielsweise, anzuerkennen, dass jede Person eine Weltansicht hat, die prägt, wie sie die Welt wahrnimmt und dementsprechend zu realisieren, dass dies auch auf mich und dich selbst zutrifft. Sowie, dass gerade, wenn diese Weltanschauung zu einer der dominanten Weltanschauungen zählt, diese eventuell den Glaubenssatz, dass sie objektiv sei, mit beinhaltet. Die Kurator*innen der Seite rufen außerdem dazu auf, dass wir uns gegenseitig durch das unbequeme Gefühl hindurch unterstützen sollten, wenn sich Menschen auf eine ungewohnte oder unbekannte Art und Weise ausdrücken oder Lebensrealitäten teilen, die uns selbst nicht bekannt sind oder für uns schwer nachvollziehbar sind. Weiterhin regt die Aufzählung dazu an, sich in emotionaler Intelligenz zu üben und erst einmal anzunehmen, dass Menschen einen guten Grund für das  haben, was sie empfinden und dass es primär eine persönliche Aufgabe ist, herauszufinden, was dieser Grund ist und zu versuchen, sich in die Position der Person hineinzuversetzen. Das gilt ganz besonders, wenn du einer Gruppe angehörst, die sich formell oder informell in einer Machtposition befindet. Es wird zusätzlich vorgeschlagen, sich selbst oder sich gemeinsam in der Gruppe zu fragen, wie eine Situation eventuell von einer anderen Perspektive aus bewertet werden könnte oder, noch besser: authentische, wertschätzende Beziehungen zu denjenigen aufzubauen, die eben diese Perspektive haben und ihre Erfahrungen teilen können. Cristina Rivera-Chapman, Mitglied der Earth Seed Land Coop35, ergänzt zwei weitere Punkte und schlägt vor, sich darin zu üben, ‘Ich’-Botschaften zu senden, um  nicht eine persönliche Erfahrung als allgemeingültig für alle Beteiligten festzulegen, was Menschen, die diese Perspektive oder Erfahrung nicht teilen, ausschließen könnte. Rivera-Chapman ruft dazu auf, neugierig und offen für Informationen und Geschichten zu bleiben, um zum einen sicherzustellen, dass die Menschen, die als Referenzpunkt und Quelle häufig übersehen werden, hervorgehoben werden und zum anderen, dass die Menschen, die Anerkennung für eine Erfahrung beanspruchen, diese auch gelebt haben und mit einem Sinn für soziale Gerechtigkeit teilen. 

Die Schwarze Künstlerin, Pädagogin für soziale Gerechtigkeit und Kulturarbeiterin, Bevelyn Afor Ukah, beschreibt die Praxis, uns unsere eigene Subjektivität wieder anzueignen und unsere individuellen Erfahrungen zu teilen, als ‘Gegengift’ zu Objektivität36. Sie beschreibt es als essenziell, klar zu kommunizieren, was wir wissen, aber auch was wir nicht wissen; transparent zu machen, welche Befangenheiten und Begrenzungen unser Denken und Handeln prägen und das Verallgemeinern von unserer Perspektive zu vermeiden. Stattdessen regt Ukah dazu an, uns unserer besonders spezifischen und konkreten Subjektivität zu öffnen und diese als Geschenk zu betrachten.37 

Als abschließenden Punkt zu diesem Abschnitt möchte ich gerne noch die Gedanken des weißen Schriftstellers, Aktivisten und Lehrers Paul Kivel teilen. Kivel beschreibt in seinem Buch Living in the Shadow of the Cross (2013), wie auch auf www.whitesupremacyculture.info zitiert, dass die christliche, westliche Hegemonie historisch schon immer versucht hat alternative Glaubensansätze zu vernichten, mit der Begründung, die einzige, universelle Wahrheit bei sich gepachtet zu haben.38 Auch hier wird deutlich, dass der Anspruch, die einzig richtige oder ‘objektive’ Sichtweise bei einer einzelnen Gruppe, die sich dazu in einer Machtposition befindet, zu pachten, deren Vormachtstellung lediglich weiter legitimiert und verstärkt. Dieses ‘gatekeepen’ einer ‘Objektivität’ lässt keinen Raum für alternative Ansichten, Lebensrealitäten und Erfahrungen. 

34 Vgl. https://www.whitesupremacyculture.info/one-right-way.html Abs.: antidotes (abgerufen am 15.09.2023).

35 Link zum Projekt von Cristina Rivera-Chapman https://earthseedlandcoop.org/ (abgerufen am 15.09.2023).

36 Vgl. https://www.whitesupremacyculture.info/one-right-way.html Ukah, Bevelyn Afor, Info-Kasten: A call for subjectivity  (abgerufen am 15.09.2023).

37 Vgl. https://www.whitesupremacyculture.info/one-right-way.html Ukah, Bevelyn Afor, Info-Kasten: A call for subjectivity  (abgerufen am 15.09.2023).

38 Vgl. Kivel, Paul, Living in the Shadow of the Cross: Understanding and Resisting the Power and Privilege of Christian Hegemony, New Society Publishers, 2013, S. 53-55. 

Ein Fazit und viele offene Fragen

Ganz besonders die Informationen, der unterschiedlichen Kurator*innen auf www.whitesupremacyculture.info, regen mich dazu an, mein eigenes Umfeld, meine Denkstrukturen und Arbeitsweisen zu hinterfragen. Mich selbst dabei zu erwischen, was ich als ‘selbstverständlich’, als ‘normal’ oder als ‘allgemeingültig’ für andere Menschen voraussetze und inwiefern ich mich dadurch anderen Lebensrealitäten verschließe, beziehungsweise sie aktiv ausschließe. Ich glaube, dass unser individuelles Verhalten, was diskriminierende und ausschließende Denkweisen angeht, eine extrem wichtige Rolle spielt in unserem Miteinander, der Art wie wir mit unserem Umfeld umgehen und welchen Einfluss wir auf die Menschen nehmen, mit denen wir uns umgeben. Gleichzeitig glaube ich, dass das Hinterfragen von Objektivität, dem Anspruch an diese, sowie deren Auswirkungen auf unterschiedliche Menschengruppen auch in Systemen und Sektoren, wie Wissenschaft, Bildung, Medien und Berichterstattung, Politik, anderen staatlichen Institutionen und vielen mehr, im Kampf gegen strukturelle Diskriminierung und Machtmonopole von großer Relevanz sein kann.
Ich sehe, dass sich in der Frage nach Objektivitätsanspruch in unterschiedlichen Bereichen unserer Gesellschaft, je nach Perspektive, aus welcher der jeweilige Bereich betrachtet wird, viele weitere Fragen verbergen, die beleuchtet werden können. Aus persönlichem Interesse an den Bereichen Journalismus und Berichterstattung, frage ich mich hier: Welche Auswirkungen hätte eine feministische Neudefinition des Konzeptes der ‘Objektivität’ auf die Arbeit von Journalist*innen und die aktuelle Berichterstattung? Wie können Journalist*innen ihre eigene Positionierung und Perspektive hinterfragen und deutlich machen, um dem gaze from nowhere zu entkommen? Auf welcher Seite möchten wir stehen, wenn wir von aktuellen Geschehnissen berichten und welche nehmen wir automatisch ein, wenn wir versuchen, eine Situation ‘möglichst objektiv’  wiederzugeben? Welchen Nutzen kann ein Fokus auf Subjektivität haben und inwiefern wirkt sich dieses Anerkennen von Subjektivität auf Debatten rund um Fake News aus? Und vor allem: Wer berichtet generell überhaupt und worüber oder über wen? Wessen Perspektiven werden zentriert? Wessen Identitäten benannt und wessen Identitäten bleiben die unausgesprochene ‘objektive’ Norm?


Quellenverzeichnis: 

Primär- und Sekundärliteratur:

  • Feinberg, Leslie, Trans Liberation: Beyond Pink and Blue, Beacon Press Boston, 1998
  • Gaukroger, Stephen, Objectivity. A Very Short Introduction. Oxford, New York: Oxford University Press, 2012, übersetzt ins Deutsche 2017
  • Haraway, Donna: Situated Knowledges The Science Question in Feminism and the Priviledge of Partial Perspective, Feminist Studies, Band 14, Nr. 3, 1988
  • Harding, Sandra: “The Science Question in Feminism”, Cornell Univeristy Press, 1986
  • Kivel, Paul, Living in the Shadow of the Cross: Understanding and Resisting the Power and Privilege of Christian Hegemony, New Society Publishers, 2013
  • Lorde, Audre, Sister outsider: Essays and speeches. Freedom, California: Crossing Press, 1984
  • Walsh, Reubs J.  “Feminism & Psychology”, Feminism & Psychology, Band 25, Kapitel 6, 2015

Online-Ressourcen:

Hausarbeit von Vee Hoffmann
in Digitale Kulturen und Nachhaltigkeit
bei Dr. Paul Feigelfeld

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