Verwobenes Leben

Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft verändern

ein Buch von Merlin Sheldrake

Zum Autor

Merlin Sheldrake ist Biologe, Autor und Redner. Er setzt sich mit Pflanzenwissenschaften, Mikrobiologie, Ökologie (also der Wissenschaft der Beziehung von Lebewesen) sowie der Geschichte und Philosophie der Wissenschaft auseinander. Er hat einen Doktor in tropischer Ökologie und dafür Pilznetzwerke in Panama erforscht. Er macht Musik, braut Bier nach historischen Rezepten, fermentiert gern und ist ein totaler Pilznerd. Sein großes Wissen und seine Faszination für Pilze teilt er in zugänglicher Weise unter anderem in seinem populärwissenschaftlichen Buch „Verwobenes Leben – Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft verändern“.1

In Rahmen des Seminars „Praxis der Zukunftsanalyse“ habe ich in einem „mycelartigen“ Referat einige der Aspekte, die Merlin Sheldrake in seinem Buch ausbreitet, mit der Seminargruppe geteilt. Für die Prüfungsleistung der „Referatsverschriftlichung“ werde ich nun einige dieser Gedanken erneut aufgreifen und in einer „menschlichen“, linearen Form niederschreiben. Dies geschieht in erster Linie aus pragmatischen und formalen Gründen. Eine Übersetzung in eine Form, in welcher sich die Lebensweise von Pilzen spiegelt, interessiert mich nach der Lektüre des Buches nach wie vor sehr, wird aber eher auf einer künstlerisch-praktischen Ebene stattfinden. Ich versuche also wie ein Pilz, den Weg des geringsten Widerstands zu nehmen und mich den gegebenen Umständen anzupassen.

1 Vgl. Sheldrake, Merlin (10.März 2024): About Merlin. https://www.merlinsheldrake.com/about

Was können Pilze? – Vielfältige Einsatzmöglichkeiten

Pilze spielen in überraschend vielen Bereichen des menschlichen Lebens eine Rolle, wie Merlin Sheldrake in seinem Buch aufzeigt. Speisepilze (lediglich die Fruchtkörper der unter der Erde lebenden, zum Teil gigantischen Pilznetzwerke) sind zwar das erste, an das die meisten Menschen denken, wenn sie an „Pilze“ denken, doch auch in vielen anderen Bereichen übernehmen Pilze wichtige Aufgaben für uns. Hier nur ein paar Beispiele, die Sheldrake nennt: Jeder Alkohol wird von einem Pilz hergestellt; Hefepilze sind bei der Herstellung von Brot elementar; Bei der Herstellung von Medikamenten wie Antibiotika oder Impfstoffen übernehmen in vielen Fällen Pilze die Produktion chemischer Grundsubstanzen; Pilze stellen Biokraftstoff her; Pilze können als Baustoffe genutzt werden und ersetzten in der Bekleidungsindustrie unter anderem Leder und Seide; Pilze haben eine bewusstseinserweiternde Wirkung. Sie können aber nicht nur als Partydroge eingesetzt werden, es wird auch daran geforscht, sie bei verschiedenen Krankheiten therapeutisch einzusetzen; Pilze sind außerdem wichtige Destruenten, sie zersetzten und kompostieren unsere Welt; Pilze sind aber nicht nur überall um uns herum: In und auf unserem menschlichen Körper leben 40 Billionen Mikroben – viele davon Pilze -, die für wichtige Lebensfunktionen verantwortlich sind.

„Jeder von uns ist ein Ökosystem – jeder wird von Mikroorganismen aufgebaut und auch zersetzt; welche Bedeutung das hat, kommt erst allmählich ans Licht. Mithilfe der rund 40 Billionen Mikroorganismen, die in und auf unserem Körper leben, können wir Nahrung verdauen und wichtige Mineralstoffe herstellen, die uns ernähren. […] Von Individuum zu sprechen hat keinen Sinn mehr.“  2

2 Sheldrake, Merlin: Verwobenes Leben. Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen. 3. Aufl., Berlin, Deutschland: Ullstein, 2020. S. 32f

Was ist ein Pilz?

Pilze bilden in der Biologie ein eigenes Reich. Sie widersetzen sich aber oft den Kategoriesierungen, die wir Menschen ihnen aufzudrücken versuchen.

„Bis heute entziehen sich Pilze immer wieder den Klassifikationssystemen, die wir für sie aufbauen. […] Viele Arten haben keine charakteristischen Merkmale, anhand derer man ihre Identität definieren könnte. […] Aber wenn man aufgrund genetischer Daten entscheidet, wo eine Spezies anfängt und eine andere aufhört, löst man die Probleme nicht nur, sondern schafft auch ebenso viele neue. Im Mycel eines einzigen Pilz-“Individuums“ kann es mehrere Genome geben. In der DNA, die man aus einem einzigen Staubkorn gewinnt, findet man unter Umständen Zehntausende einzigartiger genetischer Kennzeichen, ohne dass es eine Möglichkeit gäbe, sie bekannten Pilzgruppen zuzuordnen.“ 3

3 Sheldrake (2020). S. 312

Das was wir sehen und essen sind lediglich die Fruchtkörper der unter der Erde lebenden Mycel-bildenden Pilzgeflechte. Viele Pilze (nicht alle!) bilden mikroskopisch kleine Fäden aus, die „Hyphen“ genannt werden. Diese wachsen, verzweigen sich, treffen wieder auf einander und verwachsen miteinander. Zusammen bilden alle Hyphen eines Pilzes ein gigantisches Netzwerk, das „Mycel“. 

Sheldrake vergleicht die Hyphen eines Pilzes mit einer performativen Arbeit des Künstlers Francis Alŷs, der 1995 in den Straßen Sao Paulos, durch die er ging, eine Linie aus blauen Farbtropfen hinterließ.

„Die wachsende Spitze [der Hyphen] ist der jetzige Augenblick – unser Erleben des Jetzt -, und sie bohrt sich immer weiter in die Zukunft hinein. Unser vergangenes Leben ist der Rest der Hyphe, die blaue Linie, die wir als verworrene Spur hinter uns gelassen haben. Ein Mycel-Netzwerk ist ein Diagramm der neueren Vergangenheit eines Pilzes und erinnert uns daran, dass alle Lebensformen in Wirklichkeit keine Dinge sind, sondern Prozesse. […] Sobald ich länger als eine Minute über Mycel-Wachstum nachdenke, erweitert sich mein gedanklicher Horizont.“4

4 Sheldrake (2020). S. 84f

Sheldrake eröffnet mir durch diese Betrachtung der Lebensweise der Pilze ein anders Nachdenken über Zeit, welches ich in meinem Referat mit der Seminargruppe geteilt habe: Ein Pilz kennt keine Vergangenheit, wie wir sie erleben. Vergangenheit ist für uns immer verbunden mit einem Nicht-mehr-genau-an-einem-Ort-sein-und-uns-nur-daran-erinnern. Der Pilz dagegen wächst zwar immer weiter und nimmt neue Zustände und Orte wahr, er ist aber zugleich auch immer noch an den Orten und in den Zuständen, an denen er „davor“ war. Und noch einen Schritt weiter gedacht: Der Pilz baut nur die Strukturen seines Mycelnetzwerks weiter aus, die gut waren. Ein Pilz IST also seine „gute“ Vergangenheit und zugleich seine eigene Gegenwart. 

Dies sind lediglich einige Überlegungen. Sie sind definitiv noch ausbaufähig, aber trotzdem interessant. 

Individuum oder Kollektiv? 

Doch nicht nur beim Konzept der Zeit sondern auch bei der Frage nach dem Individuum zeigt Sheldrake, dass diese Konstrukte bei der Betrachtung von Pilzen zum Wanken gebracht werden. 

„Folgt man den wachsenden Spitzen auf ihren Erkundungsgängen, wird der Verstand auf eigenartige Weise herausgefordert. Aus einer Spitze werden zwei, daraus werden vier, dann acht – und doch sind alle nach wie vor in einem Mycel-Netzwerk verbunden. Immer wieder frage ich mich: Ist das nun ein Organismus oder sind es mehrere? Irgendwann muss ich mir eingestehen, dass irgendwie – so unwahrscheinlich es klingt – beides zutrifft.“ 5 „Mycel ist eine Lebensweise, die unsere tierisch geprägten Fantasievorstellungen infrage stellt.“ 6

5 Sheldrake (2020). S.73f

6 Sheldrake (2020). S. 75

Pilze besitzen kein zentrales Steuerungszentrum, wie ein Gehirn. Pilze sind dezentral und in gewisser Hinsicht anarchistisch organisiert. Sheldrake spricht davon, dass ein Mycel ein Körper ohne Bauplan und ohne Steuerungszentrum ist.

Doch die Frage nach der Abgrenzbarkeit von Individuen stellt sich nicht nur bei komplexen Mycelnetzwerken, bei denen die abertausenden von Hyphen alle autonom agieren. Auch bei der Betrachtung von Flechten kommt diese Frage auf, wenn auch in anderer Weise. Flechten sind Symbiosen aus Algen und Pilzen, die zusammen eine Lebensform bilden. Doch sind sie zu zweit zusammen oder zusammen eins? Eine Auseinandersetzung mit Flechten lässt die Frage aufkommen, ob die Natur in ihrem Grundsatz auf Konkurrenz oder doch auf Kooperation aufbaut. 

Sind Pilze intelligent?

Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, denn es hängt davon ab, welche Definition von „Intelligenz“ angewendet wird. 

„Ob man Schleimpilze, Pilze und Pflanzen als „intelligent“ bezeichnet, hängt von der eigenen Sichtweise ab. Klassische wissenschaftliche Definitionen für Intelligenz ziehen den Menschen als Maßstab heran und messen alle anderen Arten an ihm. Nach solchen anthropozentrischen Definitionen stehen Menschen immer an der Spitze der Intelligenz-Rangfolge; dann folgen Tiere, die aussehen wie wir (Schimpansen, Bonobos und so weiter), anschließend andere „höhere“ Tiere und danach geht es in der Ligatabelle abwärts. […] Da solche Organismen nicht aussehen wie wir und sich nach außen hin auch nicht so verhalten – oder auch nur ein Gehirn besitzen -, wurde ihnen traditionell eine Stellung irgendwo am unteren Ende der Skala zugewiesen. Nur allzu oft gelten sie als träger Hintergrund für das Leben der Tiere. In Wirklichkeit sind aber viele von ihnen zu hochentwickelten Verhaltensweisen in der Lage, die uns dazu veranlassen, neu darüber nachzudenken, was es für Lebewesen heißt, wenn sie „Probleme lösen“, „kommunizieren“, „Entscheidungen treffen“, „lernen“ und „sich erinnern“. Wenn wir das tun, weichen manche festgefügten Hierarchien, auf denen unser modernes Denken basiert, ein wenig auf. Und damit ändert sich möglicherweise auch unsere zerstörerische Einstellung gegenüber der Welt, die nicht nur aus Menschen besteht.“ 7

7 Sheldrake (2020). S.31f

Durch die Schilderung verschiedener wissenschaftlicher Versuche mit und an Pilzen macht Sheldrake deutlich, wie komplex Pilze sind. Und dass das grundlegende Anderssein dieser Lebewesen keine Einschätzung über „geringere Intelligenz“ zulässt. Hier zusammengefasst einige Beispiele: Pilze sind licht- und berührungsempfindlich. Sie können benachbarte Gegenstände wahrnehmen. Sie können Farben wahrnehmen und unterscheiden. Sie spüren feine Oberflächenstrukturen. Sie sind empfindlich für Schwerkraft. Und sie besitzen unzählige chemische Kommunikationskanäle zu anderen Lebewesen und sich selbst. Sie haben eine sehr komplexe Informationsverarbeitung und sie können beispielsweise komplizierte Labyrinthe lösen. 

Wie genau die Informationsweitergabe von Pilzen funktioniert, war lange Zeit ein Mysterium und ist noch immer erst wenig erforscht. Fest steht, dass Pilze einen detaillierten Kommunikationsaustausch beispielsweise über die Gegenwart andere Individuen in der Umgebung haben können, darüber wo sich Nährstoffquellen befinden, ob und wo Verletzungen vorliegen oder welche lokalen Bedingungen innerhalb des Pilzes herrschen. Dafür, auf welche Weise diese Informationen vom Pilz weitergegeben werden, gibt es verschiedene Hypothesen, so Sheldrake  und es könnte sich auch um ein Zusammenspiel verschiedener „Kommunikationskanäle“ handeln.

Durch die Hyphen der Pilze, die aufgebaut sind wie Schläuche, können Flüssigkeiten in erstaunlicher Geschwindigkeit weite Strecken zurücklegen. Nährstoffgehalte in den Flüssigkeiten oder auch Druckunterschiede in verschiedenen Teilen des Pilzes könnten eine Art des Pilzes sein, Informationen innerhalb des Mycelnetzwerks weiter zu geben. 

Sheldrake widmet ein ganzes Kapitel außerdem der Fähigkeit der Pilze, durch Gerüche, das heißt chemische Botenstoffe in der Luft, mit sich selbst und ihrer Mitwelt zu kommunizieren. 

Immer wieder nimmt Sheldrake in seinem Buch Bezug auf andere Forschungsfelder. So auch zu den Neurowissenschaften. Denn bei der Erforschung des Kommunikationsaustausches von Pilzen, konnte festgestellt werden, dass diese Informationen auch durch elektrische Impulse weitergeben können. Auch Gehirne von Tieren funktionieren mit elektrischen Impulsen. Ein Austausch zwischen Pilzforscher:innen und Neurowissenschaftler:innen ist also naheliegend. Sheldrake betont allerdings auch, dass ein Vergleich von Pilzmycelnetzwerken und Gehirnen nur in sehr eingeschränktem Maße möglich oder ratsam ist. Er gibt dafür Gespräche wieder, die er mit dem schwedischen Pilzforscher Stefan Olsson hatte. 

„ „Ich bin der Überzeugung, dass es keine Gehirne sind“, erklärte mir Olsson. „Die Vorstellung von einem Gehirn muss ich ablehnen. Sobald man so etwas sagt, denken die Leute an ein Gehirn wie unseres, mit dem wir Sprache hervorbringen, Gedanken verarbeiten und Entscheidungen treffen.“ Seine Zurückhaltung ist durchaus angebracht. „Gehirn“ ist ein Schlagwort, und es ist mit Vorstellungen belastet, die zum allergrößten Teil aus der Welt der Tiere stammen. „Wenn wir ‚Gehirn‘ sagen“, fuhr Olsson fort, „richten sich alle Assoziationen auf das Gehirn von Tieren.“ Und nebenbei bemerkt, so betont er, verhält sich ein Gehirn wie ein Gehirn, weil es so und nicht anders aufgebaut ist. Das Gehirn von Tieren hat eine ganz andere Struktur als ein Pilz-Netzwerk. Im Tiergehirn sind die Neuronen über Verbindungsstellen, die Synapsen, mit anderen Neuronen verknüpft. An den Synapsen können verschiedene Signale zusammenfließen. Neurotransmitter-Moleküle durchqueren die Synapsen und schaffen die Möglichkeit, dass einzelne Neuronen sich unterschiedlich verhalten – manche von ihnen regen weitere Neuronen an, andere hemmen sie. Keines dieser Merkmale findet man bei Mycel-Netzwerken.“ 8

8 Sheldrake (2020). S. 98

Neben dem Vergleich des Mycel-Netzwerks mit einem tierischen Gehirn wird aber von verschiedenen Menschen auch eine Analogie zu elektronischer Technik hergestellt. Weitere Forschung im Bereich der Informationsweitergabe durch elektrische Impulse in Mycel-Netzwerken könnte es nach der Vorstellung dieser Menschen ermöglichen, sich in den „Pilzcomputer des Waldes“ einzuhacken und so die Informationen des Pilzes über Bodenbeschaffenheit, Nährstoffgehalte, Trockenheit etc. abgreifen. Auch dieser Vergleich ist mit Vorsicht zu genießen.

Politische Wissenschaft

Sheldrake geht in seinem Buch auch darauf ein, dass und wie auch die Wissenschaft durch Narrative der Forschenden geprägt ist. Wissenschaft versucht Dinge zu beschreiben, die wir eigentlich nicht begreifen können und nutzt daher Metaphern und Analogien. Doch Sheldrake mahnt, dass Metaphern und Analogien immer aufgeladen sind mit Geschichten und Werten. Geschichten verändern unsere Wahrnehmung. Unsere Vorstellung von etwas kann grundlegend davon abhängen, mit welcher Metapher ein jeweiliger wissenschaftlicher Zusammenhang begreifbar gemacht wird. Als Beispiel führt Sheldrake Darwins Evolutionstheorie an. Diese Evolutiosntheorie ist eine Geschichte, die von Konkurrenz erzählt. Diese Geschichte hat damals zur Entwicklung eines neuen Weltbildes geführt und hatte massiven Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen. Sheldrake zeigt auf, dass Folgen dieser wissenschaftlichen Erzählung unter anderem zum hervorbringen von Nationalismus, Kapitalismus und in letzter Konsequenz auch dem Holocaust geführt haben. 

Im Kalten Krieg kam, so Sheldrake, in der Gesellschaft vermehrt der Wunsch nach einem Auflösen des Getrenntseins auf. Zu dieser Zeit fand die erste Symbiose-Konferenz statt und die Erforschung von Flechten interessierte immer mehr Forschende. Dabei passierte etwas interessantes. Denn da Flechten weder nur Pflanzen, noch nur Pilze sind, sondern beides, muss bei der Erforschung dieser „Zusammenarbeit“ eine Zusammenarbeit von Forschenden verschiedener Fachbereiche stattfinden. 

Merlin Sheldrake beschreibt, dass auch er selbst durch die Erforschung von Pilzmycelnetzwerken beginnt, wie ein Pilzmycelnetzwerk zu forschen. 

Der vorangegangene Absatz, in welchem der gleiche Befund (Pilze geben Informationen unter anderem durch elektrische Impulse weiter) einmal mit tierischen Gehirnen vergleichen wurde und einmal mit Computern, macht deutlich, wie drastisch sich die Wahrnehmung (in diesem Fall der Pilze) durch eine andere Metapher unterscheiden kann: Der Vergleich mit dem tierischen Gehirn lässt uns über die Dimensionen der Intelligenz dieser Mitwesen nachdenken und vertierlicht sie dabei unter Umständen, wohingegen der Vergleich mit Computern sie zu einem Datengewinnungswerkzeug degradiert. 

Mit welchen Metaphern, Geschichten und Narrativen Wissenschaft die Welt erklärt, beeinflusst also auch wie wir denken, leben und die Welt und die Lebewesen darin betrachten. Sheldrake schreibt dazu folgende Annekdote:

„Insbesondere ein Biologe, so erzählte mir Sapp [ein Historiker, dessen Spezialgebiet die Geschichte der Symbiose ist] amüsiert, „bezeichnet mich als biologischen Linken und sich selbst als biologischen Rechten“. Die beiden hatten über den Begriff des biologischen Individuums diskutiert. Nach Sapps Ansicht macht es die Entwicklung der Mikrobiologie immer schwerer, die Grenzen eines individuellen Lebewesens zu definieren. Für seinen Widersacher, der sich auf der biologischen Rechten positioniert hatte, musste es säuberlich abgegrenzte Individuen geben. Das moderne kapitalistische Denken basiert auf der Vorstellung, rationale Individuen würden in ihren eigenen Interessen handeln. Ohne Individuen bricht irgendwann alles zusammen. So betrachtet, verriet Sapps Argumentation eine Vorliebe für Kollektive und eine dahinterstehende sozialistische Neigung. Sapp musste lachen. „Manche Leute treffen einfach gern künstliche Unterscheidungen.“ 9

9 Sheldrake (2020). S. 319

Durch Sheldrakes Ausführungen wird deutlich, wie wichtig ein sensibler und bewusster Umgang mit Sprache und Bildern ist. Gerade bei der Auseinandersetzung mit Lebewesen wie Pilzen, die so grundlegend anders sind als Menschen, kommt unsere menschliche Sprache schnell an Grenzen. Sheldrake zeigt mit seinem Buch, wie wichtig es ist, sich dieser Schwierigkeit sehenden Auges dennoch zu stellen. 

Ein kleines Fazit

Dafür, dass Pilze bisher erst sehr wenig erforscht sind, sind die Befunde der Wissenschaft, von denen Sheldrake spricht, erstaunlich und lassen nur erahnen, was für weltbildverändernde Dinge es noch über Pilze herauszufinden gibt.

Die Lektüre von „Verwobenes Leben“ hat mich stark beeindruckt und zumindest meine Sicht auf die Welt bereits ein Stück verändert. Merlin Sheldrake hat es geschafft, seine Begeisterung und Faszination für Pilze durch sein Buch auf mich zu übertragen. Die Allgegenwärtigkeit der Pilze in meinem Leben und die Wertschätzung, die ich ihnen nun entgegenbringe, sind jetzt ein Teil meines Seins.

Grüße gehen raus von dem Austernpilz, der in einem Sack Sägespäne in meiner Dusche wohnt, von dem Ökosystem in meiner Kompostkiste, von der Lebensgemeinschaft aus verschiedenen Pilzen und Bakterienkulturen, die in einem großen Glas in meinem Wäscheschrank Kombucha für mich herstellen, von meinem Sauerteig, der seit Jahren Brot für mich macht und von den 40 Billionen Mikroorganismen, die gemeinsam „Djubiray“ sind.


Quellen

Sheldrake, Merlin: Verwobenes Leben. Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen. 3. Aufl., Berlin, Deutschland: Ullstein, 2020.

Sheldrake, Merlin (10.März 2024): About Merlin.https://www.merlinsheldrake.com/about

Referatsverschriftlichung von Eliana Djubiray Helmholz
Modul: Gesellschaft, Zukunft, Transformation Seminar: Praxis der Zukunftsanalyse 
bei Anna-Sophie Springer

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