Potenziale und Herausforderungen des Glitch Feminismus als technofeministische Praxis
Hausarbeit von Vanice Devenich
Disclaimer
Ich möchte betonen, dass meine Annäherung an das Thema aus einer weißen, akademisierten und eurozentristischen Perspektive erfolgt. Ich bin mir bewusst, dass dies dazu führen kann, dass ich bestimmte Aspekte möglicherweise nicht vollständig erfassen kann.
Die Auswahl und Interpretation der gewählten Literatur sowie meine Gedankengänge, die daraus folgen, sind geprägt von meinen Privilegien, Erfahrungen und Vorannahmen sowie meiner eigenen weiblichen Sozialisation und Pansexualität.
Ich erkenne an, dass Diskussionen über Privilegien, Geschlecht und Kultur komplex sind und die Reflexion über meine eigene Positionierung in diesem Kontext unerlässlich ist.
Um auch innerhalb meines Schreibstils auf Machtverhältnisse aufmerksam zu machen, schreibe ich im Kontext von Rassismus und Diskriminierung ‚Schwarz‘ groß und setze ‚weiß‘ kursiv. Die groß geschriebene Form von Schwarz dient dazu, die Sichtbarkeit und Bedeutung der Schwarzen Identität zu betonen und gleichzeitig die historische Unterdrückung und Diskriminierung zu markieren, die mit Schwarzsein einhergeht. Das Kursivieren von „weiß“ hebt hervor, dass Weißsein als Norm angesehen und in vielen Gesellschaften als nicht markierte Kategorie behandelt wird, die man nicht benennen müsse.
Zudem wird auf den deutschen Begriff ‚Rasse‘ als wörtliche Übersetzung des englischen Begriffs ‚Race‘ verzichtet, um zu verdeutlichen, dass Rassen eine Erfindung des Rassismus sind. Beide Begriffe haben unterschiedliche Bedeutungen, die in ihren jeweiligen historischen Kontext eingebettet werden müssen.
Einleitung
Patriarchale Strukturen beanspruchen Räume – ob digitale, physische oder hybride. Daraus entsteht eine spannende, aber auch gewaltsame Dynamik zwischen technologischen Systemen wie dem Internet und feministischen Bewegungen. Technologie und Gender haben sich längst zu Konzepten entwickelt, die unabdingbar mit dem Alltag vieler Lebensrealitäten verknüpft sind und diese mitgestalten. So werden Cyberspaces zu hochpolitisierten Räumen, die transformative Potenziale aufweisen, allerdings nicht für alle Menschen gleichermaßen zugänglich oder sicher sind. Marginalisierte Gruppen, wie etwa Frauen, BIPoC (Schwarze, Indigene und People of Color), queere Menschen, trans Menschen, Menschen mit Behinderungen, alte Menschen, Menschen, die unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen leiden und insbesondere jene, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind, werden sowohl in der AFK-Welt1 als auch in virtuellen Räumen mit Gewalt, Belästigung und Diskriminierung konfrontiert. Ihre Stimmen und Perspektiven werden gemutet und aktiv gelöscht, wenn es um die Mitgestaltung des Internets geht.
Technofeministische Praktiken und die damit einhergehende Schaffung eines feministischen Internets streben danach, die Zukunft von Cyberspaces auf eine intersektionale und queerfeministische Art und Weise zu beeinflussen und aktiv mitzugestalten. In ihrem Manifest Glitch Feminism: A Manifesto (2020) setzt sich die Autorin und Künstlerin Legacy Russell mit dieser Mitgestaltung auseinander und betont die kreative Nutzung von Störungen, Fehlern und Brüchen in Technologie und Gender, um bestehende Normen und Strukturen herauszufordern sowie Schwarze und queere Perspektiven zu fördern.
Die vorliegende Arbeit analysiert den Glitch Feminismus als technofeministische Praxis und seine mögliche Rolle bei der Destabilisierung patriarchaler Strukturen im Internet sowie bei der Schaffung queerfeministischer Räume. Das zweite Kapitel der Arbeit beleuchtet die theoretischen Grundlagen des Technofeminismus, um im dritten Teil sowohl diesen als auch das Konzept des Glitch Feminismus auf ihre Verknüpfung zu untersuchen. Im vierten Kapitel werden die Potenziale und Herausforderungen des Glitch Feminismus als technofeministische Praxis für die Gestaltung eines queerfeministischen Internets eingehend beleuchtet.
1Russell trifft die Unterscheidung ‚AFK-Welt‘ und ‚digitale Welt‘, um mit der binären Vorstellung vom digitalen Dualismus zu brechen. Indem sie den Begriff „AFK“ (Away From Keyboard) verwendet, betont sie die Idee, dass keine klare Trennung zwischen diesen beiden Sphären getroffen werden kann.
Technofeminismus: Queerfeminismus in digitalen Sphären
Die Anerkennung des Internets2 als einen Raum, der in ähnlicher Weise wie AFK-Räume unser Leben prägt und gestaltet, ist von grundlegender Bedeutung für eine zukunftsorientierte Entwicklung virtueller Umgebungen. Unsere gegenwärtige Welt ist durchzogen von vielfältigen Machtstrukturen und Formen der Diskriminierung. Das Internet bildet hierbei lediglich eine zusätzliche Dimension ab, die ebenfalls von verschiedenen Hierarchien und Interessen beeinflusst wird. Technologien tendieren dazu, bereits etablierte Denkmuster widerzuspiegeln und zu verankern: „Online und offline sind nicht länger getrennte Sphären, sondern zu einem Kontinuum geworden.“3 Eine queerfeministische Gestaltung von digitalen Sphären4 verfolgt das Ziel, aktiv Widerstand gegen diese Strukturen zu leisten und alternative Räume zu schaffen.
In dieser Arbeit stützt sich das Verständnis einer queerfeministischen Praxis in Cyberspaces auf Queering als Methode, die vorherrschende Normen und Kategorien kritisiert sowie neu zu definieren versucht:
„Queering verweist dabei auf machtkritische Strategien, Optionen und Möglichkeitsräume, mit deren Hilfe bestehende Verständnisse und Zuschreibungen zu Gender, Geschlecht, aber auch Kategorisierungen wie männlich/weiblich konstatiert, kritisiert und kontrastiert werden können. Ziel solcher Interventionen ist es, vorherrschende Kategorien und Normen in ihrer Konstruiertheit herauszustellen und neu zu definieren.“5
In den folgenden Abschnitten wird die Entstehung der Technofeminismus-Bewegung erläutert und ihre Analyse des Verhältnisses zwischen Geschlecht und Technologie beleuchtet. Darüber hinaus werden die (queer)feministischen Praktiken dargelegt, die von Technofeminist:innen angewendet werden, um feministische Cyberspaces zu gestalten.
2 Im Kontext dieser Abhandlung bezieht sich der Begriff des Internets auf ein globales Netzwerk, das vielfältige Lebensrealitäten in unterschiedlicher Weise beeinflusst. Es gilt zu betonen, dass das Internet keine einheitliche oder homogene Entität darstellt, auch wenn die Formulierung ‚das Internet‘ darauf hindeuten könnte. Vielmehr ist es das Resultat verschiedener Akteur:innen, die von unterschiedlichen Interessen geleitet werden.
3Sollfrank, Cornelia (Hrsg.): Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien: Transversal Texts, 2018, S. 8.
4Die Idee eines feministischen Internets bezieht sich auf die Schaffung digitaler Cyberspaces, die frei von Geschlechterungleichheit, Diskriminierung und Gewalt sind, und in denen die Prinzipien des Feminismus in Technologie und Online-Interaktionen integriert werden. Dies beinhaltet oft auch die aktive Mitgestaltung digitaler Plattformen und Technologien durch feministische Aktivist:innen. Da in einschlägiger Literatur sowie in aktuellen Diskursen lediglich von einem „feministischen“ Internet die Rede ist, aber sein Gestaltungsprozess einer queerfeministische Perspektive zugrunde liegt, die auch Theorien der Queer Studies einbeziehen, wird im Folgenden von ‚queerfeministischen‘ Cyberspaces gesprochen. Siehe Hark, Sabine: „Queer Studies“, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hrsg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln, 2005, S. 285-303.
5 Klipphahn-Karge, Michael/Ann-Kathrin Koster/Sara Morais dos Santos Bruss (Hrsg.): Queere KI: Zum Coming-out smarter Maschinen, 1. Aufl., Bielefeld: transcript, 2022, S. 20.
Technofeministische Kritik an techno-utopischen Vorstellungen
In den 1990er und 2000er Jahren wurde das Internet von frühen Cyberfeminist:innen als große Chance wahrgenommen, feministische und geschützte Räume zu erzeugen, die Dichotomien wie Technik/Geschlecht infrage stellen sowie neue Möglichkeiten der Sichtbarkeit und des Austausches für marginalisierte Gruppen schaffen.6 Diese techno-utopischen Vorstellungen werden u.a. von der Soziologin Judy Wajcman, eine der wichtigsten Vertreter:innen des Technofeminismus, kritisiert und weitergedacht. Innerhalb des von ihr geprägten technofeministischen Ansatzes, stützt sie sich auf die Ideen des Cyberfeminismus und entwickelt diese zu einem materialistischen Konzept weiter, das anders als der Cyberfeminismus auch Fragen nach der in Technologie eingebetteten Ungleichheiten und Privilegien inkludiert.7 Wajcman zufolge beziehe Technofeminismus zusätzlich Positionen des Schwarzen und postkolonialen Feminismus ein, der kritisiert, dass überwiegend dieAnliegen weißer Frauen des globalen Nordens bei feministischen Fragestellungen im Vordergrund stehen:
„The emergence of black and post-colonial feminism, for example, has posed a critical challenge to the privileging of the preoccupations and knowledges of white, Western women. As a result, feminist conversations are much more attuned to the different ways women live and experience technoscience, depending on their location.“8
Dies unterstreicht die Wichtigkeit einzubeziehen, wie Frauen und – wie ich an dieser Stelle hinzufügen möchte – FLINTA* (Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans und agender Personen) of Color je nach geologischer Lage und Diskriminierungserfahrung Technologien und Cyberspaces leben und erleben.
Nach Wajcman schreiben Cyberfeminist:innen der Technologie zu viel Handlungsfähigkeit zu, da sie neue Technologien als an sich transformativ betrachten, während der Technofeminismus auf einem Verständnis von Selbstermächtigung beruht: „Technofeminism is grounded in the understanding that only we can free ourselves.“9
Diese Selbstermächtigung wird jedoch erst notwendig, weil Technologien in patriarchalen, rassistischen und kolonialen Umgebungen geschaffen werden, deren einhergehende Diskriminierungsstrukturen im Code der Cyberspaces eingeschrieben sind. Weil der Historikerin für Technologie und Gender, Mar Hicks zufolge, solche Strukturen, in denen Computersysteme entstehen, demnach als Feature, nicht als Bug zu betrachten sind, und Technologie zusätzlich Sexismus, Rassismus und Kolonialismus begünstigt, können Cyberspaces keine Akteure in Veränderungsprozessen sein.10
6 Vgl. Drüeke, Ricarda: „Widerstand per Click und Hashtag: Protestbewegungen im Wandel“, in: Schwarzenegger, C., Koenen, E., Pentzold, C., Birkner, T. & Katzenbach, C. (Hrsg.): Digitale Kommunikationund Kommunikationsgeschichte: Perspektiven, Potentiale, Problemfelder, Berlin 2022, S. 278.
10Vgl. Hicks, Mar: „Sexism Is A Feature, Not A Bug, In: Thomas S. Mullaney“, in: Benjamin Peters/ Mar Hicks/Kavita Philip (Hrsg.): Your computer is on fire, Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 2021, S. 151 f.
Transformative Potenziale von Cyberspaces und technofeministischer Praxis
Positionen zu den transformativen Potenzialen von Cyberspaces sind im cyber- und technofeministischen Diskurs verschieden angelegt. Zwar kritisiert auch die Netzkünstlerin und Autorin Cornelia Sollfrank die mit dem Cyberfeminismus einhergehende nostalgisch-romantisierende Perspektive auf Cyberspaces, qualifiziert technofeministische Ansätze jedoch gleichzeitig zu einem bedeutsamen Mittel in Veränderungsprozessen.11 Technofeminismus im Alltag zu praktizieren bedeutet für Sollfrank, sich innerhalb der Technokultur für ein ‚gutes Leben für alle‘12 zu engagieren:
„Von Interesse ist also, wie sich insbesondere Geschlechterverhältnisse, bzw. die Hierarchie sexueller Differenz, auf wissenschaftliche Forschung und technologische Innovation auswirken und welchen Einfluss diese umgekehrt auf die Konstituierung von Geschlecht ausüben. Übersetzt in technofeministische Alltagspraxen heißt das nichts anderes, als für eine gerechtere und für alle lebbare Welt in unserer Technowissenschaftskultur zu kämpfen.“13
Das grundlegende Verhältnis zwischen Geschlecht und Technologie, das in beiden Bewegungen eine Schlüsselrolle spielt, lässt sich auf die Gedanken der feministischen Theoretikerin Donna Haraway zurückführen. Diese Ideen wurden erstmals in ihrem 1985 veröffentlichten Cyborg Manifesto ausführlich dargelegt. Darin zelebriert Haraway die Cyborg-Figur: Einen hybriden Organismus, der eine Verschmelzung von Mensch und Maschine darstellt und durch den binäre Vorstellungen überwunden werden können, die traditionelle Denkweisen über Geschlecht und Körperlichkeit geprägt haben: „It means both building and destroying machines, identities, categories, relationships, spaces, stories.“14 In diesem Kontext stehen Cyborgs symbolisch für die Befreiung von festgelegten Identitäten und starren sozialen Normen. Gleichzeitig bieten Cyberspaces die Möglichkeit, binäre Heteronormativität herauszufordern und von technisch versierten Cyber- bzw. Technofeminist:innen neu gestaltet zu werden.15
11Vgl. Sollfrank, 2018, S. 12 f.
12 Siehe van Treeck, Katharina/Christoph Ambach: Das gute Leben für alle. Wege in die solidarische Lebensweise, München: oekom, 2019.
13Sollfrank, 2018, S. 9.
14 Haraway, Donna: „A Manifesto For Cyborgs. Science, Technology And Socialist Feminism In The 1980“, in: Kwame Anthony Appiah/Mikhail Bakhtin/John Barth/Roland Barthes/Jean Baudrillard/Thomas Docherty et al. (Hrsg.): Postmodernism and the Contemporary Novel. A Reader, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2002, S. 415.
15Wajcman, 2006, S. 70.
Feministische Hacker:innen wenden diese technofeministischen Praktiken an, indem sie sowohl AFK-Räume (z.B. Hackspaces) als auch Cyberspaces (z.B. kollektive Twitter-Konten) kreieren. In diesen Räumen sollen ihre queerfeministischen und intersektionalen Werte repräsentiert werden sowie neue Praxen entstehen.16 In diesem Kontext ist ‚Hacking‘ nicht nur im technischen Sinn zu verstehen, sondern als Konzept, mit dem Systeme, wie beispielsweise Geschlechterbinarität, verändert werden können:
„Wenn sie [feministische Hacker:innen] das Geschlecht oder auch den menschlichen Körper als Technologien und Entitäten betrachten, die gehackt, das heißt, transformiert werden können, nähern sie sich Menschen an, die sich von der Vorstellung traditionellen Hackings ansonsten kaum angesprochen fühlen würden.“17
Feministisches Hacking vermittelt die Idee, dass die Umprogrammierung digitaler Technologien analog zur Umcodierung der im Geschlecht verankerten Werte steht. Dies führt zur Auffassung, dass Geschlecht als eine Art Technologie verstanden werden kann, während binäre Geschlechterzuordnungen und konventionelle Geschlechterkonzepte kritisiert werden. Verschiedene technofeministische Initiativen widmen sich der Konzeption eines (queer)feministischen Internets. Zu diesen gehört auch das Projekt der Feministischen Prinzipien des Internets (FPI).18 Diese Prinzipien entstanden erstmalig im Jahr 2014 auf dem von Association for Progressive Communications (APC) organisierten Treffen ‚Imagine a Feminist Internet‘. Beteiligt an den FPIs 1.0 waren vorwiegend Aktivist:innen aus dem globalen Süden. Seitdem befindet sich die Weiterentwicklung der FPIs in einem anhaltendem Prozess, an dem mittlerweile über 100 FLINTA*, queere Menschen sowie Vertreter:innen aus intersektional feministischen-, Menschenrechts- und Internet-Bewegungen partizipierten.19
Derzeit gibt es insgesamt 17 Prinzipien, die in fünf Clustern organisiert sind: 1) Zugang, 2) Bewegungen, 3) Wirtschaft, 4) Ausdruck und 5) Verkörperung. Gemeinsam bieten sie einen Rahmen für queerfeministische Bewegungen, um Fragen im Zusammenhang mit Technologie zu artikulieren und zu erforschen.
Als „Sinnbild für die Verqueerung alter Dichotomien“20 ebnet die Cyborg-Figur sowie technofeministische Ansätze den Weg für die Gestaltung von queerfeministischen Cyberspaces. Während die Feministischen Prinzipien des Internets eine spezifische Anwendung technofeministischer Ideen darstellen, nutzen sowohl feministische Hacker:innen als auch Glitch Feminist:innen das Schaffen und Aneignen digitaler Räume als technofeministische Praxis.
16Vgl. Toupin, Sophie: „Feministisches Hacking. Widerstand durch das Schaffen neuer Räume“, in: Cornelia Sollfrank (Hrsg.), Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien: Transversal Texts, 2018, S. 55 f.
17Ebd., S. 38.
18Vgl. Feminist Internet: Feminist Principles of the Internet, in: Feminist Internet, 2016, www.feministinternet.org/principles, (abgerufen am 13.09.2023). Vergleiche außerdem die deutsche Übersetzung der Prinzipien in: Sollfrank, Cornelia, Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien: transversal, 2018, S. 123 ff.
19 Vgl. Sollfrank, 2018, S. 25.
20Ebd., S. 11.
Error 404: Glitch Feminismus zur Gestaltung queerfeministischer Cyberspaces
Der Glitch Feminismus ist ein theoretisches Konzept und eine feministische Denkweise, die von der Autorin und Künstlerin Legacy Russell in ihrem Manifest Glitch Feminism: A Manifesto (2020) geprägt wurde. Dieses Paradigma konzentriert sich auf die Verbindung von Geschlecht, Technologie und Kunst und ist durch seine Prinzipien und Praktiken eng mit dem Technofeminismus verbunden. Im Folgenden wird das Konzept des Glitch Feminismus näher erläutert, gefolgt von einer Einordnung in technofeministische Praktiken, um die Verbindung beider Bewegungen herauszustellen.
Glitch Feminismus: Intersektionale Dekonstruktion von Gender und Widerstand im Digitalen
Russell verwendet den Begriff ‚Glitch‘ als Metapher für Diskontinuitäten und Unterbrechungen in digitalen Systemen, um auf die Fehler und Ungerechtigkeiten in traditionellen Geschlechter- und Identitätsnormen hinzuweisen: „A glitch is an error, a mistake, a failure to function.“21 Das Scheitern (failure) in einem System, das die eigene Identität einschränkt, fremdbestimmt und keinen Platz für marginalisierte Menschen hat, soll das binäre Geschlechtersystem zerbrechen lassen.22
Mit einem queerfeministischen und intersektionalen Blick adressiert Russell in ihrem Manifest hauptsächlich marginalisierte Menschen und insbesondere QTIPOC (queere, trans und inter people of color) und betont damit, dass Ungleichheiten in digitalen Sphären vor allem Menschen, die mehrfach diskriminiert werden, betreffen.
Glitch lässt sich als Befreiung von Gendernormen und gleichzeitig als Handlungsaufruf deuten, Widerstand gegen die Instrumentalisierung von Körpern im Kapitalismus zu leisten.23 Durch Nicht-Performen und das Verweigern, sich auf einen binären Körper (männlich oder weiblich) reduzieren zu lassen, strebt Glitch Feminismus an, die Vorstellung von Gender zu dekonstruieren und sich der Instrumentalisierung zu widersetzen.24 Digitale Räume werden zelebriert, weil sie die Möglichkeit eröffnen, neue Welten zu bilden, in denen marginalisierte Menschen Heimat finden können.25 Damit sieht Russel in digitalen Cyberspaces Chancen, die in der AFK-Welt auf diese Weise nicht gegeben seien:
„It allows us to seize the opportunity to generate new ideas and resources for the ongoing (r)evolution of bodies that can inevitably move and shift faster than AFK mores or the societies that produce them under which we are forced to operate offline.“26
Glitch Feminismus strebt an, die AFK-Welt mithilfe des Glitch anders zu sehen und auf diese Weise neue Handlungsspielräume für und durch sich selbst zu entwickeln.27 Russell zufolge könnte das dabei helfen, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wo queerfeministisch gehackt werden kann.28
21Russell, Legacy: Glitch Feminism. A Manifesto, London, New York: Verso, 2020, S. 7.
22Vgl. ebd., S. 77.
23Vgl. ebd., S. 9.
24 Vgl. ebd., S. 8 ff.
25Vgl. ebd., S. 11.
26Ebd., S. 12.
27 Vgl. ebd., S. 8 f.
28Vgl. ebd., S. 102.
Glitch als technofeministische Praxis
Russell deklariert Cyberfeminismus als Wegbegleiterin der Glitch-Politik.29 Gleichzeitig erkennt die Autorin die mit der techno-utopischen Perspektive einhergehenden Schwierigkeiten früherer Cyberfeminist:innen. Auch für sie sind digitale Sphären keine Orte, an denen alle in Harmonie und Frieden leben können. Russell vertritt eine technofeministische Position, indem sie die Frühgeschichte des Cyberfeminismus als einen weißen Feminismus problematisiert, der transnationale Solidarität ausschloss, während sie gleichzeitig das transformative Potenzial des Internets als Ort der Selbstverwirklichung, insbesondere für QTIPOC, hervorhebt.30 Infolgedessen können die Praktiken des Glitch Feminismus und technofeministische Ansätze miteinander verknüpft werden.
Glitch Feminist:innen hacken die ihnen auferlegten Diskriminierungs- und Machtstrukturen, mit denen sie täglich konfrontiert werden, indem sie den Status Quo attackieren.31Verneinen ist als Widerstandspraxis des Glitch zu betrachten. Demnach ist Glitch immer auch mit einer Selbstermächtigung verbunden, was als zentrale Praktik herauszustellen ist. Diese Praxis der Handlungsfähigkeit könnte aus technofeministischer Perspektive mit der feministischen Selbstverteidigung zusammengebracht werden, die in einem von der Hacktivistin Spideralex zusammengestellten Text erörtert wird.32 Bei beiden Praktiken geht es darum, das Patriarchat durch Selbstfürsorge zu unterwandern, ihm dadurch seine Macht zu nehmen und dabei „stets in Bewegung zu bleiben“33. Russell nennt den Aufruf dazu, Stillstand zu verneinen, mobilisieren: „The glitch mobilizes. This is our task: to keep mobilizing, modifying, shapeshifting with pride.“34 Glitch Feminist:innen bleiben in Bewegung, um nicht einkategorisiert zu werden.
Kategorien wie Geschlechterbinaritäten werden sowohl im Technofeminismus als auch im Glitch Feminismus geghostet, das heißt ignoriert, kritisiert, verneint.35 Stattdessen gilt es, sich selbst zu definieren und den Akt des Benennens zurückzuerobern.36 Ein Beispiel dafür ist die Erstellung von Avataren, die es nach Russell ermöglichen, sich selbstbestimmt im digitalen Raum zu bewegen. Glitch Feminist:innen feiern auf diese Weise die Option, verschiedene Cybersexes – also virtuelle Gender-Performances – anzunehmen und somit vielfältige Identitäten zu verkörpern. Dieses Konzept wird von Russell als „Annahme multipler Selbste“37 beschrieben. Das Experimentieren und Ausprobieren als Praxis könne nach Russell Menschen empowern, in der Öffentlichkeit Identitäten mit „radikalem Potenzial“ einzunehmen.38
29 Vgl. Russell, 2020, S. 36 f.
30Vgl. ebd., S. 20, S. 33.
31Vgl. ebd., S. 11.
32Vgl. Spideralex: „Neue Welten erfinden — mit cyberfeministischen Praxen und Ideen“, in: Cornelia Sollfrank (Hrsg.): Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien: Transversal Texts, 2018, S. 59–88.
33Ebd., S. 64.
34Russell, 2020, S. 129.
35Vgl. ebd., S: 65 f.
36Vgl. ebd., S. 74 ff.
37Vgl. Russell, 2020, S. 18.
38 Vgl. ebd., S. 46 f.
Um das kodierte, also zugeschriebene Geschlecht unlesbar und unzugänglich zu machen, stellt Russell die Praxis des Verschlüsselns heraus, um Anonymität und Privatsphäre in digitalen Sphären herzustellen.39 Diese und weitere Praktiken des Glitch Feminismus sind auch in den feministischen Prinzipien des Internets (FPIs) zu finden, die zur Realisierung eines (queer)feministischen Internets entscheidend sind: Widerstand (4), Aufbau einer Bewegung (5), Internet Governance (6), Stärkung des feministischen Diskurses (9), Meinungsfreiheit (10), Privatsphäre und Daten (13), Anonymität (15) sind FPIs, die auch Russell als essenzielle Praktiken des Glitch herausstellt.40
Glitch Feminist:innen schaffen durch Intersektionalität Räume und vergemeinschaften sich in Netzwerken.41 Das Digitale wird als Möglichkeit betrachtet, neue Welten zu bauen und dadurch die eigene Welt zu verändern.42 Auf diese Weise wird es QTIPOC ermöglicht, Raum einzunehmen und ihr queeres Schwarzsein zu verstärken.43 Glitch Feminist:innen könnten in diesem Sinne auch als (queer)feministische Hacker:innen bezeichnet werden. Durch das Besetzen und Wiederaneignen von Cyberspaces wie digitalen Plattformen, strebt der Glitch als Praxis eine digitale Dekolonialisierung an.44
39 Vgl. ebd., S. 84 ff.
40Vgl. Feminist Internet: Feminist Principles of the Internet, in: Feminist Internet, 2016, www.feministinternet.org/principles, (abgerufen am 13.09.2023). Vergleiche außerdem die deutsche Übersetzung der Prinzipien in: Sollfrank, Cornelia, Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien: transversal, 2018, S. 123 ff.
41 Vgl. Russell, 2020, 7, 56.
42Vgl. ebd., S. 11.
43 Vgl. ebd., S. 12.
44 Vgl. ebd., S. 135, siehe Philip, Kavita: „The Internet will be docolonized“, in: Thomas S. Mullaney/Benjamin Peters/Mar Hicks u.a. (Hrsg.): Your computer is on fire, Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 2021, S. 91–115.
Unter Einbezug von Handlungsräumen in der AFK-Welt sowie digitaler Räume, könnte Glitch als System- und Gesellschaftskritik gefasst werden, die darauf abzielt, Geschlechterbinaritäten und Fremdzuschreibungen als Faktoren von Machthierarchien herauszufordern:
„Glitch feminism asks us to look at the deeply flawed society we are currently implicated by and participating in, a society that relentlessly demands we make choices based on a conceptual gender binary that limits us as individuals.“45
Russell nennt diese Praxis auch Remixen, durch die Hegemonien umgestaltet, weiterentwickelt und dadurch zurückgewonnen werden können.46 Daneben betrachtet Russell auch das Scheitern als einen transformativen Akt, der neue Wege eröffnen könnte.47
Die Betonung von Glitch als Utopie und Überlebensstrategie für marginalisierte, queere und Schwarze Körper hebt die Notwendigkeit hervor, Technologie nicht nur als ein Werkzeug zu betrachten, sondern als einen Raum des Wandels und der Ermächtigung. Diese Perspektive und die damit verbundenen Praktiken implizieren eine klare Verbindung zum Technofeminismus, wie in dessen Definition verankert. Beide Bewegungen setzen sich das Ziel, den Code von Gender zu hacken und Binaritäten verschwimmen zu lassen.
45Russell, 2020, S. 10 f.
46Vgl. Russell, 2020, S. 133-141.
47 Vgl. ebd., S. 30.
Potenziale und Herausforderungen des Glitch Feminismus für die Gestaltung eines (queer)feministischen Internets
Im folgenden Kapitel werden die Potenziale und Herausforderungen des Glitch Feminismus im Kontext der Gestaltung eines (queer)feministischen Internets eingehend beleuchtet. Dabei steht die Betrachtung im Fokus, wie die Grundsätze des Glitch Feminismus dazu beitragen können, digitale Räume gerechter, inklusiver und diverser zu gestalten. Ebenso werden die Hindernisse und kritischen Aspekte aufgezeigt, die sich bei der Umsetzung dieser Ansätze ergeben können.
Potenziale
Glitch Feminismus markiert das Internet als globale Möglichkeit für queere Ansätze, neue Sichtweisen und neue Welten.48 Indem queerfeministische Cyberspaces geschaffen und bereits bestehende digitale Räume besetzt werden, eröffnet sich die Möglichkeit zur Schaffung digitaler Safer Spaces49 für QTIPOC. Diese Räume bieten die Chance für Kollektivität und Selbstverwirklichung.50 In diesen Cyberspaces könnten QTIPOC zumindest vor der physischen Gewalt, mit der sie in der AFK-Welt konfrontiert werden, geschützt werden.51 Innerhalb dieser Safer Spaces könnten andere Realitäten verwirklicht werden, die anschließend auch auf die AFK-Welt übertragen werden können.52
In Cyberspaces müssen fehlkategorisierte und gelöschte Körper wie QTIPOC Russell zufolge für ihre eigene Sicherheit sorgen, indem sie sich als Glitch selbst zelebrieren.53 Damit hat Glitch Feminismus eine selbstermächtigende Kraft, die für marginalisierte Menschen identitätsstiftend und als Mittel zur Selbsterkenntnis genutzt werden kann.54
Schon in ihrem Cyborg Manifesto betont Haraway, dass die ständige Veränderung von Kategorien wie Gender, Race und Klasse Hoffnung darauf gebe, dass sich irgendwann neue Vorstellungen von diesen Kategorien ergeben können, die über Dichotomien hinaus existieren.55 An dieser Stelle knüpft das Konzept des Glitch an, denn hier sollen alle Kategorien für alle möglich werden.56 Nicht-Binarität hat das Potenzial, ein Befreiungsakt von Fremdzuschreibungen zu sein.57 Nicht binäre Menschen ‚glitchen‘, indem sie zwischen oder außerhalb von binären Zuschreibungen performen. Das Annehmen von multiplen Selbsten könnte als feministischer Akt, als selbstständige Befreiung aus einem unterdrückenden System gedeutet werden, bei dem ein aktiver Ausbruch aus der Gewalt des Othering58 erfolgt.59
Der Glitch Feminismus erkennt an, dass das Internet in unterdrückenden Machtstrukturen entstanden ist, sieht aber gleichzeitig die Notwendigkeit für QTIPOC, mit dem bereits bestehenden digitalen Material zu arbeiten, um zu flüchten und um zu überleben.60 Dass eine Verneinung des Systems möglich ist, indem Cyborgs innerhalb des Systems Widerstand leisten, in welchem sie entstanden sind, macht Haraway deutlich:
„The main trouble with cyborgs, of course, is that they are the illegitimate offspring of militarism and patriarchal capitalism, not to mention state socialism. But illegitimate offspring are often exceedingly unfaithful to their origins. Their fathers, after all, are inessential.“61
48 Vgl. ebd., S. 123.
49 Um zu verdeutlichen, dass eine Sicherheit in Räumen sowie ein diskriminierungsfreier Raum, in einer diskriminierenden Gesellschaft, nie vollständig garantiert werden können, wird in der vorliegenden Arbeit nicht von einem Safe Space (geschützter Raum), sondern einem Safer Space (geschützterer Raum) gesprochen.
50Vgl. Russell, 2020, S. 124 f.
51 Vgl. ebd.
52Vgl. Russell, 2020, S. 43.
53Vgl. ebd., S. 27.
54Vgl. ebd., S. 31.
55Vgl. Haraway, 2002, S. 409.
56Vgl. Russell, 2020, S. 123.
57Vgl. ebd., S. 8.
58Der Begriff ‚Othering‘ beschreibt die Distanzierung von einer Gruppe, die als ‚anders‘ oder ‚fremd‘ bezeichnet wird. Es entsteht ein Machtgefälle zwischen den Bennenden und den Benannten. Dabei werden z.B. Schwarze queere Menschen als homogene Masse betrachtet und damit auf gewaltsame Weise zusammengefasst.
59Vgl. Russell, 2020, S. 21.
60Vgl. ebd., S. 134.
61 Haraway, 2002, S. 398.
Die Praxis des Glitch könnte sich damit zum transformativen Akt qualifizieren, weil Glitch einen Systemsturz von innen heraus anstrebt, indem er als Fehler in die Maschine eingebaut wird, um diese zum Versagen zu bringen.62 Wie ein Computervirus im System trägt Glitch auf diese Weise das Potenzial in sich, den Kapitalismus handlungsunfähig zu machen, Widerstand gegen Gender zu leisten und durch Brüche Veränderungen herbeizuführen.63 Digitale Plattformen müssen demnach queerfeministisch vereinnahmt und besetzt werden, anstatt zuzulassen, dass QTIPOC weiterhin kapitalisiert werden.64
Diese und weitere Potenziale des Glitch erwecken Hoffnung nach Transformation bei der Gestaltung von queerfeministischen Cyberspaces. Herausforderungen ergeben sich allerdings unter anderem daraus, dass Russell in ihrem Manifest keine konkreten Schritte zur Umsetzung dieser Potenziale vorschlägt, was jedoch auf die Manifest-Natur von Russells Arbeit zurückzuführen ist, die eher dazu dient, ihre Ideen und Prinzipien darzulegen, anstatt detaillierte Handlungsanleitungen zu bieten.
Herausforderungen
Wie die Genderwissenschaftlerin Ute Kalender herausstellt, strebt Glitch Feminismus zwar ein Queering vom „Begriff des Monströsen“ an, wählt aber in diesem Kontext Begriffe wie beispielsweise „Fehler“, „Anti-Körper“ oder „herausfordernde, monströse Körper mit Spalten und Nähten“, mit denen Menschen mit Behinderung im Alltag auf eine gewaltsame Weise konfrontiert werden.65 Es gilt zu problematisieren, dass viele cyberfeministische Ansätze wie der Glitch Feminismus sowie Haraways Cyborg-Figur das Verhältnis zwischen Behinderung und Technologie idealisieren oder kaum eine Verknüpfung zwischen beiden herstellen:
„Verkörpertes, alltägliches Wissen von Menschen mit Behinderung sowie nuancierte Erkenntnisse der Disability-Studies finden sich weder in Haraways noch in den neuaufgelegten Cyborg-Figuren. Behinderung wird in alten und neuen Cyberfeminismen einmal mehr zu einer narrativen Prothese, die den Manifesten narrative Wucht und intersektionale Dringlichkeit verleihen soll.“66
62Vgl. Russell, 2020, S. 141.
63 Vgl. ebd., S. 111-117.
64Vgl. ebd., S. 24.
65 Vgl. Kalender, Ute: „Queer-crip Perspektiven auf die Cyborg-Figur im Kontext von Künstlicher Intelligenz“, in: Klipphahn-Karge, Michael/Ann-Kathrin Koster/Sara Morais dos Santos Bruss (Hrsg.): Queere KI: Zum Coming-out smarter Maschinen, 1. Aufl., Bielefeld: transcript, 2022, S. 108.
66
Wenn Russell über glitchende Körper schreibt, fokussiert sie sich dabei auf Schwarze queere Körper und FLINTA*-Personen, während in diesem Kontext kaum ein Bezug zu Menschen mit Behinderung hergestellt wird. Innerhalb ihrer Diskussion über Körper und Körperpolitik werden demnach nicht alle Diskriminierungsformen gleichermaßen inkludiert, was ihren intendierten intersektionalen Blick vor eine Herausforderung stellt. Das resultiert in einer anhaltenden Unsichtbarmachung von Menschen mit Behinderungen sowie ihrer geschlechtlichen Identität in cyber- und technofeministischen Theorien.
Russell identifiziert Nicht-Binarität als einen Glitch und sieht darin gleichzeitig eine bewusste Form der Verweigerung.67 Diese Perspektive impliziert jedoch, dass die Abkehr von der Geschlechterbinarität eine bewusste Entscheidung ist, was nicht immer der Realität entspricht, wie Alok Vaid-Menon, Autor:in und Künstler:in, betont: „Is it really a choice when you don’t get to select the options you are given to begin with?“68
Es muss also zwischen der Abwendung von Pronomen als bewusster politischer Akt und Nicht-Binarität als unausweichliches Identitätsmerkmal, welches immer auch mit Diskriminierung einhergeht, unterschieden werden.
Der Wechsel zwischen verschiedenen Cybersexes, der bei Russell zelebriert wird, wird von Wajcman kritisiert. Sie problematisiert das Annehmen von Identitäten, die nicht der eigenen Sozialisierung entsprechen, wenn das bedeutet, dass sich cis Männer Zugang zu digitalen Safer Spaces von Frauen verschaffen und ihnen auf diese Weise Schaden zufügen können:
„Choosing words for a different identity is problematic. The choice of words is the result of a process of socialization associated with a particular identity. It is therefore very difficult to learn a new identity without being socialized into that role.“69
Diese Differenzierung mag ihre Berechtigung haben, wenn es darum geht, FLINTA* oder Kinder in Cyberspaces vor Übergriffen zu schützen, allerdings darf durch diese Kritik nicht der Eindruck entstehen, dass der Wechsel von Cybersexes oder etwa die Identität von trans Menschen mit Kriminalität einhergehen. Für trans und nicht binäre Menschen kann es eine selbstermächtigende Wirkung haben, verschiedene Cybersexes im Internet anzunehmen oder sogar lebensnotwendig sein.
66Ebd.
67 Vgl. Russell, 2020, S. 8.
68 Vaid-Menon, Alok: Beyond The Gender Binary, New York: Penguin Random House LLC, 2020, S. 10.
69Wajcman, 2006, S. 69.
Der politische Akt der Selbstermächtigung steht im Fokus von Russells Ansatz. Auch wenn Russell die Wichtigkeit von Solidarität und Allyship anmerkt, könnte der Eindruck entstehen, dass hauptsächlich marginalisierte Gruppen allein in der Verantwortung stehen, sich gegen die sie unterdrückenden Machtstrukturen aufzulehnen. Insbesondere privilegierte weiße, cisgender Menschen ohne Behinderung sollten bei der Destabilisierung patriarchaler Strukturen in die Pflicht genommen werden: „Rather than dreaming of a flight from the body, feminism has argued for men to be fully embodied and take their share of emotional, caring and domestic work.“70 Für Wajcman sollte die vollständige Verkörperung von Männern und nicht wie für Russell das Ausbrechen aus dem eigenen Körper durch eine alternative Identität im Cyberspace gefordert werden. Ein wichtiger Aspekt, der betont werden sollte, ist die Verantwortung heterosexueller cis Männer für die queerfeministische Transformation des Internets.
Die Methode, Veränderungen innerhalb des Systems anzustreben, statt das gesamte System zu transformieren, bietet Potenziale, aber auch Herausforderungen für ein queerfeministisches Internet. Aktuelle politische Strukturen behandeln Fragen der Gleichstellung und digitale Aspekte oft getrennt voneinander, was transformative Veränderungen erschwert.71
Ebenso verweisen die von vorwiegend weißen cis Männern geschaffenen Infrastrukturen der digitalen Plattformen auf die sich weiter verstärkenden unterdrückenden Machtstrukturen: „Such technological systems have little incentive to push back against sexism and racism and a strong profit motive to look the other way, or even to lean into them.“ 72
Auch Russell problematisiert die Infrastruktur virtueller Räume, denn Technologie ist rassistisch angelegt und verstärkt die Dominanz der weißen Narrative.73 Trotzdem spricht Russell von einer Unbegrenztheit74 digitaler Räume, die jedoch nicht gegeben sein kann, wenn diskriminierende Strukturen gleiche Chancen auf Aneignung und Umdeutung für alle verhindern. Das Hervorheben einer Unbegrenztheit signalisiert fälschlicherweise eine Chancengleichheit für alle, die sich an eine neoliberale, individualistische Vision von Zukunft klammert à la ‚jede:r ist in der Lage alles zu schaffen‘ – eine verkürzte Sicht darauf, wem die Möglichkeit von gesellschaftlicher Teilhabe in Bezug auf transformative Veränderungen in einer neokolonialen, patriarchalen und kapitalistischen Welt vorbehalten ist. Marginalisierte Menschen haben oft keinen Zugang oder die technischen Kenntnisse, um digitale Räume auf transformative Weise zu schaffen oder zu nutzen. Bei der Untersuchung der queerfeministischen Gestaltung des Internets muss deshalb immer die Frage nach der Einbeziehung und möglichen Ausgrenzung der Akteur:innen gestellt werden.
70Wajcman, 2006, S. 77.
71Chander, Sarah: A [love] letter to [black and brown] [queer] and [disabled] [feminists], [dreaming] [beyond] AI, in: Dreaming About AI, o. D., https://www.dreamingbeyond.ai/de/e/pluriverse/refusal/a-letter-to-ai, (abgerufen am 13.09.2023).
72Hicks, 2021, S. 137.
73Vgl. Russell, 2020, S. 25 f.
74 Vgl. ebd., S. 151.
Fazit
In dieser Untersuchung wurde der Glitch Feminismus als technofeministische Praxis in Bezug auf seine Rolle bei der Destabilisierung patriarchaler Strukturen im Internet und der Schaffung queerfeministischer Räume untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass Glitch Feminismus eine Erweiterung von cyberfeministischen Ansätzen darstellt, indem er Schwarze, queere Perspektiven auf das Internet einbezieht, um Cyberspaces zu schaffen und die Sichtbarkeit marginalisierter Menschen zu erhöhen. Dieses Verständnis von Glitch Feminismus harmoniert mit den Ideen des Technofeminismus, der die Notwendigkeit betont, Technologie als einen Ort des Wandels und der Ermächtigung zu sehen.
Es wurde aufgezeigt, dass Technologien einerseits verschiedene Möglichkeiten für queere und marginalisierte Gruppen eröffnen, sich selbst zu benennen, Räume zu schaffen und bestehende Räume einzunehmen, was ein Potenzial für gesellschaftliche Transformation bietet. Andererseits können diese Technologien auch von Menschen genutzt werden, die Diskriminierung und Marginalisierung forcieren. Der Kampf um Raum und Sichtbarkeit, den wir in der AFK-Welt erleben, setzt sich in digitalen Räumen fort. Glitch Feminismus, obwohl voller Potenziale, bezieht einige Lebensrealitäten, wie beispielsweise Menschen mit Behinderungen, nicht ausreichend in seine Überlegungen und Praxis ein und gerät dadurch, trotz Bemühungen um intersektionale Sichtbarmachung, an seine Grenzen.
Insgesamt fordert Russell durch ihre Arbeit Feminist:innen und queere Theoretiker:innen dazu auf, das Internet als legitimen Raum für Theorie, Gemeinschaft und Identität zu betrachten. Dies verdeutlicht, wie antirassistische und queere Feminismen digital zum Ausdruck kommen können und bereits existieren. Dennoch bleibt die Verantwortung, die Sichtbarkeit marginalisierter Körper im Digitalen sicherzustellen, nicht allein bei diesen Gruppen. Es bedarf der Unterstützung von Verbündeten, die Dichotomien und Binaritäten aufbrechen, ohne in alte, cyberfeministische Verhaltensmuster zu verfallen und den Glitch Feminismus zu einem Werkzeug des weißen Aktivismus zu machen. Dies erfordert ein tiefes Verständnis für technofeministische Ideen und die Anerkennung der Bedeutung glitchender Körper in digitalen Räumen.
Leider konnte aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit keine umfassende Betrachtung des Themas der digitalen Dekolonialisierung erfolgen. Zudem sind für eine tiefere Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Cyber- bzw. Technofeminismus und Ableismus auf die aufschlussreichen Arbeiten von Ute Kalender und Heike Raab zu verweisen.
Literaturverzeichnis
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Spideralex: „Neue Welten erfinden – mit cyberfeministischen Praxen und Ideen“, in: Cornelia Sollfrank (Hrsg.): Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien: Transversal Texts, 2018, S. 59–88Toupin, Sophie: „Feministisches Hacking. Widerstand durch das Schaffen neuer Räume“, in: Cornelia Sollfrank (Hrsg.), Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien: Transversal Texts, 2018, S. 33-58
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van Treeck, Katharina/Christoph Ambach: Das gute Leben für alle. Wege in die solidarische Lebensweise, München: oekom, 2019
Potenziale und Herausforderungen des Glitch Feminismus
als technofeministische Praxis
Hausarbeit von Vanice Devenich
Disclaimer
Ich möchte betonen, dass meine Annäherung an das Thema aus einer weißen, akademisierten und eurozentristischen Perspektive erfolgt. Ich bin mir bewusst, dass dies dazu führen kann, dass ich bestimmte Aspekte möglicherweise nicht vollständig erfassen kann.
Die Auswahl und Interpretation der gewählten Literatur sowie meine Gedankengänge, die daraus folgen, sind geprägt von meinen Privilegien, Erfahrungen und Vorannahmen sowie meiner eigenen weiblichen Sozialisation und Pansexualität.
Ich erkenne an, dass Diskussionen über Privilegien, Geschlecht und Kultur komplex sind und die Reflexion über meine eigene Positionierung in diesem Kontext unerlässlich ist.
Um auch innerhalb meines Schreibstils auf Machtverhältnisse aufmerksam zu machen, schreibe ich im Kontext von Rassismus und Diskriminierung ‚Schwarz‘ groß und setze ‚weiß‘ kursiv. Die groß geschriebene Form von Schwarz dient dazu, die Sichtbarkeit und Bedeutung der Schwarzen Identität zu betonen und gleichzeitig die historische Unterdrückung und Diskriminierung zu markieren, die mit Schwarzsein einhergeht. Das Kursivieren von „weiß“ hebt hervor, dass Weißsein als Norm angesehen und in vielen Gesellschaften als nicht markierte Kategorie behandelt wird, die man nicht benennen müsse.
Zudem wird auf den deutschen Begriff ‚Rasse‘ als wörtliche Übersetzung des englischen Begriffs ‚Race‘ verzichtet, um zu verdeutlichen, dass Rassen eine Erfindung des Rassismus sind. Beide Begriffe haben unterschiedliche Bedeutungen, die in ihren jeweiligen historischen Kontext eingebettet werden müssen.
Einleitung
Patriarchale Strukturen beanspruchen Räume – ob digitale, physische oder hybride. Daraus entsteht eine spannende, aber auch gewaltsame Dynamik zwischen technologischen Systemen wie dem Internet und feministischen Bewegungen. Technologie und Gender haben sich längst zu Konzepten entwickelt, die unabdingbar mit dem Alltag vieler Lebensrealitäten verknüpft sind und diese mitgestalten. So werden Cyberspaces zu hochpolitisierten Räumen, die transformative Potenziale aufweisen, allerdings nicht für alle Menschen gleichermaßen zugänglich oder sicher sind. Marginalisierte Gruppen, wie etwa Frauen, BIPoC (Schwarze, Indigene und People of Color), queere Menschen, trans Menschen, Menschen mit Behinderungen, alte Menschen, Menschen, die unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen leiden und insbesondere jene, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind, werden sowohl in der AFK-Welt1 als auch in virtuellen Räumen mit Gewalt, Belästigung und Diskriminierung konfrontiert. Ihre Stimmen und Perspektiven werden gemutet und aktiv gelöscht, wenn es um die Mitgestaltung des Internets geht.
Technofeministische Praktiken und die damit einhergehende Schaffung eines feministischen Internets streben danach, die Zukunft von Cyberspaces auf eine intersektionale und queerfeministische Art und Weise zu beeinflussen und aktiv mitzugestalten. In ihrem Manifest Glitch Feminism: A Manifesto (2020) setzt sich die Autorin und Künstlerin Legacy Russell mit dieser Mitgestaltung auseinander und betont die kreative Nutzung von Störungen, Fehlern und Brüchen in Technologie und Gender, um bestehende Normen und Strukturen herauszufordern sowie Schwarze und queere Perspektiven zu fördern.
Die vorliegende Arbeit analysiert den Glitch Feminismus als technofeministische Praxis und seine mögliche Rolle bei der Destabilisierung patriarchaler Strukturen im Internet sowie bei der Schaffung queerfeministischer Räume. Das zweite Kapitel der Arbeit beleuchtet die theoretischen Grundlagen des Technofeminismus, um im dritten Teil sowohl diesen als auch das Konzept des Glitch Feminismus auf ihre Verknüpfung zu untersuchen. Im vierten Kapitel werden die Potenziale und Herausforderungen des Glitch Feminismus als technofeministische Praxis für die Gestaltung eines queerfeministischen Internets eingehend beleuchtet.
1 Russell trifft die Unterscheidung ‚AFK-Welt‘ und ‚digitale Welt‘, um mit der binären Vorstellung vom digitalen Dualismus zu brechen. Indem sie den Begriff „AFK“ (Away From Keyboard) verwendet, betont sie die Idee, dass keine klare Trennung zwischen diesen beiden Sphären getroffen werden kann.
Technofeminismus: Queerfeminismus in digitalen Sphären
Die Anerkennung des Internets2 als einen Raum, der in ähnlicher Weise wie AFK-Räume unser Leben prägt und gestaltet, ist von grundlegender Bedeutung für eine zukunftsorientierte Entwicklung virtueller Umgebungen. Unsere gegenwärtige Welt ist durchzogen von vielfältigen Machtstrukturen und Formen der Diskriminierung. Das Internet bildet hierbei lediglich eine zusätzliche Dimension ab, die ebenfalls von verschiedenen Hierarchien und Interessen beeinflusst wird. Technologien tendieren dazu, bereits etablierte Denkmuster widerzuspiegeln und zu verankern: „Online und offline sind nicht länger getrennte Sphären, sondern zu einem Kontinuum geworden.“3 Eine queerfeministische Gestaltung von digitalen Sphären4 verfolgt das Ziel, aktiv Widerstand gegen diese Strukturen zu leisten und alternative Räume zu schaffen.
In dieser Arbeit stützt sich das Verständnis einer queerfeministischen Praxis in Cyberspaces auf Queering als Methode, die vorherrschende Normen und Kategorien kritisiert sowie neu zu definieren versucht:
In den folgenden Abschnitten wird die Entstehung der Technofeminismus-Bewegung erläutert und ihre Analyse des Verhältnisses zwischen Geschlecht und Technologie beleuchtet. Darüber hinaus werden die (queer)feministischen Praktiken dargelegt, die von Technofeminist:innen angewendet werden, um feministische Cyberspaces zu gestalten.
2 Im Kontext dieser Abhandlung bezieht sich der Begriff des Internets auf ein globales Netzwerk, das vielfältige Lebensrealitäten in unterschiedlicher Weise beeinflusst. Es gilt zu betonen, dass das Internet keine einheitliche oder homogene Entität darstellt, auch wenn die Formulierung ‚das Internet‘ darauf hindeuten könnte. Vielmehr ist es das Resultat verschiedener Akteur:innen, die von unterschiedlichen Interessen geleitet werden.
3 Sollfrank, Cornelia (Hrsg.): Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien: Transversal Texts, 2018, S. 8.
4 Die Idee eines feministischen Internets bezieht sich auf die Schaffung digitaler Cyberspaces, die frei von Geschlechterungleichheit, Diskriminierung und Gewalt sind, und in denen die Prinzipien des Feminismus in Technologie und Online-Interaktionen integriert werden. Dies beinhaltet oft auch die aktive Mitgestaltung digitaler Plattformen und Technologien durch feministische Aktivist:innen. Da in einschlägiger Literatur sowie in aktuellen Diskursen lediglich von einem „feministischen“ Internet die Rede ist, aber sein Gestaltungsprozess einer queerfeministische Perspektive zugrunde liegt, die auch Theorien der Queer Studies einbeziehen, wird im Folgenden von ‚queerfeministischen‘ Cyberspaces gesprochen. Siehe Hark, Sabine: „Queer Studies“, in: Christina von Braun/Inge Stephan (Hrsg.): Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln, 2005, S. 285-303.
5 Klipphahn-Karge, Michael/Ann-Kathrin Koster/Sara Morais dos Santos Bruss (Hrsg.): Queere KI: Zum Coming-out smarter Maschinen, 1. Aufl., Bielefeld: transcript, 2022, S. 20.
Technofeministische Kritik an techno-utopischen Vorstellungen
In den 1990er und 2000er Jahren wurde das Internet von frühen Cyberfeminist:innen als große Chance wahrgenommen, feministische und geschützte Räume zu erzeugen, die Dichotomien wie Technik/Geschlecht infrage stellen sowie neue Möglichkeiten der Sichtbarkeit und des Austausches für marginalisierte Gruppen schaffen.6 Diese techno-utopischen Vorstellungen werden u.a. von der Soziologin Judy Wajcman, eine der wichtigsten Vertreter:innen des Technofeminismus, kritisiert und weitergedacht. Innerhalb des von ihr geprägten technofeministischen Ansatzes, stützt sie sich auf die Ideen des Cyberfeminismus und entwickelt diese zu einem materialistischen Konzept weiter, das anders als der Cyberfeminismus auch Fragen nach der in Technologie eingebetteten Ungleichheiten und Privilegien inkludiert.7 Wajcman zufolge beziehe Technofeminismus zusätzlich Positionen des Schwarzen und postkolonialen Feminismus ein, der kritisiert, dass überwiegend die Anliegen weißer Frauen des globalen Nordens bei feministischen Fragestellungen im Vordergrund stehen:
Dies unterstreicht die Wichtigkeit einzubeziehen, wie Frauen und – wie ich an dieser Stelle hinzufügen möchte – FLINTA* (Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans und agender Personen) of Color je nach geologischer Lage und Diskriminierungserfahrung Technologien und Cyberspaces leben und erleben.
Nach Wajcman schreiben Cyberfeminist:innen der Technologie zu viel Handlungsfähigkeit zu, da sie neue Technologien als an sich transformativ betrachten, während der Technofeminismus auf einem Verständnis von Selbstermächtigung beruht: „Technofeminism is grounded in the understanding that only we can free ourselves.“9
Diese Selbstermächtigung wird jedoch erst notwendig, weil Technologien in patriarchalen, rassistischen und kolonialen Umgebungen geschaffen werden, deren einhergehende Diskriminierungsstrukturen im Code der Cyberspaces eingeschrieben sind. Weil der Historikerin für Technologie und Gender, Mar Hicks zufolge, solche Strukturen, in denen Computersysteme entstehen, demnach als Feature, nicht als Bug zu betrachten sind, und Technologie zusätzlich Sexismus, Rassismus und Kolonialismus begünstigt, können Cyberspaces keine Akteure in Veränderungsprozessen sein.10
6 Vgl. Drüeke, Ricarda: „Widerstand per Click und Hashtag: Protestbewegungen im Wandel“, in: Schwarzenegger, C., Koenen, E., Pentzold, C., Birkner, T. & Katzenbach, C. (Hrsg.): Digitale Kommunikation und Kommunikationsgeschichte: Perspektiven, Potentiale, Problemfelder, Berlin 2022, S. 278.
7 Vgl. Wajcman, Judy: TechnoFeminism, Cambridge, UK; Malden, MA: Polity Press, 2006, S. 127.
8 Ebd.
9 Ebd., S. 128.
10 Vgl. Hicks, Mar: „Sexism Is A Feature, Not A Bug, In: Thomas S. Mullaney“, in: Benjamin Peters/ Mar Hicks/Kavita Philip (Hrsg.): Your computer is on fire, Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 2021, S. 151 f.
Transformative Potenziale von Cyberspaces und technofeministischer Praxis
Positionen zu den transformativen Potenzialen von Cyberspaces sind im cyber- und technofeministischen Diskurs verschieden angelegt. Zwar kritisiert auch die Netzkünstlerin und Autorin Cornelia Sollfrank die mit dem Cyberfeminismus einhergehende nostalgisch-romantisierende Perspektive auf Cyberspaces, qualifiziert technofeministische Ansätze jedoch gleichzeitig zu einem bedeutsamen Mittel in Veränderungsprozessen.11 Technofeminismus im Alltag zu praktizieren bedeutet für Sollfrank, sich innerhalb der Technokultur für ein ‚gutes Leben für alle‘12 zu engagieren:
Das grundlegende Verhältnis zwischen Geschlecht und Technologie, das in beiden Bewegungen eine Schlüsselrolle spielt, lässt sich auf die Gedanken der feministischen Theoretikerin Donna Haraway zurückführen. Diese Ideen wurden erstmals in ihrem 1985 veröffentlichten Cyborg Manifesto ausführlich dargelegt. Darin zelebriert Haraway die Cyborg-Figur: Einen hybriden Organismus, der eine Verschmelzung von Mensch und Maschine darstellt und durch den binäre Vorstellungen überwunden werden können, die traditionelle Denkweisen über Geschlecht und Körperlichkeit geprägt haben: „It means both building and destroying machines, identities, categories, relationships, spaces, stories.“14 In diesem Kontext stehen Cyborgs symbolisch für die Befreiung von festgelegten Identitäten und starren sozialen Normen. Gleichzeitig bieten Cyberspaces die Möglichkeit, binäre Heteronormativität herauszufordern und von technisch versierten Cyber- bzw. Technofeminist:innen neu gestaltet zu werden.15
11 Vgl. Sollfrank, 2018, S. 12 f.
12 Siehe van Treeck, Katharina/Christoph Ambach: Das gute Leben für alle. Wege in die solidarische Lebensweise, München: oekom, 2019.
13 Sollfrank, 2018, S. 9.
14 Haraway, Donna: „A Manifesto For Cyborgs. Science, Technology And Socialist Feminism In The 1980“, in: Kwame Anthony Appiah/Mikhail Bakhtin/John Barth/Roland Barthes/Jean Baudrillard/Thomas Docherty et al. (Hrsg.): Postmodernism and the Contemporary Novel. A Reader, Edinburgh: Edinburgh University Press, 2002, S. 415.
15 Wajcman, 2006, S. 70.
Feministische Hacker:innen wenden diese technofeministischen Praktiken an, indem sie sowohl AFK-Räume (z.B. Hackspaces) als auch Cyberspaces (z.B. kollektive Twitter-Konten) kreieren. In diesen Räumen sollen ihre queerfeministischen und intersektionalen Werte repräsentiert werden sowie neue Praxen entstehen.16 In diesem Kontext ist ‚Hacking‘ nicht nur im technischen Sinn zu verstehen, sondern als Konzept, mit dem Systeme, wie beispielsweise Geschlechterbinarität, verändert werden können:
Feministisches Hacking vermittelt die Idee, dass die Umprogrammierung digitaler Technologien analog zur Umcodierung der im Geschlecht verankerten Werte steht. Dies führt zur Auffassung, dass Geschlecht als eine Art Technologie verstanden werden kann, während binäre Geschlechterzuordnungen und konventionelle Geschlechterkonzepte kritisiert werden. Verschiedene technofeministische Initiativen widmen sich der Konzeption eines (queer)feministischen Internets. Zu diesen gehört auch das Projekt der Feministischen Prinzipien des Internets (FPI).18 Diese Prinzipien entstanden erstmalig im Jahr 2014 auf dem von Association for Progressive Communications (APC) organisierten Treffen ‚Imagine a Feminist Internet‘. Beteiligt an den FPIs 1.0 waren vorwiegend Aktivist:innen aus dem globalen Süden. Seitdem befindet sich die Weiterentwicklung der FPIs in einem anhaltendem Prozess, an dem mittlerweile über 100 FLINTA*, queere Menschen sowie Vertreter:innen aus intersektional feministischen-, Menschenrechts- und Internet-Bewegungen partizipierten.19
Derzeit gibt es insgesamt 17 Prinzipien, die in fünf Clustern organisiert sind: 1) Zugang, 2) Bewegungen, 3) Wirtschaft, 4) Ausdruck und 5) Verkörperung. Gemeinsam bieten sie einen Rahmen für queerfeministische Bewegungen, um Fragen im Zusammenhang mit Technologie zu artikulieren und zu erforschen.
Als „Sinnbild für die Verqueerung alter Dichotomien“20 ebnet die Cyborg-Figur sowie technofeministische Ansätze den Weg für die Gestaltung von queerfeministischen Cyberspaces. Während die Feministischen Prinzipien des Internets eine spezifische Anwendung technofeministischer Ideen darstellen, nutzen sowohl feministische Hacker:innen als auch Glitch Feminist:innen das Schaffen und Aneignen digitaler Räume als technofeministische Praxis.
16 Vgl. Toupin, Sophie: „Feministisches Hacking. Widerstand durch das Schaffen neuer Räume“, in: Cornelia Sollfrank (Hrsg.), Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien: Transversal Texts, 2018, S. 55 f.
17 Ebd., S. 38.
18 Vgl. Feminist Internet: Feminist Principles of the Internet, in: Feminist Internet, 2016, www.feministinternet.org/principles, (abgerufen am 13.09.2023). Vergleiche außerdem die deutsche Übersetzung der Prinzipien in: Sollfrank, Cornelia, Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien: transversal, 2018, S. 123 ff.
19 Vgl. Sollfrank, 2018, S. 25.
20 Ebd., S. 11.
Error 404: Glitch Feminismus zur Gestaltung queerfeministischer Cyberspaces
Der Glitch Feminismus ist ein theoretisches Konzept und eine feministische Denkweise, die von der Autorin und Künstlerin Legacy Russell in ihrem Manifest Glitch Feminism: A Manifesto (2020) geprägt wurde. Dieses Paradigma konzentriert sich auf die Verbindung von Geschlecht, Technologie und Kunst und ist durch seine Prinzipien und Praktiken eng mit dem Technofeminismus verbunden. Im Folgenden wird das Konzept des Glitch Feminismus näher erläutert, gefolgt von einer Einordnung in technofeministische Praktiken, um die Verbindung beider Bewegungen herauszustellen.
Glitch Feminismus: Intersektionale Dekonstruktion von Gender und Widerstand im Digitalen
Russell verwendet den Begriff ‚Glitch‘ als Metapher für Diskontinuitäten und Unterbrechungen in digitalen Systemen, um auf die Fehler und Ungerechtigkeiten in traditionellen Geschlechter- und Identitätsnormen hinzuweisen: „A glitch is an error, a mistake, a failure to function.“21 Das Scheitern (failure) in einem System, das die eigene Identität einschränkt, fremdbestimmt und keinen Platz für marginalisierte Menschen hat, soll das binäre Geschlechtersystem zerbrechen lassen.22
Mit einem queerfeministischen und intersektionalen Blick adressiert Russell in ihrem Manifest hauptsächlich marginalisierte Menschen und insbesondere QTIPOC (queere, trans und inter people of color) und betont damit, dass Ungleichheiten in digitalen Sphären vor allem Menschen, die mehrfach diskriminiert werden, betreffen.
Glitch lässt sich als Befreiung von Gendernormen und gleichzeitig als Handlungsaufruf deuten, Widerstand gegen die Instrumentalisierung von Körpern im Kapitalismus zu leisten.23 Durch Nicht-Performen und das Verweigern, sich auf einen binären Körper (männlich oder weiblich) reduzieren zu lassen, strebt Glitch Feminismus an, die Vorstellung von Gender zu dekonstruieren und sich der Instrumentalisierung zu widersetzen.24 Digitale Räume werden zelebriert, weil sie die Möglichkeit eröffnen, neue Welten zu bilden, in denen marginalisierte Menschen Heimat finden können.25 Damit sieht Russel in digitalen Cyberspaces Chancen, die in der AFK-Welt auf diese Weise nicht gegeben seien:
Glitch Feminismus strebt an, die AFK-Welt mithilfe des Glitch anders zu sehen und auf diese Weise neue Handlungsspielräume für und durch sich selbst zu entwickeln.27 Russell zufolge könnte das dabei helfen, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wo queerfeministisch gehackt werden kann.28
21 Russell, Legacy: Glitch Feminism. A Manifesto, London, New York: Verso, 2020, S. 7.
22 Vgl. ebd., S. 77.
23 Vgl. ebd., S. 9.
24 Vgl. ebd., S. 8 ff.
25 Vgl. ebd., S. 11.
26 Ebd., S. 12.
27 Vgl. ebd., S. 8 f.
28 Vgl. ebd., S. 102.
Glitch als technofeministische Praxis
Russell deklariert Cyberfeminismus als Wegbegleiterin der Glitch-Politik.29 Gleichzeitig erkennt die Autorin die mit der techno-utopischen Perspektive einhergehenden Schwierigkeiten früherer Cyberfeminist:innen. Auch für sie sind digitale Sphären keine Orte, an denen alle in Harmonie und Frieden leben können. Russell vertritt eine technofeministische Position, indem sie die Frühgeschichte des Cyberfeminismus als einen weißen Feminismus problematisiert, der transnationale Solidarität ausschloss, während sie gleichzeitig das transformative Potenzial des Internets als Ort der Selbstverwirklichung, insbesondere für QTIPOC, hervorhebt.30 Infolgedessen können die Praktiken des Glitch Feminismus und technofeministische Ansätze miteinander verknüpft werden.
Glitch Feminist:innen hacken die ihnen auferlegten Diskriminierungs- und Machtstrukturen, mit denen sie täglich konfrontiert werden, indem sie den Status Quo attackieren.31 Verneinen ist als Widerstandspraxis des Glitch zu betrachten. Demnach ist Glitch immer auch mit einer Selbstermächtigung verbunden, was als zentrale Praktik herauszustellen ist. Diese Praxis der Handlungsfähigkeit könnte aus technofeministischer Perspektive mit der feministischen Selbstverteidigung zusammengebracht werden, die in einem von der Hacktivistin Spideralex zusammengestellten Text erörtert wird.32 Bei beiden Praktiken geht es darum, das Patriarchat durch Selbstfürsorge zu unterwandern, ihm dadurch seine Macht zu nehmen und dabei „stets in Bewegung zu bleiben“33. Russell nennt den Aufruf dazu, Stillstand zu verneinen, mobilisieren: „The glitch mobilizes. This is our task: to keep mobilizing, modifying, shapeshifting with pride.“34 Glitch Feminist:innen bleiben in Bewegung, um nicht einkategorisiert zu werden.
Kategorien wie Geschlechterbinaritäten werden sowohl im Technofeminismus als auch im Glitch Feminismus geghostet, das heißt ignoriert, kritisiert, verneint.35 Stattdessen gilt es, sich selbst zu definieren und den Akt des Benennens zurückzuerobern.36 Ein Beispiel dafür ist die Erstellung von Avataren, die es nach Russell ermöglichen, sich selbstbestimmt im digitalen Raum zu bewegen. Glitch Feminist:innen feiern auf diese Weise die Option, verschiedene Cybersexes – also virtuelle Gender-Performances – anzunehmen und somit vielfältige Identitäten zu verkörpern. Dieses Konzept wird von Russell als „Annahme multipler Selbste“37 beschrieben. Das Experimentieren und Ausprobieren als Praxis könne nach Russell Menschen empowern, in der Öffentlichkeit Identitäten mit „radikalem Potenzial“ einzunehmen.38
29 Vgl. Russell, 2020, S. 36 f.
30 Vgl. ebd., S. 20, S. 33.
31 Vgl. ebd., S. 11.
32 Vgl. Spideralex: „Neue Welten erfinden — mit cyberfeministischen Praxen und Ideen“, in: Cornelia Sollfrank (Hrsg.): Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien: Transversal Texts, 2018, S. 59–88.
33 Ebd., S. 64.
34 Russell, 2020, S. 129.
35 Vgl. ebd., S: 65 f.
36 Vgl. ebd., S. 74 ff.
37 Vgl. Russell, 2020, S. 18.
38 Vgl. ebd., S. 46 f.
Um das kodierte, also zugeschriebene Geschlecht unlesbar und unzugänglich zu machen, stellt Russell die Praxis des Verschlüsselns heraus, um Anonymität und Privatsphäre in digitalen Sphären herzustellen.39 Diese und weitere Praktiken des Glitch Feminismus sind auch in den feministischen Prinzipien des Internets (FPIs) zu finden, die zur Realisierung eines (queer)feministischen Internets entscheidend sind: Widerstand (4), Aufbau einer Bewegung (5), Internet Governance (6), Stärkung des feministischen Diskurses (9), Meinungsfreiheit (10), Privatsphäre und Daten (13), Anonymität (15) sind FPIs, die auch Russell als essenzielle Praktiken des Glitch herausstellt.40
Glitch Feminist:innen schaffen durch Intersektionalität Räume und vergemeinschaften sich in Netzwerken.41 Das Digitale wird als Möglichkeit betrachtet, neue Welten zu bauen und dadurch die eigene Welt zu verändern.42 Auf diese Weise wird es QTIPOC ermöglicht, Raum einzunehmen und ihr queeres Schwarzsein zu verstärken.43 Glitch Feminist:innen könnten in diesem Sinne auch als (queer)feministische Hacker:innen bezeichnet werden. Durch das Besetzen und Wiederaneignen von Cyberspaces wie digitalen Plattformen, strebt der Glitch als Praxis eine digitale Dekolonialisierung an.44
39 Vgl. ebd., S. 84 ff.
40 Vgl. Feminist Internet: Feminist Principles of the Internet, in: Feminist Internet, 2016, www.feministinternet.org/principles, (abgerufen am 13.09.2023). Vergleiche außerdem die deutsche Übersetzung der Prinzipien in: Sollfrank, Cornelia, Die schönen Kriegerinnen. Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert, Wien: transversal, 2018, S. 123 ff.
41 Vgl. Russell, 2020, 7, 56.
42 Vgl. ebd., S. 11.
43 Vgl. ebd., S. 12.
44 Vgl. ebd., S. 135, siehe Philip, Kavita: „The Internet will be docolonized“, in: Thomas S. Mullaney/Benjamin Peters/Mar Hicks u.a. (Hrsg.): Your computer is on fire, Cambridge, Massachusetts: The MIT Press, 2021, S. 91–115.
Unter Einbezug von Handlungsräumen in der AFK-Welt sowie digitaler Räume, könnte Glitch als System- und Gesellschaftskritik gefasst werden, die darauf abzielt, Geschlechterbinaritäten und Fremdzuschreibungen als Faktoren von Machthierarchien herauszufordern:
Russell nennt diese Praxis auch Remixen, durch die Hegemonien umgestaltet, weiterentwickelt und dadurch zurückgewonnen werden können.46 Daneben betrachtet Russell auch das Scheitern als einen transformativen Akt, der neue Wege eröffnen könnte.47
Die Betonung von Glitch als Utopie und Überlebensstrategie für marginalisierte, queere und Schwarze Körper hebt die Notwendigkeit hervor, Technologie nicht nur als ein Werkzeug zu betrachten, sondern als einen Raum des Wandels und der Ermächtigung. Diese Perspektive und die damit verbundenen Praktiken implizieren eine klare Verbindung zum Technofeminismus, wie in dessen Definition verankert. Beide Bewegungen setzen sich das Ziel, den Code von Gender zu hacken und Binaritäten verschwimmen zu lassen.
45 Russell, 2020, S. 10 f.
46 Vgl. Russell, 2020, S. 133-141.
47 Vgl. ebd., S. 30.
Potenziale und Herausforderungen des Glitch Feminismus für die Gestaltung eines (queer)feministischen Internets
Im folgenden Kapitel werden die Potenziale und Herausforderungen des Glitch Feminismus im Kontext der Gestaltung eines (queer)feministischen Internets eingehend beleuchtet. Dabei steht die Betrachtung im Fokus, wie die Grundsätze des Glitch Feminismus dazu beitragen können, digitale Räume gerechter, inklusiver und diverser zu gestalten. Ebenso werden die Hindernisse und kritischen Aspekte aufgezeigt, die sich bei der Umsetzung dieser Ansätze ergeben können.
Potenziale
Glitch Feminismus markiert das Internet als globale Möglichkeit für queere Ansätze, neue Sichtweisen und neue Welten.48 Indem queerfeministische Cyberspaces geschaffen und bereits bestehende digitale Räume besetzt werden, eröffnet sich die Möglichkeit zur Schaffung digitaler Safer Spaces49 für QTIPOC. Diese Räume bieten die Chance für Kollektivität und Selbstverwirklichung.50 In diesen Cyberspaces könnten QTIPOC zumindest vor der physischen Gewalt, mit der sie in der AFK-Welt konfrontiert werden, geschützt werden.51 Innerhalb dieser Safer Spaces könnten andere Realitäten verwirklicht werden, die anschließend auch auf die AFK-Welt übertragen werden können.52
In Cyberspaces müssen fehlkategorisierte und gelöschte Körper wie QTIPOC Russell zufolge für ihre eigene Sicherheit sorgen, indem sie sich als Glitch selbst zelebrieren.53 Damit hat Glitch Feminismus eine selbstermächtigende Kraft, die für marginalisierte Menschen identitätsstiftend und als Mittel zur Selbsterkenntnis genutzt werden kann.54
Schon in ihrem Cyborg Manifesto betont Haraway, dass die ständige Veränderung von Kategorien wie Gender, Race und Klasse Hoffnung darauf gebe, dass sich irgendwann neue Vorstellungen von diesen Kategorien ergeben können, die über Dichotomien hinaus existieren.55 An dieser Stelle knüpft das Konzept des Glitch an, denn hier sollen alle Kategorien für alle möglich werden.56 Nicht-Binarität hat das Potenzial, ein Befreiungsakt von Fremdzuschreibungen zu sein.57 Nicht binäre Menschen ‚glitchen‘, indem sie zwischen oder außerhalb von binären Zuschreibungen performen. Das Annehmen von multiplen Selbsten könnte als feministischer Akt, als selbstständige Befreiung aus einem unterdrückenden System gedeutet werden, bei dem ein aktiver Ausbruch aus der Gewalt des Othering58 erfolgt.59
Der Glitch Feminismus erkennt an, dass das Internet in unterdrückenden Machtstrukturen entstanden ist, sieht aber gleichzeitig die Notwendigkeit für QTIPOC, mit dem bereits bestehenden digitalen Material zu arbeiten, um zu flüchten und um zu überleben.60 Dass eine Verneinung des Systems möglich ist, indem Cyborgs innerhalb des Systems Widerstand leisten, in welchem sie entstanden sind, macht Haraway deutlich:
48 Vgl. ebd., S. 123.
49 Um zu verdeutlichen, dass eine Sicherheit in Räumen sowie ein diskriminierungsfreier Raum, in einer diskriminierenden Gesellschaft, nie vollständig garantiert werden können, wird in der vorliegenden Arbeit nicht von einem Safe Space (geschützter Raum), sondern einem Safer Space (geschützterer Raum) gesprochen.
50 Vgl. Russell, 2020, S. 124 f.
51 Vgl. ebd.
52 Vgl. Russell, 2020, S. 43.
53 Vgl. ebd., S. 27.
54 Vgl. ebd., S. 31.
55 Vgl. Haraway, 2002, S. 409.
56 Vgl. Russell, 2020, S. 123.
57 Vgl. ebd., S. 8.
58 Der Begriff ‚Othering‘ beschreibt die Distanzierung von einer Gruppe, die als ‚anders‘ oder ‚fremd‘ bezeichnet wird. Es entsteht ein Machtgefälle zwischen den Bennenden und den Benannten. Dabei werden z.B. Schwarze queere Menschen als homogene Masse betrachtet und damit auf gewaltsame Weise zusammengefasst.
59 Vgl. Russell, 2020, S. 21.
60 Vgl. ebd., S. 134.
61 Haraway, 2002, S. 398.
Die Praxis des Glitch könnte sich damit zum transformativen Akt qualifizieren, weil Glitch einen Systemsturz von innen heraus anstrebt, indem er als Fehler in die Maschine eingebaut wird, um diese zum Versagen zu bringen.62 Wie ein Computervirus im System trägt Glitch auf diese Weise das Potenzial in sich, den Kapitalismus handlungsunfähig zu machen, Widerstand gegen Gender zu leisten und durch Brüche Veränderungen herbeizuführen.63 Digitale Plattformen müssen demnach queerfeministisch vereinnahmt und besetzt werden, anstatt zuzulassen, dass QTIPOC weiterhin kapitalisiert werden.64
Diese und weitere Potenziale des Glitch erwecken Hoffnung nach Transformation bei der Gestaltung von queerfeministischen Cyberspaces. Herausforderungen ergeben sich allerdings unter anderem daraus, dass Russell in ihrem Manifest keine konkreten Schritte zur Umsetzung dieser Potenziale vorschlägt, was jedoch auf die Manifest-Natur von Russells Arbeit zurückzuführen ist, die eher dazu dient, ihre Ideen und Prinzipien darzulegen, anstatt detaillierte Handlungsanleitungen zu bieten.
Herausforderungen
Wie die Genderwissenschaftlerin Ute Kalender herausstellt, strebt Glitch Feminismus zwar ein Queering vom „Begriff des Monströsen“ an, wählt aber in diesem Kontext Begriffe wie beispielsweise „Fehler“, „Anti-Körper“ oder „herausfordernde, monströse Körper mit Spalten und Nähten“, mit denen Menschen mit Behinderung im Alltag auf eine gewaltsame Weise konfrontiert werden.65 Es gilt zu problematisieren, dass viele cyberfeministische Ansätze wie der Glitch Feminismus sowie Haraways Cyborg-Figur das Verhältnis zwischen Behinderung und Technologie idealisieren oder kaum eine Verknüpfung zwischen beiden herstellen:
62 Vgl. Russell, 2020, S. 141.
63 Vgl. ebd., S. 111-117.
64 Vgl. ebd., S. 24.
65 Vgl. Kalender, Ute: „Queer-crip Perspektiven auf die Cyborg-Figur im Kontext von Künstlicher Intelligenz“, in: Klipphahn-Karge, Michael/Ann-Kathrin Koster/Sara Morais dos Santos Bruss (Hrsg.): Queere KI: Zum Coming-out smarter Maschinen, 1. Aufl., Bielefeld: transcript, 2022, S. 108.
66
Wenn Russell über glitchende Körper schreibt, fokussiert sie sich dabei auf Schwarze queere Körper und FLINTA*-Personen, während in diesem Kontext kaum ein Bezug zu Menschen mit Behinderung hergestellt wird. Innerhalb ihrer Diskussion über Körper und Körperpolitik werden demnach nicht alle Diskriminierungsformen gleichermaßen inkludiert, was ihren intendierten intersektionalen Blick vor eine Herausforderung stellt. Das resultiert in einer anhaltenden Unsichtbarmachung von Menschen mit Behinderungen sowie ihrer geschlechtlichen Identität in cyber- und technofeministischen Theorien.
Russell identifiziert Nicht-Binarität als einen Glitch und sieht darin gleichzeitig eine bewusste Form der Verweigerung.67 Diese Perspektive impliziert jedoch, dass die Abkehr von der Geschlechterbinarität eine bewusste Entscheidung ist, was nicht immer der Realität entspricht, wie Alok Vaid-Menon, Autor:in und Künstler:in, betont: „Is it really a choice when you don’t get to select the options you are given to begin with?“68
Es muss also zwischen der Abwendung von Pronomen als bewusster politischer Akt und Nicht-Binarität als unausweichliches Identitätsmerkmal, welches immer auch mit Diskriminierung einhergeht, unterschieden werden.
Der Wechsel zwischen verschiedenen Cybersexes, der bei Russell zelebriert wird, wird von Wajcman kritisiert. Sie problematisiert das Annehmen von Identitäten, die nicht der eigenen Sozialisierung entsprechen, wenn das bedeutet, dass sich cis Männer Zugang zu digitalen Safer Spaces von Frauen verschaffen und ihnen auf diese Weise Schaden zufügen können:
Diese Differenzierung mag ihre Berechtigung haben, wenn es darum geht, FLINTA* oder Kinder in Cyberspaces vor Übergriffen zu schützen, allerdings darf durch diese Kritik nicht der Eindruck entstehen, dass der Wechsel von Cybersexes oder etwa die Identität von trans Menschen mit Kriminalität einhergehen. Für trans und nicht binäre Menschen kann es eine selbstermächtigende Wirkung haben, verschiedene Cybersexes im Internet anzunehmen oder sogar lebensnotwendig sein.
66 Ebd.
67 Vgl. Russell, 2020, S. 8.
68 Vaid-Menon, Alok: Beyond The Gender Binary, New York: Penguin Random House LLC, 2020, S. 10.
69 Wajcman, 2006, S. 69.
Der politische Akt der Selbstermächtigung steht im Fokus von Russells Ansatz. Auch wenn Russell die Wichtigkeit von Solidarität und Allyship anmerkt, könnte der Eindruck entstehen, dass hauptsächlich marginalisierte Gruppen allein in der Verantwortung stehen, sich gegen die sie unterdrückenden Machtstrukturen aufzulehnen. Insbesondere privilegierte weiße, cisgender Menschen ohne Behinderung sollten bei der Destabilisierung patriarchaler Strukturen in die Pflicht genommen werden: „Rather than dreaming of a flight from the body, feminism has argued for men to be fully embodied and take their share of emotional, caring and domestic work.“70 Für Wajcman sollte die vollständige Verkörperung von Männern und nicht wie für Russell das Ausbrechen aus dem eigenen Körper durch eine alternative Identität im Cyberspace gefordert werden. Ein wichtiger Aspekt, der betont werden sollte, ist die Verantwortung heterosexueller cis Männer für die queerfeministische Transformation des Internets.
Die Methode, Veränderungen innerhalb des Systems anzustreben, statt das gesamte System zu transformieren, bietet Potenziale, aber auch Herausforderungen für ein queerfeministisches Internet. Aktuelle politische Strukturen behandeln Fragen der Gleichstellung und digitale Aspekte oft getrennt voneinander, was transformative Veränderungen erschwert.71
Ebenso verweisen die von vorwiegend weißen cis Männern geschaffenen Infrastrukturen der digitalen Plattformen auf die sich weiter verstärkenden unterdrückenden Machtstrukturen: „Such technological systems have little incentive to push back against sexism and racism and a strong profit motive to look the other way, or even to lean into them.“ 72
Auch Russell problematisiert die Infrastruktur virtueller Räume, denn Technologie ist rassistisch angelegt und verstärkt die Dominanz der weißen Narrative.73 Trotzdem spricht Russell von einer Unbegrenztheit74 digitaler Räume, die jedoch nicht gegeben sein kann, wenn diskriminierende Strukturen gleiche Chancen auf Aneignung und Umdeutung für alle verhindern. Das Hervorheben einer Unbegrenztheit signalisiert fälschlicherweise eine Chancengleichheit für alle, die sich an eine neoliberale, individualistische Vision von Zukunft klammert à la ‚jede:r ist in der Lage alles zu schaffen‘ – eine verkürzte Sicht darauf, wem die Möglichkeit von gesellschaftlicher Teilhabe in Bezug auf transformative Veränderungen in einer neokolonialen, patriarchalen und kapitalistischen Welt vorbehalten ist. Marginalisierte Menschen haben oft keinen Zugang oder die technischen Kenntnisse, um digitale Räume auf transformative Weise zu schaffen oder zu nutzen. Bei der Untersuchung der queerfeministischen Gestaltung des Internets muss deshalb immer die Frage nach der Einbeziehung und möglichen Ausgrenzung der Akteur:innen gestellt werden.
70 Wajcman, 2006, S. 77.
71 Chander, Sarah: A [love] letter to [black and brown] [queer] and [disabled] [feminists], [dreaming] [beyond] AI, in: Dreaming About AI, o. D., https://www.dreamingbeyond.ai/de/e/pluriverse/refusal/a-letter-to-ai, (abgerufen am 13.09.2023).
72 Hicks, 2021, S. 137.
73 Vgl. Russell, 2020, S. 25 f.
74 Vgl. ebd., S. 151.
Fazit
In dieser Untersuchung wurde der Glitch Feminismus als technofeministische Praxis in Bezug auf seine Rolle bei der Destabilisierung patriarchaler Strukturen im Internet und der Schaffung queerfeministischer Räume untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass Glitch Feminismus eine Erweiterung von cyberfeministischen Ansätzen darstellt, indem er Schwarze, queere Perspektiven auf das Internet einbezieht, um Cyberspaces zu schaffen und die Sichtbarkeit marginalisierter Menschen zu erhöhen. Dieses Verständnis von Glitch Feminismus harmoniert mit den Ideen des Technofeminismus, der die Notwendigkeit betont, Technologie als einen Ort des Wandels und der Ermächtigung zu sehen.
Es wurde aufgezeigt, dass Technologien einerseits verschiedene Möglichkeiten für queere und marginalisierte Gruppen eröffnen, sich selbst zu benennen, Räume zu schaffen und bestehende Räume einzunehmen, was ein Potenzial für gesellschaftliche Transformation bietet. Andererseits können diese Technologien auch von Menschen genutzt werden, die Diskriminierung und Marginalisierung forcieren. Der Kampf um Raum und Sichtbarkeit, den wir in der AFK-Welt erleben, setzt sich in digitalen Räumen fort. Glitch Feminismus, obwohl voller Potenziale, bezieht einige Lebensrealitäten, wie beispielsweise Menschen mit Behinderungen, nicht ausreichend in seine Überlegungen und Praxis ein und gerät dadurch, trotz Bemühungen um intersektionale Sichtbarmachung, an seine Grenzen.
Insgesamt fordert Russell durch ihre Arbeit Feminist:innen und queere Theoretiker:innen dazu auf, das Internet als legitimen Raum für Theorie, Gemeinschaft und Identität zu betrachten. Dies verdeutlicht, wie antirassistische und queere Feminismen digital zum Ausdruck kommen können und bereits existieren. Dennoch bleibt die Verantwortung, die Sichtbarkeit marginalisierter Körper im Digitalen sicherzustellen, nicht allein bei diesen Gruppen. Es bedarf der Unterstützung von Verbündeten, die Dichotomien und Binaritäten aufbrechen, ohne in alte, cyberfeministische Verhaltensmuster zu verfallen und den Glitch Feminismus zu einem Werkzeug des weißen Aktivismus zu machen. Dies erfordert ein tiefes Verständnis für technofeministische Ideen und die Anerkennung der Bedeutung glitchender Körper in digitalen Räumen.
Leider konnte aufgrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit keine umfassende Betrachtung des Themas der digitalen Dekolonialisierung erfolgen. Zudem sind für eine tiefere Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Cyber- bzw. Technofeminismus und Ableismus auf die aufschlussreichen Arbeiten von Ute Kalender und Heike Raab zu verweisen.
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