Die Digitalisierung erstreckt sich seit einigen Jahren zunehmend auf nahezu alle Lebensbereiche und so ist sie mit all ihrem Dafür und Dagegen auch Teil von aktivistischen Tätigkeiten geworden. Besonders in der Corona Pandemie ist die Bandbreite und das Know How über digitale Tools für Online Konferenzen gestiegen und das Potential wurde erkannt, nicht für jedes Treffen weite Wege auf sich zu nehmen. Informationstechnologien ermöglichen es Paradigmen und Narrative einem breiten, teils internationalen Publikum zur Verfügung zu stellen, Virale Öffentlichkeiten können effektiven Druck auf Politiker*innen und Gesellschaften ausüben. International vernetzen sich Interessengruppen und die ubiquitäre Möglichkeit, Informationen per Smartphone abzurufen und einzustellen, ist in den meisten Gesellschaften weltweit in kulturelle Praxis übergegangen. Dennoch schreibt die Mitbegründerin des #BlackLivesMatter über die Beziehung von digitalen Technologien und Aktivismus folgendes:
“Die Technologie gibt uns die Möglichkeit, uns miteinander zu vernetzen, doch es gibt auch Belege dafür, dass Technologie de facto stärker zur Isolation geführt hat (…). Außerdem habe ich den Verdacht, dass die unablässige Flut von Informationen, mit denen wir alle Tag für Tag bombardiert werden, uns unter Umständen abstumpfen lässt gegenüber deren Auswirkungen und uns von den Dingen wegrückt, die da draußen, in unseren eigenen Communities, gerade passieren (…) und zwar nicht nur für eine Minute oder zwei in eurer Timeline, sondern für ein ganzes Leben oder über Generationen.”
(Garza, 2020: S.296)
Von Beginn an ist das World Wide Web Austragungsort für und von Aktivist*innen. So wird zum einen eine große Hoffnung in die Demokratisierung von Bildung durch mehr Informationsfreiheit gesetzt, als auch die Chance globaler Vernetzungsmöglichkeiten für eine ‘bessere’ Gesellschaft gesehen.
Für eine erste Annäherung auf die Auswirkung der Digitalisierung auf aktivistische Tätigkeiten werden im folgenden die Bereiche Digitalisierung, Aktivismus und Öffentlichkeiten näher betrachtet. Anhand der Black Lives Matter Bewegung wird der Frage nachgegangen, was Außerdem hinter dem Erfolg internationaler Öffentlichkeiten liegt und welchen Teil die Digitalisierung dazu beigetragen hat.
Drei Ausgangspunkte:
Öffentlichkeiten für gesellschaftliche Transformation
Wie kommen Öffentlichkeiten zustande und warum sind sie für eine ökosoziale Transformation so wichtig? Der Designer, Schreiber, Forscher und Professor Carl DiSalvo behandelt in einem Aufsatz von 2009 die Frage nach Design und der Konstruktion von Öffentlichkeiten. Öffentlichkeiten seien keine von vornherein existierenden Massen, sie seien nicht durch Klassenzugehörigkeiten definiert, sondern würden um Themen herum ins Leben gerufen. Dies passiere entweder, wenn gesellschaftliche Probleme eine ausreichend große, aber unbestimmte Menge an Individuen tangierten oder Themen ganz gezielt immer wieder durch Akteure gepusht würden. Für beides gilt: Bevor sich eine Gesellschaft verändere, brauche es eine handlungsfähige Öffentlichkeit. Themen selbst können jedoch keine Öffentlichkeit herstellen. (DiSalvo, 2009) Dies impliziert auch, dass Themen durch Akteure zu Problemen gemacht werden können, die eigentlich keine sind. Ebenso hängt die Entstehung einer Öffentlichkeit, trotz tatsächlicher Probleme, wenn sie eine Minderheit betrifft, von der Größe der betroffenen Gruppe bzw. ihrer Verbündeter ab. DiSalvo bezieht sich auf den amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey der 1927 schrieb:
“An inchoate public is capable of organization only when indirect consequences are perceived, and when it is possible to project agencies which order their occurrence. At present, many consequences are felt rather than perceived; they are suffered, but they cannot be said to be known, for they are not, by those who experience them, referred to their origins. It goes then without saying that agencies are not established which canalize the streams of social action and thereby regulate them, Hence publics are amorphous and unarticulated.”
(Dewey, 1927: S. 131)
Die Digitalisierung, die mehr als alles andere ein gewaltiges Ordnungssystem ist, müsste diese Wirkungsmacht auch auf beginnende Öffentlichkeiten haben. In der Theorie müssten durch die Digitalisierung die Öffentlichkeiten schärfer und artikulierter und somit handlungsfähiger geworden sein. Folgen von Problemen sollten heute, wo es doch theoretisch möglich ist, sich über alles zu informieren, keine Gefühlssache mehr sein.Dennoch führen DiSalvo und Dewey, auf ihr jeweiliges Zeitalter anspielend, aus, dass die indirekten Folgen (damals) des Maschinenzeitalters und (heute) der Digitalisierung immer komplexer werden und die Probleme, in einem Wirrwarr untergehen, in denen sich nicht ausreichend mit ihnen identifiziert wird (DiSalvo, 2009).
Trotz der ubiquitären Informationsmöglichkeiten und der Berechnung allerlei komplexer Statistiken ist der Streit zur Gewinnung von Öffentlichkeiten um Ursachen von Problemen nach wie vor ein Tauziehen verschiedener Lager. Für Strategien einer ökosozialen Transformation spielen Gegenhegemonien, nicht-reformistischen Reformen von Institutionen,Freiraumstrategien und Widerstand leisten1 in gesellschaftlichen Diskursen eine wichtige Rolle (Vetter/Schmelzer, 2019). Die Transformationsforscher*innen Vetter und Schmelzer führen aus:
“Zum einen setzt die Verallgemeinerung der Nowtopias gesamtgesellschaftliche Veränderungen voraus. Zum anderen aber ist die Durchsetzung radikaler Reformen auf den Aufbau von Gegenhegemonien angewiesen, um Brüche in bestimmten Gesellschaftsbereichen durchzusetzen. Dieser Aufbau von Gegenhegemonien wiederum hängt eng zusammen mit der Ausbreitung von Newtopias und verwandten sozialen Beziehungen.”
(Vetter/Schmelter, 2019: S.222)
Vor diesem Hintergrund, ist Aktivismus als Instanz zur Herstellung von Öffentlichkeiten genauer zu betrachten und es ist zu berücksichtigen, wie sich der Handlungsraum durch die Digitalisierung erweitert, verschoben und verkompliziert hat.
1Dr. Andrea Vetter hat Widerstand in ihrer Vorlesung im WiSe 21/22 als vierte Transformationsstrategie ergänzt.
Ein kurzer Überblick über Aktivismus:
Der Begriff Aktivismus oder die Bezeichnung Aktivist taucht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in philosophischen Kreisen auf und meint damit zunächst Personen und deren Tätigkeiten, die bezwecken, in der Gesellschaft eine bestimmte Weltanschauung zu etablieren. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden vor allem nationalsozialistische und im pro-deutsche Sinne besonders engagierte Personenkreise als Aktivisten hervorgehoben und als solche in der Nachkriegszeit des 2. Weltkrieges, im Gegensatz zu den Mitläufern, als Mitschuldige eingestuft2. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts wird die Zuschreibung des Begriffes immer weniger an Parteien und institutionelle Machtstrukturen angeknüpft, sondern etabliert sich mehr und mehr als Bezeichnung jeglichen Engagements für gegenhegemoniales Bestreben in gesellschaftlichen Machtverhältnissen (Harm, 2022).
In Bezug auf die Digitalisierung umreißen Maik Fielitz und Daniel Staemmler in dem Themenheft: Digitaler Aktivismus: Hybride Repertoires zwischen Mobilisierung, Organisation und Vermittlung fünf Varianten des digitalen Aktivismus. Diese Varianten ordnen Sie zwei Kategorien zu:
Klick-Aktivist*innen, Hashtag-Aktivist*innen und Kampagnen-Aktivit*innen bemühten sich in digitalen Kommunikationsräumen Wandel über Diskurshegemonien zu erreichen, in dem a) Individuen auf Petitionsplattformen und Social Media durch Klicken Spenden, Unterschreiben und Veröffentlichen, sich b) Schwärme auf Sozialen Medien, im dark social und in Messaging-Diensten durch Hashtags zu Themen Solidarisieren, Debattieren, Propagieren und Manipulieren und/oder c) Gruppen und Organisationen Kampagnen über Interne Plattformen, Soziale Medien, und Messaging-Diensten Organisieren, Mobilisieren und Berichten (Staemmler/Fielitz, 2020). Diese erste Kategorie ist, spätestens für Digital-Natives, ohne größere Hürden zugänglich und aus aktivistischen Tätigkeiten heute kaum wegzudenken, doch sie hat auch ihre Tücken.
Im Erreichen und Mobilisieren großer Öffentlichkeiten ist jede neue Plattform schneller, jedoch auch schnelllebiger. TikTok zum Beispiel ist eine Plattform, auf der Nutzer*innen in rascher Folge kurze Videoclips gezeigt werden. Die Algorithmen greifen hier nach wenigen Minuten des durchscrollens bereits auf die angezeigten Inhalte ein und ermitteln innerhalb kürzester Zeit das angebliche Interessengebiet der Nutzer*innen. Die Diversität der Inhalte wird so innerhalb von wenigen Klicks auf ein Minimum reduziert. Zusätzlich reduziert diese Art von Plattform durch ihre schnelllebigen und kurzweiligen Klips sowohl die Komplexität der Themen als auch das Aufmerksamkeitsvermögen ihrer Nutzer*innen und übt stattdessen einen Suchtfaktor durch Dopaminausschüttung aus, sodass die Nutzer*innen möglichst lange auf der Plattform festgehalten werden.
Hashtags wiederum ermöglichen, auf Social Media durch das Setzen einer (zu deutsch) Raute Taste vor einen Begriff, dafür zu sorgen, dass andere Menschen auf derselben Plattform den Beitrag finden können. Nutzen innerhalb kürzester Zeit viele Menschen denselben Hashtag, wird auch davon gesprochen, dass der Hashtag viral geht. De facto hat sich eine Öffentlichkeit gebildet, die auch außerhalb der Plattform über das Thema spricht.
2Deweys Aussage folgend (s.o.), konnte die Not- und Existenzangst der Nachkriegsbevölkerung von den Propagandist*innen um Hitler leicht ausgenutzt werden. Allzu leicht gewannen hier Pro-Deutsche Aktivist*innen den Diskurs um den behaupteten Ursprung der Probleme und gewannen so eine gefährliche Öffentlichkeit für die fehlerhafte und folgenschwere Schuldhaftmachung einer Gruppe.
Weit weniger öffentlich zugänglich ist die zweite Kategorie, die Digitale Räume selbst zum Austragungs- und Gestaltungsort machen. Dieser ordnen Fielitz und Staemmler zum einen den Hacktivismus, der sowohl in offenen als auch geschlossenen Kollektiven durch Software, eigene Geschlossene Systeme und das Darknet Hacking, Leaking und DDoSing betreibt und zum anderen den Tech-Aktivismus, der in Produktionsgemeinschaften Software, Dienste und alternative Plattformen designt, codiert und betreibt, zu (Staemmler/Fielitz, 2020).
Für Hacker*innen stellt das Internet einen Raum dar, der neue, vielfältige Möglichkeiten bietet. Das Internet als neu aufkommendes interaktives Medium wird zu Beginn als Chance gesehen; durch neue kollektive Handlungsweisen sei es möglich, Einzelne aus ihrer Passivität zu befreien (Solfrank, 2018: S.16). Code galt und gilt in diesen Kreisen als Gemeinschaftsgut und wurde als solches auch nicht geheim gehalten. Nach wie vor brennende Anliegen für diese zweite Kategorie des Digitalen Aktivismus sind, Information und digitale Kommunikation vor kapitalistischer Akkumulation zu schützen und beides für die Demokratisierung der Gesellschaft zu nutzen. Auf sie laufen z.B. Plattformen wie Indymedia, Signal und Wikileaks zurück.
Alle fünf Varianten hätten große Überschneidungsmengen, seien nicht voneinander trennbar und würden erst in der Kombination miteinander und dem Analogen ihre Wirksamkeit entfalten (Staemmler/Fielitz, 2020).
Im digitalen Raum werden von Beginn an dieselben Kämpfe, die ohnehin bereits in der Gesellschaft vorhanden sind, ausgetragen. Die Ausrichtungen früher Hacker-Manifeste sind so pluralistisch, wie auch die Aktivismen selbst. Zum Beispiel bemühen sich eine Vielzahl queerfeministischer Gruppen und Personen, digitale Räume gegen die zunehmend patriarchale Vereinnahmung zu verteidigen (Solfrank, 2018).
Digitalisierung als Mittel zum Zweck
Digitalisierung ist eine Umschreibung der Kulturalisierung3 in der fortlaufend immer neue, auf binärem Code aufbauende Technologien zum Handwerkszeug ganzer Gesellschaften werden. Wichtig zum Verständnis und im Hinterkopf zu behalten, ist der Ursprung digitaler Architektur in der Kriegsforschung. Auch heutige Entwicklungen immer schnellerer Möglichkeiten des Datenaustausches sind vor allem dem Finanzmarkt zu verdanken. Doch die umgangssprachliche Verwendung des Begriffs Digitalisierung impliziert vor allem die Technologisierung und Datafizierung ehemals analoger Lebensbereiche.
Die Fähigkeit, mit dieser Art neuer Technologien umgehen zu können, wurde lange auch Medienkompetenz genannt, ein neuerer Begriff dazu ist die Digital Literacy (Morisco, 2022). Die Spannweite reicht hier von Personen, die den Unterschied zwischen der Datei auf dem eigenen Computer und den Daten aus dem Internet kaum verstehen, bis zum Programmieren eigener und dem Hacken fremder Software.
Je nach Kompetenz der*des User*in und Komplexität der Plattform, ist es hier möglich, an gesellschaftlichen Zusammenkünften online teilzunehmen, Social Media für die eigenen Zwecke nutzen oder eben auch eine Form von Ausschluss zu erleben. Es kann auch eine sehr bewusste Entscheidung sein, sich gänzlich von Social Media und somit ein Stück weit von sozialer Teilhabe auszuschließen. Gründe dafür sind etwa ein bewusster Umgang mit den eigenen Daten oder dem nicht eins werden wollen mit bestimmten Anbieter*innen.
Dass die eigenen Daten auf verschiedenen online Plattformen und Portalen nicht sicher sind und dass durch die Nutzung eben jener Seiten auch andere Informationen, die Menschen gar nicht eigenständig an die Plattform weiterreichen, gelesen werden, ist beinahe ins Allgemeinwissen übergegangen, doch wie sich Menschen vor genau dieser Art der Datenüberwachung schützen können ist in der Regel nicht oder nur in Fachspezifischen Kreisen bekannt. Auf der anderen Seite können sich Aktivist*innen Global online zusammentun und ermöglichen, beispielsweise durch das Projekt Snowflake4, Menschen im Iran das Umgehen staatlicher Zensur im Internet. Auch das ist erfolgreicher Internationaler Aktivismus. Hier hat aktivistisches Handeln deswegen Erfolg, weil es durch die Digitalisierung um das angestrebte Problem eine Öffentlichkeit bilden konnte.
3“Unter Kulturalisierung wird die Praxis verstanden, Kultur als wesentliche, zentrale und determinierende Erklärung für (individuelle) Handlungen, Einstellungen, Verhaltensweisen, Konflikte oder Ausdrucksweisen zu verstehen.” (IDA am 28.03.23)
Zwischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten durch die Digitalisierung tun sich insgesamt für progressive Aktivist*innen Widersprüche auf, wie von der Autorin und Kuratorin Legacy Russel treffend formuliert:
“The paradox of using platforms that grossly co-opt, sensationalize, and capitalize on POC, female-identifying, and queer bodies (…) as a means of advancing urgent political or cultural dialogue about our struggle (…) is one that remains impossible to ignore. At these fault lines surface questions of consent — yours, mine, ours — as we continue to “opt-in,” feeding our ‘selves’ (…) into these channels.”
(Russell, 2020: 1 5/10 // 19,25%)
Nicht nur das Handwerkszeug, das Menschen gebrauchen, sondern auch die meisten ihrer gesellschaftlichen Details und zwischenmenschlicher Aushandlungen sind Teil der Digitalisierung geworden.
Beispielsweise Black Lives Matter
Um die Zusammenwirkung von Aktivismus und Digitalisierung auf die Öffentlichkeit an einem Beispiel zu paraphrasieren, hier eine Zusammenfassung über die Entstehung der Bewegung, die Rolle der digitalen Medien darin und die Resonanz dessen in der Gesellschaft.
Problemlage
Hintergrund sind zahllose sinnlose und völlig grundlose Morde an Schwarzen Menschen teilweise durch weiße Zivilist*innen, die sich in den USA durch das ‘Stand-Your-Ground’ Gesetz rechtfertigen, und vor allem aber auch Polizist*innen, die klar und deutlich zeigen, dass die rassistische Gewaltbereitschaft und Vorverurteilung nicht nur strukturell, sondern auch institutionell ist. Dabei wurden diese Morde über Jahrzehnte als Einzelfälle abgetan, es wurde behauptet aus Notwehr gehandelt zu haben, Beweismaterial von Zeug*innen zu Gunsten der Opfer von der Judikative als nicht eindeutig oder ungütlig definiert. Wird doch mal eine Person verantwortlich gemacht, wird lediglich auf fahrlässige Tötung plädiert und die Strafen fallen verschwindend gering aus. Sind Polizist*innen an der Tat beteiligt, sind Urteile zu Gunsten der Opfer beinahe unmöglich, sofern sie überhaupt bis ins Gericht durchdringen. Für rassifizierte Personen ist die Staatsgewalt Polizei kein Schutz, sondern im Zweifelsfall lebensbedrohlich – die Möglichkeit, durch eine simple Polizeikontrolle zu sterben, ist so tödlich und willkürlich wie russisch Roulette. Alles andere als Zufällig ist die Herauspickung rassifizierter Personen für Kontrolle selbst. Je weißer die Staatsmacht, je prekärer das Viertel, desto eher sind Polizist*innen Feind*innen und teilweise Mörder*innen für die Schwarzen Gesellschaften. Dazwischen gibt es Abstufungen – es ist zusätzlich auch noch eine Frage von Klasse. Immer wieder wird dabei nicht den Täter*innen die Schuld für diese Umstände zugesprochen, sondern es werden die Opfer kriminalisiert und ihr eigenes Verhalten als Ursache der Probleme angezeigt. #BlackLivesMatter startet in den USA, Opfer von diesen rassistischen Strukturen sind besonders Schwarze Jugendliche und Männer in Amerika und Europa.
Hegemonie – Gegenhegemonie. Eine über die Minderheitsgruppe der Betroffenen hinaus existierende Öffentlichkeit gab es lange nicht. Vorherrschende Meinung war (und ist es teils immer noch) die Opfer seien hier mehr oder weniger selber schuld und sollten sich ja bloß richtig bilden, arbeiten gehen und sich ordentlich verhalten. Rassismus pur also.
Auslösendes Moment nach Garza
Auch der Mörder von Trayvon Martin (26. Februar 2012) wird am 13. Juli 2013 für nicht schuldig gesprochen. Trayvon Martin ist im Alter von 17 Jahren auf dem Heimweg vom Einkaufen beim Telefonieren erschossen worden. Der Mörder war damals 28 und Mitglied einer nicht-staatlichen Bürgerwehr (Garza, 2020).
Die Aktivistin Alicia Garza Twittert am Tag in der Nacht nach der Urteilsverkündung mehrere Beiträge, darunter auch “#Blacklivesmatter” (Samstag, 13. Juli 2013, 19:14) und “black people, I love you. I love us. Our lives matter.” (Samstag, 13. Juli 2013, 19:19) (Garza, 2020: S.156/157).
Bis zum nächsten Tag habe es eine regelrechte Explosion gegeben, landesweit wurde zu Proteste aufgerufen, #BlackLivesMatter wurde auf Twitter und Facebook wiederverwendet und stand vielerorts auf den Schildern von Demonstrant*innen. Zusammen mit Eltern und Kindern, im Laden eines Freundes, hat sie einen weiteren Tweet zu Black Lives Matter verfasst (ebd.). Dieser ist für die Überlegungen zum Entstehen handlungsfähiger Öffentlichkeiten inhaltlich besonders interessant:
“Ich hoffe, irgendjemand widerlegt die Vorstellung, dass sich die Welt verändert, wenn nur wir uns endlich ändern — was so gut wie nichts darüber sagt, was diese Einrichtungen, die unsere Kinder hinter Gittern und unter die Erde bringen, erschüttern könnte. Ich höre das heutzutage immer wieder, und es ärgert mich, dass wir uns selbst die Schuld für Zustände geben, die wir nicht geschaffen haben. Hört auf damit. Vor allem Schwarzen Menschen STEHT ES NICHT ZU, diese alte Leier abspulen.
KOLLEKTIVES HANDELN wird die Welt, in der wir leben, verändern, nicht die Ermächtigung eines Einzelnen. Und obwohl ein gemeinsamer Spirit hinter uns steht, geschieht dies nicht, ohne dass wir uns auch gegenseitig den Rücken stärken. Ich glaube an individuelle Veränderung; ich arbeite jeden Tag daran, mich selbst weiterzuentwickeln. Aber Leuten zu sagen, dass sie sich freiwillig engagieren sollen, wird nichts an strukturellem bzw. institutionellem Rassismus ändern. Und wenn wir Schwarzen Menschen behaupten, dass wir unser individuelles Verhalten ändern sollen, lassen wir dabei eine ganze Menge Leute für ihr Verhalten vom Haken. Das wissen wir mit Sicherheit. Schwarze Menschen sind sich dessen absolut bewusst. (Sonntag, 14. Juli 2013, 14:50 Uhr)”
(Garza, 2020: S 166-167)
Garza beschreibt, was Dewey 1927 als Hinderungsgrund handlungsunfähiger Öffentlichkeiten deklarierte. Zwar werden die Folgen von Rassismus von den betroffenen Communities wahrgenommen, doch wurde zu lange die Schuld bei sich selbst gesucht und sich dem hegemonial Narrativ angepasst. Durch die im Tweet Folgende klare Adressierung eines Ursprungs und den Aufruf, sich Kollektiv für dessen Veränderung einzusetzen, entsteht hier das Potenzial, das Auftreten einer beginnenden Öffentlichkeit zu ordnen. Eine Kollektive Öffentlichkeit Betroffener Menschen von Strukturellem und Institutionellem Rassismus zu etablieren ist im übrigen nicht unbedingt trivial; es mag den weißen Täter*innen vielleicht nicht auffallen, doch die Öffentlichkeit um die verursachten Probleme ist auch hier durchaus heterogen.
Um so wichtiger ist die Aktivistische Instanz, die sich offiziell ein Jahr später gründet, doch die aktivistische Arbeit für die Black Lives Matter Kampagne beginnt für Garza gemeinsam mit Patrisse Cullors und Opal Tometi noch in derselben Woche. Die drei Schwarzen Frauen sind zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre aktiv im Kampf um die soziale Gerechtigkeit benachteiligter Gruppen, haben sich darüber bereits kennengelernt und freundschaftliche Beziehungen aufgebaut. Die Führungsstruktur von Black Lives Matter wird dezentral angelegt, das Standing hinter dem Hashtag betrifft klar und deutlich die oben dargelegten Probleme für Schwarze Gemeinschaften und das Ziel ist es, hier eine Verbesserung zu erreichen (ebd).
Wie Menschen lokal mobilisiert werden können
Infolge des Mordes durch einen Polizisten an Michael Braun am 9. August 2014, wächst in Ferguson ein weitgehend friedlicher Aufstand heran, auf den mit Tränengas und Soldaten in Kampfkleidung reagiert wird. Black Lives Matter ist eines von vielen Aktionsbündnissen, die sich in der Folge in den Widerstand bewegen und sich mit der Schwarzen Gemeinschaft in Ferguson solidarisieren (ebd.). Damit an einem nationalen ‘Weekend of Resistance’, auch die lokalen Anwohner*innen teilnehmen, wurde, so Garza, innerhalb von zehn Tagen mit mehr als 1500 Personen gesprochen. Die 1000, die letztlich zusagen, seien nicht einfach so erreicht worden (ebd.):
“Wir änderten das Vorgehen, weil es nicht so einfach war, die Menschen wirklich in die Bewegung einzubinden, wenn man ihnen nur ein Flugblatt überreichte und von den Siegen erzählte, die wir bereits bei anderen Kampagnen errungen hatten. (…) Wir brauchten keine Stimmenbewerber*innen – wir brauchten Aktivist*innen.Im Team begannen wir eine andere Methode zur Basisbildung zu entwickeln, als von Tür zu Tür zu gehen. (…) Jeder Person wurde ein Gebiet zugeteilt (…), innerhalb dessen Bereich sie an jede Tür klopfen sollte. Unsere Anweisungen lauten, die Leute zu einer Hausversammlung einzuladen, mit ihnen über ihre Erlebnisse (…) zu sprechen und sie zu bitten, sich der Bewegung anzuschließen.”
“Wir änderten das Vorgehen, weil es nicht so einfach war, die Menschen wirklich in die Bewegung einzubinden, wenn man ihnen nur ein Flugblatt überreichte und von den Siegen erzählte, die wir bereits bei anderen Kampagnen errungen hatten. (…) Wir brauchten keine Stimmenbewerber*innen – wir brauchten Aktivist*innen.Im Team begannen wir eine andere Methode zur Basisbildung zu entwickeln, als von Tür zu Tür zu gehen. (…) Jeder Person wurde ein Gebiet zugeteilt (…), innerhalb dessen Bereich sie an jede Tür klopfen sollte. Unsere Anweisungen lauten, die Leute zu einer Hausversammlung einzuladen, mit ihnen über ihre Erlebnisse (…) zu sprechen und sie zu bitten, sich der Bewegung anzuschließen.”
(Garza, 2020, S.178-180)
Jeden Tag habe man sich über die Fehlversuche des Vortages ausgetauscht, es haben Gesprächsübungen und Rollenspiele stattgefunden, und es wurden 50 dieser Hausversammlungen organisiert. An dieser Arbeit seien lediglich 17 Personen beteiligt gewesen, die alle nicht in den Medien zu sehen waren. (Ebd.)
Deutlich an dieser Schilderung der Arbeit zum Aufbau einer Bewegung wird, dass diese nicht durch einen simplen Hashtag auf einer Social Media Plattform entsteht. Immer wieder betont Garza, dass nicht Hashtags, sondern Menschen Gesellschaft in Bewegung bringen und wie wichtig die Beziehungsarbeit ist, insbesondere wenn versucht wird, eine Heterogene Gruppe, in der viele Meinungsverschiedenheiten existieren, um den Punkt zusammen zu bringen, der sie alle verbindet und den sie nur gemeinsam bekämpfen können.
“Das Bedeutet, dass man als Aktivist*in verschiedenen Teilen der hinter einem stehenden Community hilft, etwas über die Geschichte des jeweils anderen zu erfahren und dessen Menschlichkeit anzunehmen, um alle Mitglieder anzuspornen, gemeinsam für etwas zu kämpfen. Aktivist*innen versuchen, über ihre eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten hinauszuwachsen, und ermutigen gleichzeitig andere, dasselbe zu tun. (…) Und sie müssen sich damit beschäftigen, das ständige Rätsel zu lösen, wie man genug Macht aufbauen kann, um die Bedingungen zu verändern, durch die Menschen im Elend leben müssen”
(Garza, 2020: S.89)
Über sieben Jahre lang geht die kontinuierliche Arbeit, an der viele lokale Graswurzelbewegungen und andere Bündnisse beteiligt sind, weiter. Währenddessen kommt es immer wieder zu Morden an Schwarzen Menschen, worauf die Bewegung an Fahrt aufnimmt.
Rolle der digitalen Medien und des Plattform-Aktivismus
In der ganzen Zeit, von den Protesten 2013 bis heute, spielten, bei allem dafür und dagegen, auch die Sozialen Medien eine wichtige Rolle. Sie wurden dazu genutzt, die Proteste anzuheizen, sie boten national und international partizipative Möglichkeiten für einen öffentlichen Diskurs und sie boten eine globale Reichweite für direkte Berichterstattungen aus der Bewegung.
Soziale Medien fördern wechselseitigen Austausch und geben die Möglichkeit, niederschwellig die eigene Sichtweise darzustellen. Die Hoffnung, früher Hacker Kollektive, dass Menschen durch das Internet die eigene Geschichte darstellen können, hat sich hier erfüllt. Durch das aufkommen von Smartphone mit Kamera wurden über Jahre lokale Geschehnisse teilweise Live verfolgt und Videos über die verübte Gewalt von weißen Polizist*innen an Schwarzen Menschen wurden über Social Media verbreitet. Nicht länger lag die Macht über die Geschichtsschreibung bei Staatsbeamt*innen und Intendant*innen westlicher Gesellschaften, die noch immer überwiegend weiß besetzt sind.
Die Linearität weißer Erzählweise wurde bewusst durchbrochen:
“[Opal Tometi] hat das Geschehen online verfolgt, meinen Hashtag gesehen und sich von meiner Beschreibung angesprochen gefühlt. (…) wir sprachen darüber, einen Raum zu schaffen, in dem Menschen online miteinander in Verbindung treten konnten, um schließlich offline gemeinsam handeln zu können.”
(Garza, 2020: S.168)
Bald wurden Social-Media-Kanäle erstellt. Neben der Sicherung einer Internet-Domain entstanden eine Facebook- und eine Tumblr-Seite sowie ein Twitter- und ein Instagram- Account (ebd). Von nun an beginnt ein medienwirksames Zusammenspiel aus dem Teilen eigener Geschichten von Betroffenen auf Tumblr, dem Vernetzen und Austauschen dieser Menschen auf Facebook und dem Veröffentlichen von Fällen aus dem ganzen Land durch Black Lives Matter.
Die Diskursmacht über die inhaltliche Besetzung des Hashtags zu behalten, wurde mit steigender Wahrnehmung und Reichweite der Bewegung eine immer wichtigere und komplexere Arbeit. Hierbei spielt in der Social Media Strategie für Black Lives Matter die Frage, ob Menschen, unter der Berücksichtigung der politischen Werte, für den persönlichen Fame von der Bewegung profitieren wollen, oder ob sie sich für den Fame der Bewegung profilieren.
Die Gründer*innen von BLM wollten eigentlich nicht in den Vordergrund der Bewegung treten und nur im Hintergrund agieren, doch dann sind andere Organisationen, auch solche Schwarzer Menschen, auf den Zug aufgesprungen und begannen sich sowohl mit der Gründung von BLM zu profilieren, als auch — und das ist aus sicht der Gründerinnen viel Problematischer — Werte zu vertreten, die nicht mit denen von #BLM übereinstimmen (ebd). Zum Beispiel ist es ihnen wichtig, nicht zu vergessen, dass vor allem Frauen diese Bewegung tragen. In der medialen Öffentlichkeit habe Garza nur deswegen eine der Führungsrollen eingenommen, um zu verhindern, dass BLM für von einer “sehr bekannten Mainstream-Bürgerrechtsbewegung” vereinnahmt wurde, welche “die dahinterstehenden politischen Werte und Ansichten diskreditierte“ (Garza, 2020: S.333).
Schon vor der Digitalisierung gab es früher oder später einzelne, meistens männliche, Personen, die dann in der Öffentlichkeit als Führungspersonen — und somit als besonders Wichtig für die Bewegung — wahrgenommen wurden. Diese Rolle einzunehmen, obwohl gleichzeitig der Anspruch von BLM ist, Hierarchien abzubauen und zu dezentralisieren, sei nicht einfach gewesen.
“Technologie und der Aufstieg der sozialen Medien haben diese Frage noch komplexer gemacht. Nicht nur unser Verständnis von Führung hat sich verschoben, sondern auch unser Verständnis davon, welche Verantwortlichkeiten Anführer*innen zukommen. Plattformen, Podeste und Profile sind lediglich neue Versionen alter Modelle.”
(Garza, 2020, S.331)
Der mediale Aufbau einer Marke wurde im Kräftemessen um den genauen Diskurs und das Aufrechterhalten bestimmter Werte für die Bewegung von Beginn an unerlässlich (ebd). Doch Garza ermahnt, dass die Macht von Influencer*innen, die Millionen erreichen können, zwar gewaltig sei, doch immer wieder die Frage gestellt werden müsse, für wen und wofür Menschen diese Art von Plattform-Aktivismus betreiben (ebd).
Über George Floyd, der am 25. Mai 2020 durch einen Polizisten erstickt wurde, berichtet Garza in ihrer Erzählung zum Aufbau der Black Lives Matter Bewegung nicht mehr. In einem Artikel über ein Interview, das Führung heute nicht aussieht wie Martin Luther King, heißt es bei The Guardian:
“It might seem odd to step away from a movement just as it goes mainstream, but Garza isn’t someone who wants to bask in her past achievements; it frustrates her how many times she’s been asked the same questions about Black Lives Matter. She’s focused on changing the future rather than rehashing the past.”
(Mahdawi, 2020)
In der Wahrnehmung der internationalen Öffentlichkeit beginnt die Geschichte der Bewegung teilweise erst in dem Moment, als Handyaufnahmen über die Ermodung George Floyds Viral gingen. Diesmal sind auch weiße Menschen Teil der Öffentlichkeit. Die Bundeszentrale für Politische Bildung legt die Vermutung nahe, dass dieser Umstand der Corona Pandemie verschuldet war, da die Menschen zur Tatzeit im Lockdown auf die Wahrnehmung der Welt durch digitale Medien reduziert wurden (Kopp, 2022).
Was hat sich geändert?
Über Black Lives Matter gibt es noch abertausend mehr Geschichten und Details zu erzählen, zudem ist auch Garzas Erzählung hier in der Zusammenfassung stark verkürzt.
Als am 2. November 2013 Renisha McBride nachts an eine Tür klopft und um Hilfe in einem Autounfall zu bitten, wird ihr unter der Behauptung von Notwehr in den Kopf geschossen. Obwohl es BLM bereits ins Fernsehen geschafft hatte, war es erst der Druck durch erneute Proteste und Kundgebungen vor Ort, der den Fall überhaupt zur Anklage brachten. Dieses Mal wurde der Mörder zu mindestens 17 Jahren Gefängnis verurteilt (Garza, 2020). Auch der Mörder von George Floyd wurde trotz 19 Jähriger Polizei-Karriere zu 22,5 Jahren Haft verurteilt (dpa, 2021), . Zwei Einzelfälle, in denen die durch BLM geschaffene Öffentlichkeit dafür gesorgt hat, dass nicht weggeschaut werden kann.
Doch die Polizeigewalt gegen Schwarze hat nicht von heute auf morgen nachgelassen. Eine Dokumentation von Arte zeigt eher das Gegenteil auf und beschreibt die von der Polizei ausgehende Gefahr, besonders für Schwarze Menschen in Frankreich. Es ist nach wie vor erschreckend (Bellwinkel, 2020).
Positiv ist, dass der Diskurs über Rassismus wieder aufgenommen wurde und die diskrimminierung Schwarzer Gesellschaften sichtbarer geworden ist. Erst wenn Probleme wahrgenommen werden, kann ein Transformationsprozess beginnen.
Hadija Haruna-Oelker schreibt noch im Juli 2020 in einem Beitrag für die Heinrich-Böll-Stiftung, dass die Debatte neue Fahrt aufgenommen habe, Böden aufgerissen würden, nach Schulungen gefragt würde und die Notwendigkeit des Nachholbedarfes zum Vorschein träte. Etwas habe sich bereits in der kurzen Zeit (in Deutschland) verändert. Und es wurde eine neue Forderung formuliert berichtet sie:
“‘Erzählt ihr jetzt mal’, riefen die Journalist*innen Malcolm Ohanwe und Josepine Aparaku Nicht-Betroffene dazu auf, sich mit dem eigenen Weißsein zu beschäftigen und ihre Privilegien in Frage zu stellen. Die Buchtitel von Alice Hasters ‘Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten’ und Tupoka Ogettes ‘Exit Racism’ schnellten in der Bestseller-Liste nach oben.”
(Haruna-Oelker: 2020)
Es bleibt zu hoffen, dass es nicht die Einschränkungen der Corona Pandemie waren, die #BLM haben Viral gehen lassen, denn für zukünftige Kampagnen ist das keine geeignete Transformationsstrategie.
Digitale Gesellschaft während Corona und Learnings
Im Diskurs um eine ökosoziale Transformation und zukunftsweisende Gesellschaften geht es immer wieder um ‘Banden bilden’, miteinander ins Gespräch kommen, einander zuhören.
Dass die digitalen Kontakte, trotz aller Netzwerk-Versprechen des World Wide Web, eine Tendenz zur Vereinsamung aufweisen, ist nicht erst seit der Corona-Pandemie bekannt. Jedoch hat die zeitweise notwendige Reduzierung auf beinahe ausschließlich digitale Räume zur Begegnung von Gruppen gravierend gezeigt, wie sehr Menschen auf den physischen Kontakt zu anderen angewiesen sind.
Auch die Gefahren zum Blasen bilden, gab es schon vor Corona. Das Ergebnis, wenn Teilöffentlichkeiten einander nicht mehr begegnen, ist ein Übergehen von einer Teilöffentlichkeit in eine Echokammer, in der Menschen nur noch ihrer eigenen Meinung begegnen. Echokammern sind dabei teils genauso erfolgreich globalisiert, wie die oben genannten Erfolge aktivistischen Handelns. Die gefährlichsten dieser Echokammern sind sogenannte Rabbit holes (Wiles, 2020). Von progressivem Aktivismus ist hier keine Spur.
Immer deutlicher wird heute, dass und wie Online/Offline sich Dualismen in feinster Donna Haraway Manier auflösen, da beide Räume nicht mehr wirklich unabhängig voneinander existieren.
Das situationsbedingte Experiment, den Lebensalltag über zwei Jahre beinahe ausschließlich in digitale Räume zu verlegen, lässt zumindest für diejenigen, die in dieser Zeit zuhause bleiben mussten, Visionen a la Mark Zuckerbergs Metaversum zu Albträumen werden. Dennoch hat das ‘Experiment’ Zugang verschafft. Für eine junge Mutter war es Online einfacher, an Vorlesungen teilzunehmen. Ringvorlesungen an weit
entfernten Universitäten waren plötzlich erreichbar usw. Das Bewusstsein um die ubiquitär verfügbaren Möglichkeiten, die digitale Organisations-Tools hergeben, ist gestiegen.
Für Aktivist*innen ist es einfacher geworden, sich interessen spezifisch über mehrere Räume hinweg zu engagieren. Allerdings fehlt dann ggf. die Zeit, sich auch noch in lokalen Ortsgruppen zu engagieren. Unabhängig davon ist es wichtig, in digitalen Räumen, gerade bei kollektiver aktivistischer Zusammenarbeit, die Beziehungsebenen nicht zu vergessen. Dafür gilt es für diese Form der Zusammenarbeit immer wieder (digitalen) Raum zu schaffen und neue Spielarten zu entwickeln.
Fazit und Ausblick
Für eine globale und ökosoziale Transformation der Gesellschaften ist durch die Digitalisierung die Herstellung globaler Öffentlichkeiten mit Wirkmacht möglich. Im Kräftezehren um Hegemonien und Gegenhegemonien ob der Ursachen von Problemen ist es hilfreich, dass sich globale Interessengruppen miteinander vernetzen können. Solche globalen Öffentlichkeiten können dafür sorgen, dass betroffene Menschen nicht mehr als Einzelfälle abgetan werden, sondern in einer Art globaler Kollektivität gemeinsam gegen Sexismus und Rassismus auf die Straße gehen.
Für die breite Öffentlichkeit wirken virale Hashtags oft wie plötzlich erscheinende Phänomene, die weltweit Menschen für ein Thema zusammenbringen. Genau das ist auch eine durchaus positive Eigenschaft. Allerdings ist es keinesfalls so, dass Hashtags ohne lokale Basis Bewegungen dieselbe Wirkung haben können.
Eine klare Kehrseite des Kampfes um den Aufbau und die Möglichkeit globaler Öffentlichkeiten ist die große Menge an sozialer und ökologischer Probleme weltweit, die miteinander zusammenhängen und in deren gegenseitiger Komplexität es für empathische und engagierte Menschen leicht ist, sich bis zur Hoffnungslosigkeit zu verlieren und auf Grund von Überforderung aufzugeben. Die ubiquitäre Sichtbarkeit birgt die Gefahr, machtlos zu erstarren. Auch ist hier ein Widerspruch zwischen großen digitalen Öffentlichkeiten und der Unterbesetzung der Kernarbeit aktivistischer Bewegungen vorhanden. Näher betrachtet, wirft dies die Frage ob und wo die Konsument*innen Sozialer-Netzwerke von Aktivismus tatsächlich durch nachhaltige Resonanzerfahrungen aktiviert werden.
Alicia Garza hebt hervor, wie wichtig gute Verbündete sind und wie wichtig es für Aktivist*innen ist, ein gutes Beziehungsnetz aufzubauen. Das aber leidet in der Tiefe unter der Verschiebung von Zusammenarbeit in digitale Räume. Wie ist es möglich, die Chancen digitaler Räume zur globalen Vernetzung und Information zu nutzen, ohne in Überforderungsspiralen hinein zu geraten und ohne direkte und nachhaltige Beziehungsarbeit zu vernachlässigen? Fridays for Future ist nun bald seit fünf Jahren aktiv. Fridays for Future ging deutlich schneller viral als Black Lives Matter, doch zuletzt verschwand der Zuspruch und das Verständnis in Teilen der deutschen Gesellschaft. Nach der reiflichen Auseinandersetzung mit dem Aufbau der Black Lives Matter Bewegung frage ich mich, ob die Aufmerksamkeits-Strategie über den Kampf im öffentlichen Raum überhaupt aufgehen kann, wenn all diese direkten Gespräche nicht stattfinden. Vielleicht könnte es zusätzlich Sinnvoll sein, mit dem Klingeln an Haustüren zu beginnen, und Menschen in direkten Gesprächen dabei zuzuhören, wie sie begreifen, dass der Klimawandel auch ihr Leben betrifft.
Hadija Haruna-Oelker (22.Juli 2020). In Bewegung: Die neue Rassismus-Debatte. Heinrich Böll Stiftung https://heimatkunde.boell.de/de/2020/07/22/in-bewegung-die-neue-rassismus-debatte
Legacy Russel (2022). Glitch Feminism, A Manifesto. Verso (E-Pub).
Raphael Morisco (2022). Digitale Literacy als ‚neue‘ Medienkompetenz mit einer Prise IT-Sicherheit – ein Blick auf den tertiären Bildungssektor am Beispiel der Medienwissenschaft. In: Marci-Boehncke, G., Rath, M., Delere, M., Höfer, H. (eds) Medien – Demokratie – Bildung. Ethik in mediatisierten Welten. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-36446-5_10
Volker Harm (Oktober 2022). Wortgeschichte zu Aktivist, ZDL https://www.zdl.org/wb/wortgeschichten/Aktivist
Cornelia Sollfrank (2018). Die schönen Kriegerinnen, Technofeministische Praxis im 21. Jahrhundert. transversal.at
Maik Fielitz/Daniel Staemmler (2020). Hashtags, Tweets, Protest? Varianten des digitalen Aktivismus in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen. De Gruyter
Matthias Schmelzer/Andrea Vetter (2019). Degrowth/Postwachstum zur Einführung. Junius
John Dewey (1927). The Public and Its Problem. Swallow Press Books, Henry Holt & Company
Carl Di Salvo (2009). Design and the Construction of Publics in: Design Issues: Volume 25, Number 1. Massachusetts Institute of Technology
Text von Sophia Seidenzahl
Seminar: Digitale Kulturen und Nachhaltigkeit
bei Dr. Paul Feigeldeld
von Sophia Seidenzahl
Einleitung:
Die Digitalisierung erstreckt sich seit einigen Jahren zunehmend auf nahezu alle Lebensbereiche und so ist sie mit all ihrem Dafür und Dagegen auch Teil von aktivistischen Tätigkeiten geworden. Besonders in der Corona Pandemie ist die Bandbreite und das Know How über digitale Tools für Online Konferenzen gestiegen und das Potential wurde erkannt, nicht für jedes Treffen weite Wege auf sich zu nehmen. Informationstechnologien ermöglichen es Paradigmen und Narrative einem breiten, teils internationalen Publikum zur Verfügung zu stellen, Virale Öffentlichkeiten können effektiven Druck auf Politiker*innen und Gesellschaften ausüben. International vernetzen sich Interessengruppen und die ubiquitäre Möglichkeit, Informationen per Smartphone abzurufen und einzustellen, ist in den meisten Gesellschaften weltweit in kulturelle Praxis übergegangen. Dennoch schreibt die Mitbegründerin des #BlackLivesMatter über die Beziehung von digitalen Technologien und Aktivismus folgendes:
Von Beginn an ist das World Wide Web Austragungsort für und von Aktivist*innen. So wird zum einen eine große Hoffnung in die Demokratisierung von Bildung durch mehr Informationsfreiheit gesetzt, als auch die Chance globaler Vernetzungsmöglichkeiten für eine ‘bessere’ Gesellschaft gesehen.
Für eine erste Annäherung auf die Auswirkung der Digitalisierung auf aktivistische Tätigkeiten werden im folgenden die Bereiche Digitalisierung, Aktivismus und Öffentlichkeiten näher betrachtet. Anhand der Black Lives Matter Bewegung wird der Frage nachgegangen, was Außerdem hinter dem Erfolg internationaler Öffentlichkeiten liegt und welchen Teil die Digitalisierung dazu beigetragen hat.
Drei Ausgangspunkte:
Öffentlichkeiten für gesellschaftliche Transformation
Wie kommen Öffentlichkeiten zustande und warum sind sie für eine ökosoziale Transformation so wichtig? Der Designer, Schreiber, Forscher und Professor Carl DiSalvo behandelt in einem Aufsatz von 2009 die Frage nach Design und der Konstruktion von Öffentlichkeiten. Öffentlichkeiten seien keine von vornherein existierenden Massen, sie seien nicht durch Klassenzugehörigkeiten definiert, sondern würden um Themen herum ins Leben gerufen. Dies passiere entweder, wenn gesellschaftliche Probleme eine ausreichend große, aber unbestimmte Menge an Individuen tangierten oder Themen ganz gezielt immer wieder durch Akteure gepusht würden. Für beides gilt: Bevor sich eine Gesellschaft verändere, brauche es eine handlungsfähige Öffentlichkeit. Themen selbst können jedoch keine Öffentlichkeit herstellen. (DiSalvo, 2009) Dies impliziert auch, dass Themen durch Akteure zu Problemen gemacht werden können, die eigentlich keine sind. Ebenso hängt die Entstehung einer Öffentlichkeit, trotz tatsächlicher Probleme, wenn sie eine Minderheit betrifft, von der Größe der betroffenen Gruppe bzw. ihrer Verbündeter ab. DiSalvo bezieht sich auf den amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey der 1927 schrieb:
Die Digitalisierung, die mehr als alles andere ein gewaltiges Ordnungssystem ist, müsste diese Wirkungsmacht auch auf beginnende Öffentlichkeiten haben. In der Theorie müssten durch die Digitalisierung die Öffentlichkeiten schärfer und artikulierter und somit handlungsfähiger geworden sein. Folgen von Problemen sollten heute, wo es doch theoretisch möglich ist, sich über alles zu informieren, keine Gefühlssache mehr sein.Dennoch führen DiSalvo und Dewey, auf ihr jeweiliges Zeitalter anspielend, aus, dass die indirekten Folgen (damals) des Maschinenzeitalters und (heute) der Digitalisierung immer komplexer werden und die Probleme, in einem Wirrwarr untergehen, in denen sich nicht ausreichend mit ihnen identifiziert wird (DiSalvo, 2009).
Trotz der ubiquitären Informationsmöglichkeiten und der Berechnung allerlei komplexer Statistiken ist der Streit zur Gewinnung von Öffentlichkeiten um Ursachen von Problemen nach wie vor ein Tauziehen verschiedener Lager. Für Strategien einer ökosozialen Transformation spielen Gegenhegemonien, nicht-reformistischen Reformen von Institutionen, Freiraumstrategien und Widerstand leisten1 in gesellschaftlichen Diskursen eine wichtige Rolle (Vetter/Schmelzer, 2019). Die Transformationsforscher*innen Vetter und Schmelzer führen aus:
Vor diesem Hintergrund, ist Aktivismus als Instanz zur Herstellung von Öffentlichkeiten genauer zu betrachten und es ist zu berücksichtigen, wie sich der Handlungsraum durch die Digitalisierung erweitert, verschoben und verkompliziert hat.
1 Dr. Andrea Vetter hat Widerstand in ihrer Vorlesung im WiSe 21/22 als vierte Transformationsstrategie ergänzt.
Ein kurzer Überblick über Aktivismus:
Der Begriff Aktivismus oder die Bezeichnung Aktivist taucht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in philosophischen Kreisen auf und meint damit zunächst Personen und deren Tätigkeiten, die bezwecken, in der Gesellschaft eine bestimmte Weltanschauung zu etablieren. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden vor allem nationalsozialistische und im pro-deutsche Sinne besonders engagierte Personenkreise als Aktivisten hervorgehoben und als solche in der Nachkriegszeit des 2. Weltkrieges, im Gegensatz zu den Mitläufern, als Mitschuldige eingestuft2. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts wird die Zuschreibung des Begriffes immer weniger an Parteien und institutionelle Machtstrukturen angeknüpft, sondern etabliert sich mehr und mehr als Bezeichnung jeglichen Engagements für gegenhegemoniales Bestreben in gesellschaftlichen Machtverhältnissen (Harm, 2022).
In Bezug auf die Digitalisierung umreißen Maik Fielitz und Daniel Staemmler in dem Themenheft: Digitaler Aktivismus: Hybride Repertoires zwischen Mobilisierung, Organisation und Vermittlung fünf Varianten des digitalen Aktivismus. Diese Varianten ordnen Sie zwei Kategorien zu:
Klick-Aktivist*innen, Hashtag-Aktivist*innen und Kampagnen-Aktivit*innen bemühten sich in digitalen Kommunikationsräumen Wandel über Diskurshegemonien zu erreichen, in dem a) Individuen auf Petitionsplattformen und Social Media durch Klicken Spenden, Unterschreiben und Veröffentlichen, sich b) Schwärme auf Sozialen Medien, im dark social und in Messaging-Diensten durch Hashtags zu Themen Solidarisieren, Debattieren, Propagieren und Manipulieren und/oder c) Gruppen und Organisationen Kampagnen über Interne Plattformen, Soziale Medien, und Messaging-Diensten Organisieren, Mobilisieren und Berichten (Staemmler/Fielitz, 2020). Diese erste Kategorie ist, spätestens für Digital-Natives, ohne größere Hürden zugänglich und aus aktivistischen Tätigkeiten heute kaum wegzudenken, doch sie hat auch ihre Tücken.
Im Erreichen und Mobilisieren großer Öffentlichkeiten ist jede neue Plattform schneller, jedoch auch schnelllebiger. TikTok zum Beispiel ist eine Plattform, auf der Nutzer*innen in rascher Folge kurze Videoclips gezeigt werden. Die Algorithmen greifen hier nach wenigen Minuten des durchscrollens bereits auf die angezeigten Inhalte ein und ermitteln innerhalb kürzester Zeit das angebliche Interessengebiet der Nutzer*innen. Die Diversität der Inhalte wird so innerhalb von wenigen Klicks auf ein Minimum reduziert. Zusätzlich reduziert diese Art von Plattform durch ihre schnelllebigen und kurzweiligen Klips sowohl die Komplexität der Themen als auch das Aufmerksamkeitsvermögen ihrer Nutzer*innen und übt stattdessen einen Suchtfaktor durch Dopaminausschüttung aus, sodass die Nutzer*innen möglichst lange auf der Plattform festgehalten werden.
Hashtags wiederum ermöglichen, auf Social Media durch das Setzen einer (zu deutsch) Raute Taste vor einen Begriff, dafür zu sorgen, dass andere Menschen auf derselben Plattform den Beitrag finden können. Nutzen innerhalb kürzester Zeit viele Menschen denselben Hashtag, wird auch davon gesprochen, dass der Hashtag viral geht. De facto hat sich eine Öffentlichkeit gebildet, die auch außerhalb der Plattform über das Thema spricht.
2 Deweys Aussage folgend (s.o.), konnte die Not- und Existenzangst der Nachkriegsbevölkerung von den Propagandist*innen um Hitler leicht ausgenutzt werden. Allzu leicht gewannen hier Pro-Deutsche Aktivist*innen den Diskurs um den behaupteten Ursprung der Probleme und gewannen so eine gefährliche Öffentlichkeit für die fehlerhafte und folgenschwere Schuldhaftmachung einer Gruppe.
Weit weniger öffentlich zugänglich ist die zweite Kategorie, die Digitale Räume selbst zum Austragungs- und Gestaltungsort machen. Dieser ordnen Fielitz und Staemmler zum einen den Hacktivismus, der sowohl in offenen als auch geschlossenen Kollektiven durch Software, eigene Geschlossene Systeme und das Darknet Hacking, Leaking und DDoSing betreibt und zum anderen den Tech-Aktivismus, der in Produktionsgemeinschaften Software, Dienste und alternative Plattformen designt, codiert und betreibt, zu (Staemmler/Fielitz, 2020).
Für Hacker*innen stellt das Internet einen Raum dar, der neue, vielfältige Möglichkeiten bietet. Das Internet als neu aufkommendes interaktives Medium wird zu Beginn als Chance gesehen; durch neue kollektive Handlungsweisen sei es möglich, Einzelne aus ihrer Passivität zu befreien (Solfrank, 2018: S.16). Code galt und gilt in diesen Kreisen als Gemeinschaftsgut und wurde als solches auch nicht geheim gehalten. Nach wie vor brennende Anliegen für diese zweite Kategorie des Digitalen Aktivismus sind, Information und digitale Kommunikation vor kapitalistischer Akkumulation zu schützen und beides für die Demokratisierung der Gesellschaft zu nutzen. Auf sie laufen z.B. Plattformen wie Indymedia, Signal und Wikileaks zurück.
Alle fünf Varianten hätten große Überschneidungsmengen, seien nicht voneinander trennbar und würden erst in der Kombination miteinander und dem Analogen ihre Wirksamkeit entfalten (Staemmler/Fielitz, 2020).
Im digitalen Raum werden von Beginn an dieselben Kämpfe, die ohnehin bereits in der Gesellschaft vorhanden sind, ausgetragen. Die Ausrichtungen früher Hacker-Manifeste sind so pluralistisch, wie auch die Aktivismen selbst. Zum Beispiel bemühen sich eine Vielzahl queerfeministischer Gruppen und Personen, digitale Räume gegen die zunehmend patriarchale Vereinnahmung zu verteidigen (Solfrank, 2018).
Digitalisierung als Mittel zum Zweck
Digitalisierung ist eine Umschreibung der Kulturalisierung3 in der fortlaufend immer neue, auf binärem Code aufbauende Technologien zum Handwerkszeug ganzer Gesellschaften werden. Wichtig zum Verständnis und im Hinterkopf zu behalten, ist der Ursprung digitaler Architektur in der Kriegsforschung. Auch heutige Entwicklungen immer schnellerer Möglichkeiten des Datenaustausches sind vor allem dem Finanzmarkt zu verdanken. Doch die umgangssprachliche Verwendung des Begriffs Digitalisierung impliziert vor allem die Technologisierung und Datafizierung ehemals analoger Lebensbereiche.
Die Fähigkeit, mit dieser Art neuer Technologien umgehen zu können, wurde lange auch Medienkompetenz genannt, ein neuerer Begriff dazu ist die Digital Literacy (Morisco, 2022). Die Spannweite reicht hier von Personen, die den Unterschied zwischen der Datei auf dem eigenen Computer und den Daten aus dem Internet kaum verstehen, bis zum Programmieren eigener und dem Hacken fremder Software.
Je nach Kompetenz der*des User*in und Komplexität der Plattform, ist es hier möglich, an gesellschaftlichen Zusammenkünften online teilzunehmen, Social Media für die eigenen Zwecke nutzen oder eben auch eine Form von Ausschluss zu erleben. Es kann auch eine sehr bewusste Entscheidung sein, sich gänzlich von Social Media und somit ein Stück weit von sozialer Teilhabe auszuschließen. Gründe dafür sind etwa ein bewusster Umgang mit den eigenen Daten oder dem nicht eins werden wollen mit bestimmten Anbieter*innen.
Dass die eigenen Daten auf verschiedenen online Plattformen und Portalen nicht sicher sind und dass durch die Nutzung eben jener Seiten auch andere Informationen, die Menschen gar nicht eigenständig an die Plattform weiterreichen, gelesen werden, ist beinahe ins Allgemeinwissen übergegangen, doch wie sich Menschen vor genau dieser Art der Datenüberwachung schützen können ist in der Regel nicht oder nur in Fachspezifischen Kreisen bekannt. Auf der anderen Seite können sich Aktivist*innen Global online zusammentun und ermöglichen, beispielsweise durch das Projekt Snowflake4, Menschen im Iran das Umgehen staatlicher Zensur im Internet. Auch das ist erfolgreicher Internationaler Aktivismus. Hier hat aktivistisches Handeln deswegen Erfolg, weil es durch die Digitalisierung um das angestrebte Problem eine Öffentlichkeit bilden konnte.
3 “Unter Kulturalisierung wird die Praxis verstanden, Kultur als wesentliche, zentrale und determinierende
Erklärung für (individuelle) Handlungen, Einstellungen, Verhaltensweisen, Konflikte oder Ausdrucksweisen
zu verstehen.” (IDA am 28.03.23)
4 Siehe auch: https://support.torproject.org/de/censorship/what-is-snowflake/
Zwischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten durch die Digitalisierung tun sich insgesamt für progressive Aktivist*innen Widersprüche auf, wie von der Autorin und Kuratorin Legacy Russel treffend formuliert:
Nicht nur das Handwerkszeug, das Menschen gebrauchen, sondern auch die meisten ihrer gesellschaftlichen Details und zwischenmenschlicher Aushandlungen sind Teil der Digitalisierung geworden.
Beispielsweise Black Lives Matter
Um die Zusammenwirkung von Aktivismus und Digitalisierung auf die Öffentlichkeit an einem Beispiel zu paraphrasieren, hier eine Zusammenfassung über die Entstehung der Bewegung, die Rolle der digitalen Medien darin und die Resonanz dessen in der Gesellschaft.
Problemlage
Hintergrund sind zahllose sinnlose und völlig grundlose Morde an Schwarzen Menschen teilweise durch weiße Zivilist*innen, die sich in den USA durch das ‘Stand-Your-Ground’ Gesetz rechtfertigen, und vor allem aber auch Polizist*innen, die klar und deutlich zeigen, dass die rassistische Gewaltbereitschaft und Vorverurteilung nicht nur strukturell, sondern auch institutionell ist. Dabei wurden diese Morde über Jahrzehnte als Einzelfälle abgetan, es wurde behauptet aus Notwehr gehandelt zu haben, Beweismaterial von Zeug*innen zu Gunsten der Opfer von der Judikative als nicht eindeutig oder ungütlig definiert. Wird doch mal eine Person verantwortlich gemacht, wird lediglich auf fahrlässige Tötung plädiert und die Strafen fallen verschwindend gering aus. Sind Polizist*innen an der Tat beteiligt, sind Urteile zu Gunsten der Opfer beinahe unmöglich, sofern sie überhaupt bis ins Gericht durchdringen. Für rassifizierte Personen ist die Staatsgewalt Polizei kein Schutz, sondern im Zweifelsfall lebensbedrohlich – die Möglichkeit, durch eine simple Polizeikontrolle zu sterben, ist so tödlich und willkürlich wie russisch Roulette. Alles andere als Zufällig ist die Herauspickung rassifizierter Personen für Kontrolle selbst. Je weißer die Staatsmacht, je prekärer das Viertel, desto eher sind Polizist*innen Feind*innen und teilweise Mörder*innen für die Schwarzen Gesellschaften. Dazwischen gibt es Abstufungen – es ist zusätzlich auch noch eine Frage von Klasse. Immer wieder wird dabei nicht den Täter*innen die Schuld für diese Umstände zugesprochen, sondern es werden die Opfer kriminalisiert und ihr eigenes Verhalten als Ursache der Probleme angezeigt. #BlackLivesMatter startet in den USA, Opfer von diesen rassistischen Strukturen sind besonders Schwarze Jugendliche und Männer in Amerika und Europa.
Hegemonie – Gegenhegemonie. Eine über die Minderheitsgruppe der Betroffenen hinaus existierende Öffentlichkeit gab es lange nicht. Vorherrschende Meinung war (und ist es teils immer noch) die Opfer seien hier mehr oder weniger selber schuld und sollten sich ja bloß richtig bilden, arbeiten gehen und sich ordentlich verhalten. Rassismus pur also.
Auslösendes Moment nach Garza
Auch der Mörder von Trayvon Martin (26. Februar 2012) wird am 13. Juli 2013 für nicht schuldig gesprochen. Trayvon Martin ist im Alter von 17 Jahren auf dem Heimweg vom Einkaufen beim Telefonieren erschossen worden. Der Mörder war damals 28 und Mitglied einer nicht-staatlichen Bürgerwehr (Garza, 2020).
Die Aktivistin Alicia Garza Twittert am Tag in der Nacht nach der Urteilsverkündung mehrere Beiträge, darunter auch “#Blacklivesmatter” (Samstag, 13. Juli 2013, 19:14) und “black people, I love you. I love us. Our lives matter.” (Samstag, 13. Juli 2013, 19:19) (Garza, 2020: S.156/157).
Bis zum nächsten Tag habe es eine regelrechte Explosion gegeben, landesweit wurde zu Proteste aufgerufen, #BlackLivesMatter wurde auf Twitter und Facebook wiederverwendet und stand vielerorts auf den Schildern von Demonstrant*innen. Zusammen mit Eltern und Kindern, im Laden eines Freundes, hat sie einen weiteren Tweet zu Black Lives Matter verfasst (ebd.). Dieser ist für die Überlegungen zum Entstehen handlungsfähiger Öffentlichkeiten inhaltlich besonders interessant:
Garza beschreibt, was Dewey 1927 als Hinderungsgrund handlungsunfähiger Öffentlichkeiten deklarierte. Zwar werden die Folgen von Rassismus von den betroffenen Communities wahrgenommen, doch wurde zu lange die Schuld bei sich selbst gesucht und sich dem hegemonial Narrativ angepasst. Durch die im Tweet Folgende klare Adressierung eines Ursprungs und den Aufruf, sich Kollektiv für dessen Veränderung einzusetzen, entsteht hier das Potenzial, das Auftreten einer beginnenden Öffentlichkeit zu ordnen. Eine Kollektive Öffentlichkeit Betroffener Menschen von Strukturellem und Institutionellem Rassismus zu etablieren ist im übrigen nicht unbedingt trivial; es mag den weißen Täter*innen vielleicht nicht auffallen, doch die Öffentlichkeit um die verursachten Probleme ist auch hier durchaus heterogen.
Um so wichtiger ist die Aktivistische Instanz, die sich offiziell ein Jahr später gründet, doch die aktivistische Arbeit für die Black Lives Matter Kampagne beginnt für Garza gemeinsam mit Patrisse Cullors und Opal Tometi noch in derselben Woche. Die drei Schwarzen Frauen sind zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre aktiv im Kampf um die soziale Gerechtigkeit benachteiligter Gruppen, haben sich darüber bereits kennengelernt und freundschaftliche Beziehungen aufgebaut. Die Führungsstruktur von Black Lives Matter wird dezentral angelegt, das Standing hinter dem Hashtag betrifft klar und deutlich die oben dargelegten Probleme für Schwarze Gemeinschaften und das Ziel ist es, hier eine Verbesserung zu erreichen (ebd).
Wie Menschen lokal mobilisiert werden können
Infolge des Mordes durch einen Polizisten an Michael Braun am 9. August 2014, wächst in Ferguson ein weitgehend friedlicher Aufstand heran, auf den mit Tränengas und Soldaten in Kampfkleidung reagiert wird. Black Lives Matter ist eines von vielen Aktionsbündnissen, die sich in der Folge in den Widerstand bewegen und sich mit der Schwarzen Gemeinschaft in Ferguson solidarisieren (ebd.). Damit an einem nationalen ‘Weekend of Resistance’, auch die lokalen Anwohner*innen teilnehmen, wurde, so Garza, innerhalb von zehn Tagen mit mehr als 1500 Personen gesprochen. Die 1000, die letztlich zusagen, seien nicht einfach so erreicht worden (ebd.):
Jeden Tag habe man sich über die Fehlversuche des Vortages ausgetauscht, es haben Gesprächsübungen und Rollenspiele stattgefunden, und es wurden 50 dieser Hausversammlungen organisiert. An dieser Arbeit seien lediglich 17 Personen beteiligt gewesen, die alle nicht in den Medien zu sehen waren. (Ebd.)
Deutlich an dieser Schilderung der Arbeit zum Aufbau einer Bewegung wird, dass diese nicht durch einen simplen Hashtag auf einer Social Media Plattform entsteht. Immer wieder betont Garza, dass nicht Hashtags, sondern Menschen Gesellschaft in Bewegung bringen und wie wichtig die Beziehungsarbeit ist, insbesondere wenn versucht wird, eine Heterogene Gruppe, in der viele Meinungsverschiedenheiten existieren, um den Punkt zusammen zu bringen, der sie alle verbindet und den sie nur gemeinsam bekämpfen können.
Über sieben Jahre lang geht die kontinuierliche Arbeit, an der viele lokale Graswurzelbewegungen und andere Bündnisse beteiligt sind, weiter. Währenddessen kommt es immer wieder zu Morden an Schwarzen Menschen, worauf die Bewegung an Fahrt aufnimmt.
Rolle der digitalen Medien und des Plattform-Aktivismus
In der ganzen Zeit, von den Protesten 2013 bis heute, spielten, bei allem dafür und dagegen, auch die Sozialen Medien eine wichtige Rolle. Sie wurden dazu genutzt, die Proteste anzuheizen, sie boten national und international partizipative Möglichkeiten für einen öffentlichen Diskurs und sie boten eine globale Reichweite für direkte Berichterstattungen aus der Bewegung.
Soziale Medien fördern wechselseitigen Austausch und geben die Möglichkeit, niederschwellig die eigene Sichtweise darzustellen. Die Hoffnung, früher Hacker Kollektive, dass Menschen durch das Internet die eigene Geschichte darstellen können, hat sich hier erfüllt. Durch das aufkommen von Smartphone mit Kamera wurden über Jahre lokale Geschehnisse teilweise Live verfolgt und Videos über die verübte Gewalt von weißen Polizist*innen an Schwarzen Menschen wurden über Social Media verbreitet. Nicht länger lag die Macht über die Geschichtsschreibung bei Staatsbeamt*innen und Intendant*innen westlicher Gesellschaften, die noch immer überwiegend weiß besetzt sind.
Die Linearität weißer Erzählweise wurde bewusst durchbrochen:
Bald wurden Social-Media-Kanäle erstellt. Neben der Sicherung einer Internet-Domain entstanden eine Facebook- und eine Tumblr-Seite sowie ein Twitter- und ein Instagram- Account (ebd). Von nun an beginnt ein medienwirksames Zusammenspiel aus dem Teilen eigener Geschichten von Betroffenen auf Tumblr, dem Vernetzen und Austauschen dieser Menschen auf Facebook und dem Veröffentlichen von Fällen aus dem ganzen Land durch Black Lives Matter.
Die Diskursmacht über die inhaltliche Besetzung des Hashtags zu behalten, wurde mit steigender Wahrnehmung und Reichweite der Bewegung eine immer wichtigere und komplexere Arbeit. Hierbei spielt in der Social Media Strategie für Black Lives Matter die Frage, ob Menschen, unter der Berücksichtigung der politischen Werte, für den persönlichen Fame von der Bewegung profitieren wollen, oder ob sie sich für den Fame der Bewegung profilieren.
Die Gründer*innen von BLM wollten eigentlich nicht in den Vordergrund der Bewegung treten und nur im Hintergrund agieren, doch dann sind andere Organisationen, auch solche Schwarzer Menschen, auf den Zug aufgesprungen und begannen sich sowohl mit der Gründung von BLM zu profilieren, als auch — und das ist aus sicht der Gründerinnen viel Problematischer — Werte zu vertreten, die nicht mit denen von #BLM übereinstimmen (ebd). Zum Beispiel ist es ihnen wichtig, nicht zu vergessen, dass vor allem Frauen diese Bewegung tragen. In der medialen Öffentlichkeit habe Garza nur deswegen eine der Führungsrollen eingenommen, um zu verhindern, dass BLM für von einer “sehr bekannten Mainstream-Bürgerrechtsbewegung” vereinnahmt wurde, welche “die dahinterstehenden politischen Werte und Ansichten diskreditierte“ (Garza, 2020: S.333).
Schon vor der Digitalisierung gab es früher oder später einzelne, meistens männliche, Personen, die dann in der Öffentlichkeit als Führungspersonen — und somit als besonders Wichtig für die Bewegung — wahrgenommen wurden. Diese Rolle einzunehmen, obwohl gleichzeitig der Anspruch von BLM ist, Hierarchien abzubauen und zu dezentralisieren, sei nicht einfach gewesen.
Der mediale Aufbau einer Marke wurde im Kräftemessen um den genauen Diskurs und das Aufrechterhalten bestimmter Werte für die Bewegung von Beginn an unerlässlich (ebd). Doch Garza ermahnt, dass die Macht von Influencer*innen, die Millionen erreichen können, zwar gewaltig sei, doch immer wieder die Frage gestellt werden müsse, für wen und wofür Menschen diese Art von Plattform-Aktivismus betreiben (ebd).
Über George Floyd, der am 25. Mai 2020 durch einen Polizisten erstickt wurde, berichtet Garza in ihrer Erzählung zum Aufbau der Black Lives Matter Bewegung nicht mehr. In einem Artikel über ein Interview, das Führung heute nicht aussieht wie Martin Luther King, heißt es bei The Guardian:
In der Wahrnehmung der internationalen Öffentlichkeit beginnt die Geschichte der Bewegung teilweise erst in dem Moment, als Handyaufnahmen über die Ermodung George Floyds Viral gingen. Diesmal sind auch weiße Menschen Teil der Öffentlichkeit. Die Bundeszentrale für Politische Bildung legt die Vermutung nahe, dass dieser Umstand der Corona Pandemie verschuldet war, da die Menschen zur Tatzeit im Lockdown auf die Wahrnehmung der Welt durch digitale Medien reduziert wurden (Kopp, 2022).
Was hat sich geändert?
Über Black Lives Matter gibt es noch abertausend mehr Geschichten und Details zu erzählen, zudem ist auch Garzas Erzählung hier in der Zusammenfassung stark verkürzt.
Als am 2. November 2013 Renisha McBride nachts an eine Tür klopft und um Hilfe in einem Autounfall zu bitten, wird ihr unter der Behauptung von Notwehr in den Kopf geschossen. Obwohl es BLM bereits ins Fernsehen geschafft hatte, war es erst der Druck durch erneute Proteste und Kundgebungen vor Ort, der den Fall überhaupt zur Anklage brachten. Dieses Mal wurde der Mörder zu mindestens 17 Jahren Gefängnis verurteilt (Garza, 2020). Auch der Mörder von George Floyd wurde trotz 19 Jähriger Polizei-Karriere zu 22,5 Jahren Haft verurteilt (dpa, 2021), . Zwei Einzelfälle, in denen die durch BLM geschaffene Öffentlichkeit dafür gesorgt hat, dass nicht weggeschaut werden kann.
Doch die Polizeigewalt gegen Schwarze hat nicht von heute auf morgen nachgelassen. Eine Dokumentation von Arte zeigt eher das Gegenteil auf und beschreibt die von der Polizei ausgehende Gefahr, besonders für Schwarze Menschen in Frankreich. Es ist nach wie vor erschreckend (Bellwinkel, 2020).
Positiv ist, dass der Diskurs über Rassismus wieder aufgenommen wurde und die diskrimminierung Schwarzer Gesellschaften sichtbarer geworden ist. Erst wenn Probleme wahrgenommen werden, kann ein Transformationsprozess beginnen.
Hadija Haruna-Oelker schreibt noch im Juli 2020 in einem Beitrag für die Heinrich-Böll-Stiftung, dass die Debatte neue Fahrt aufgenommen habe, Böden aufgerissen würden, nach Schulungen gefragt würde und die Notwendigkeit des Nachholbedarfes zum Vorschein träte. Etwas habe sich bereits in der kurzen Zeit (in Deutschland) verändert. Und es wurde eine neue Forderung formuliert berichtet sie:
Es bleibt zu hoffen, dass es nicht die Einschränkungen der Corona Pandemie waren, die #BLM haben Viral gehen lassen, denn für zukünftige Kampagnen ist das keine geeignete Transformationsstrategie.
Digitale Gesellschaft während Corona und Learnings
Im Diskurs um eine ökosoziale Transformation und zukunftsweisende Gesellschaften geht es immer wieder um ‘Banden bilden’, miteinander ins Gespräch kommen, einander zuhören.
Dass die digitalen Kontakte, trotz aller Netzwerk-Versprechen des World Wide Web, eine Tendenz zur Vereinsamung aufweisen, ist nicht erst seit der Corona-Pandemie bekannt. Jedoch hat die zeitweise notwendige Reduzierung auf beinahe ausschließlich digitale Räume zur Begegnung von Gruppen gravierend gezeigt, wie sehr Menschen auf den physischen Kontakt zu anderen angewiesen sind.
Auch die Gefahren zum Blasen bilden, gab es schon vor Corona. Das Ergebnis, wenn Teilöffentlichkeiten einander nicht mehr begegnen, ist ein Übergehen von einer Teilöffentlichkeit in eine Echokammer, in der Menschen nur noch ihrer eigenen Meinung begegnen. Echokammern sind dabei teils genauso erfolgreich globalisiert, wie die oben genannten Erfolge aktivistischen Handelns. Die gefährlichsten dieser Echokammern sind sogenannte Rabbit holes (Wiles, 2020). Von progressivem Aktivismus ist hier keine Spur.
Immer deutlicher wird heute, dass und wie Online/Offline sich Dualismen in feinster Donna Haraway Manier auflösen, da beide Räume nicht mehr wirklich unabhängig voneinander existieren.
Das situationsbedingte Experiment, den Lebensalltag über zwei Jahre beinahe ausschließlich in digitale Räume zu verlegen, lässt zumindest für diejenigen, die in dieser Zeit zuhause bleiben mussten, Visionen a la Mark Zuckerbergs Metaversum zu Albträumen werden. Dennoch hat das ‘Experiment’ Zugang verschafft. Für eine junge Mutter war es Online einfacher, an Vorlesungen teilzunehmen. Ringvorlesungen an weit
entfernten Universitäten waren plötzlich erreichbar usw. Das Bewusstsein um die ubiquitär verfügbaren Möglichkeiten, die digitale Organisations-Tools hergeben, ist gestiegen.
Für Aktivist*innen ist es einfacher geworden, sich interessen spezifisch über mehrere Räume hinweg zu engagieren. Allerdings fehlt dann ggf. die Zeit, sich auch noch in lokalen Ortsgruppen zu engagieren. Unabhängig davon ist es wichtig, in digitalen Räumen, gerade bei kollektiver aktivistischer Zusammenarbeit, die Beziehungsebenen nicht zu vergessen. Dafür gilt es für diese Form der Zusammenarbeit immer wieder (digitalen) Raum zu schaffen und neue Spielarten zu entwickeln.
Fazit und Ausblick
Für eine globale und ökosoziale Transformation der Gesellschaften ist durch die Digitalisierung die Herstellung globaler Öffentlichkeiten mit Wirkmacht möglich. Im Kräftezehren um Hegemonien und Gegenhegemonien ob der Ursachen von Problemen ist es hilfreich, dass sich globale Interessengruppen miteinander vernetzen können. Solche globalen Öffentlichkeiten können dafür sorgen, dass betroffene Menschen nicht mehr als Einzelfälle abgetan werden, sondern in einer Art globaler Kollektivität gemeinsam gegen Sexismus und Rassismus auf die Straße gehen.
Für die breite Öffentlichkeit wirken virale Hashtags oft wie plötzlich erscheinende Phänomene, die weltweit Menschen für ein Thema zusammenbringen. Genau das ist auch eine durchaus positive Eigenschaft. Allerdings ist es keinesfalls so, dass Hashtags ohne lokale Basis Bewegungen dieselbe Wirkung haben können.
Eine klare Kehrseite des Kampfes um den Aufbau und die Möglichkeit globaler Öffentlichkeiten ist die große Menge an sozialer und ökologischer Probleme weltweit, die miteinander zusammenhängen und in deren gegenseitiger Komplexität es für empathische und engagierte Menschen leicht ist, sich bis zur Hoffnungslosigkeit zu verlieren und auf Grund von Überforderung aufzugeben. Die ubiquitäre Sichtbarkeit birgt die Gefahr, machtlos zu erstarren. Auch ist hier ein Widerspruch zwischen großen digitalen Öffentlichkeiten und der Unterbesetzung der Kernarbeit aktivistischer Bewegungen vorhanden. Näher betrachtet, wirft dies die Frage ob und wo die Konsument*innen Sozialer-Netzwerke von Aktivismus tatsächlich durch nachhaltige Resonanzerfahrungen aktiviert werden.
Alicia Garza hebt hervor, wie wichtig gute Verbündete sind und wie wichtig es für Aktivist*innen ist, ein gutes Beziehungsnetz aufzubauen. Das aber leidet in der Tiefe unter der Verschiebung von Zusammenarbeit in digitale Räume. Wie ist es möglich, die Chancen digitaler Räume zur globalen Vernetzung und Information zu nutzen, ohne in Überforderungsspiralen hinein zu geraten und ohne direkte und nachhaltige Beziehungsarbeit zu vernachlässigen? Fridays for Future ist nun bald seit fünf Jahren aktiv. Fridays for Future ging deutlich schneller viral als Black Lives Matter, doch zuletzt verschwand der Zuspruch und das Verständnis in Teilen der deutschen Gesellschaft. Nach der reiflichen Auseinandersetzung mit dem Aufbau der Black Lives Matter Bewegung frage ich mich, ob die Aufmerksamkeits-Strategie über den Kampf im öffentlichen Raum überhaupt aufgehen kann, wenn all diese direkten Gespräche nicht stattfinden. Vielleicht könnte es zusätzlich Sinnvoll sein, mit dem Klingeln an Haustüren zu beginnen, und Menschen in direkten Gesprächen dabei zuzuhören, wie sie begreifen, dass der Klimawandel auch ihr Leben betrifft.
Quellen
Siouxsie Wiles (16. November 2020). Koch’s postulates, Covid, and misinformation rabbit holes. University of Auckland.
www.auckland.ac.nz/en/news/2020/11/16/kochs-postulates-covid-and-misinformation-rabbit-holes.html
Hadija Haruna-Oelker (22.Juli 2020). In Bewegung: Die neue Rassismus-Debatte. Heinrich Böll Stiftung
https://heimatkunde.boell.de/de/2020/07/22/in-bewegung-die-neue-rassismus-debatte
Luvena Kopp (06.04.2022). Black Lives Matter – eine Bestandsaufnahme. Bundeszentrale für politische Bildung https://www.bpb.de/themen/nordamerika/usa/507013/black-lives-matter-eine-bestandsaufnahme/#footnote-target-3
Sebastian Bellwinkel (2020). Feindbild Polizei / Arte [Video]. Youtube. https://youtu.be/7LVCt77WZn0
dpa (25.06.2021). Für den Mord an George Floyd Ex-Polizist Derek Chauvi muss mehr als 22 Jahre ins Gefägnis. Tagesspiegel https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/ex-polizist-derek-chauvin-muss-mehr-als-22-jahre-ins-gefangnis-4259158.html
Alicia Garza (2020). Die Kraft des Handelns, wie wir Bewegungen für das 21. Jahrhundert bilden. Tropen
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