Eine persönliche Auseinandersetzung mit „A Slower Urgency“ von Báyò Akómálofé 

Projekt  von Marie Kanzleiter & Tobias Schultz *

Im Rahmen dieses Semesterprojekts haben wir (weiß, cis) uns mit der Frage beschäftigt, wie eine Auseinandersetzung mit „A Slower Urgency“ von Báyò Akómálofé unseren Blick für Intersektionalität verändert. 

Vorgehen 

In der Arbeit stellen wir „A Slower Urgency“ von Báyò Akómálofé vor – eine Kritik zum gegenwärtigen Krisennarrativ und eine Einladung, wie wir Krisen der Gegenwart begegnen können. Die Grundlage bildet ein Sprichwort der Yoruba: „When times are urgent, let us slow down“ / „Wenn die Zeit drängt, dann lasst uns langsamer werden“. Wir erklären in der Arbeit zentrale Bestandteile, greifen Risse/Brüche im Sinne von „A Slower Urgency“ und übertragen sie auf persönliche Berührungspunkte zu Intersektionalität im 1. und 2. Semester im Studium. 

Auf der Suche nach Möglichkeiten, neue Wege beim Lernen (und Forschen) zu gehen, als in unseren vorherigen Bachelor-Studiengängen, die eine starken Fokus auf eine positivistische Wissenschaft hatten, haben wir uns mit dem Konzept vom transformativen Lernen (Mezirow, 2000; Singer-Brodowski, 2016) auseinandergesetzt, um eigenes Erfahrungswissen in unsere Arbeit einbringen zu können. Darüber hinaus sind auch hier Brüche ein zentrales Element vom Konzept. 

Entwurf

Wir haben ein kollaboratives Tagebuch entworfen, das uns eine intensive Auseinandersetzung mit Intersektionalität und unseren Privilegien ermöglicht hat. Kern vom kollaborativen Tagebuch sind verschiedene Gedankenprotokolle von persönlichen Brüchen zu Intersektionalität im Studium. Darüber hinaus haben wir einen Prozess beschrieben, damit das kollaborative Tagebuch selbst ausprobiert werden kann. Zum Schluss der Arbeit haben wir Learnings aus unseren Gedankenprotokollen erarbeitet und unseren Projektvorgehen reflektiert.

Im Folgenden stellen wir exemplarisch zwei Gedankenprotokolle vor.

10.07.2022 – Marie
Privilegienschock

Ich sitze. Aus dem Augenwinkel sehe ich Tobias tippen. Ich höre die Tastatur klicken. Es geht los. Wir schreiben gemeinsam und doch für uns allein. Eine ungewohnte Situation. Wir schreiben über unsere Erfahrung im Seminar “Gesellschaftliche Transformation”. Was ist da passiert?

Vor meinem inneren Auge sehe ich mich vor dem Laptop sitzen. Ich kann mich leider gerade nicht erinnern wo ich war, vielleicht bei meiner Familie zuhause? Das Seminarthema war glaube ich Sozialkritik. Wir haben über persönliche Diskriminierungserfahrungen gesprochen. Es gab eine offene Runde in der alle persönliche Erfahrungen teilen konnten. Ich weiß noch genau, dass ich mich nicht beteiligt habe. Nicht, weil ich gelangweilt war, oder geistig abwesend, sondern weil ich mich nicht getraut habe etwas zu sagen. Ich war überrascht, fast schon geschockt wie viele, für mich krasse Erfahrungen geteilt wurden. Da war auf einmal so viel Diskriminierungserfahrung in unserem Raum für mich sichtbar. So viele unterschiedliche Formen, die ich alle noch nicht erlebt habe… Diskriminierung wegen Migrationshintergrund, Hartz IV, Alleinerziehender Mutter, Finanziellen Einschränkungen, Herausforderungen nicht-deutscher Eltern und daraus resultierenden Verantwortungen…

Die Erzählungen ließen mich innerlich unbehaglich werden, sie machten mich stumm. Sie ließen mich in einem Zustand der Verunsicherung und Scham zurück. Ich schämte mich für meine eigenen Erfahrungen, meine behütete und im Vergleich so sorglose Kindheit, meine Privilegien, meine Außenwirkung, meine Fähigkeit ins System zu passen und den unwahrscheinlichen Luxus zu genießen, von vielen Diskriminierungsformen nicht betroffen zu sein… dieser Moment inneren Schweigens und innerer Scham bohrte sich tief in mein Gedächtnis und das Unwohlsein kam immer wieder zurück. Vielleicht manchmal mehr unbewusst, aber ich hatte in verschiedenen Diskussionen das Gefühl Privilegien zu haben, die meine Gegenüber nicht besaßen. Vor dieser offenen Runde hatte ich nie bemerkt wie unmerklich und doch präsent Diskriminierung in unserer Gruppe war. Vorher hatte ich für mich nicht wahrgenommen, wie privilegiert ich in dieser Runde bin.

Wie sollte ich nun mit diesem neuen Wissen umgehen, das so schwer auf meinen Schultern, so schwer auf meinem schlechten Gewissen lastete? Warum fühle ich mich so miserabel deswegen? Warum fühle ich mich schuldig eine schöne Kindheit gehabt zu haben, mit zwei Elternteilen, verwurzelt in einer Heimat, sicher in einer Sprache, meiner Mutter und Landessprache. Wie kann ich in solchen Situationen zukünftig reagieren? Oder ist es in Ordnung stumm zu werden… Vielleicht geht es nicht darum mein Verhalten zu ändern, sondern zu akzeptieren, was da ist. Denn ich komme in Kontakt mit anderen, ich lerne andere Perspektiven kennen, ich sehe was in der Welt außerhalb meiner Lebensrealität passiert, ich kann erkennen, welche Privilegien ich habe. Ich kann Emotionen zulassen und spüren was da ist. Ich kann dankbar sein, kann wütend sein über diese Ungerechtigkeit, kann anderen ein offenes Ohr schenken.

10.07.22, Tobias
Privilegienschock

Im 1. Semester haben wir im Modul „Gesellschaftliche Transformation“ verschiedene Missstände in der Welt besprochen und die Dozentin hat uns vier Kritiken an der Gesellschaft vorgestellt: Ökologische Kritik, Natur/Kultur-Kritik, Herrschaftskritik und Sozialkritik. In einem Seminar zur Sozialkritik hat sie den Begriff Intersektionalität erklärt. Ich war schockiert. Ich konnte nicht verstehen, warum Intersektionalität nicht bereits in der Schule behandelt wurde. Und ich war über mich schockiert, dass ich nicht eine Verantwortung bei mir gesehen habe, mich damit außerhalb der Schule auseinanderzusetzen. Nachdem wir die Herkunft von Intersektionalität besprochen haben, wurden wir von einer Dozentin gefragt, ob wir persönliche Erfahrungen von Diskriminierung gemacht haben und ob wir sie in der Gruppe teilen wollten. Es stand jedem Menschen frei, darüber zu sprechen. Nacheinander haben Kommilliton*innen begonnen, zunächst von ihren sozialen Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen sind und dann von ihren Diskriminierungserfahrungen zu sprechen. 

Zwei Menschen haben berichtet, dass sie von anderen Menschen wegen dem der Familie monatlich zur Verfügung stehenden Geld diskriminiert wurden. Eine andere Person erzählte, dass die Ausbildung von ihren Eltern aus dem Ausland nicht in Deutschland anerkannt wurde. Ein Kommilitone wiederum sagte, dass er in der Schule aufgrund seiner Hautfarbe und Herkunft diskriminiert wurde. Ich war überrascht, dass Menschen aus meinem Studiengang von verschiedenen Diskriminierungen betroffen waren/sind. Ich habe Diskriminierung selten so nah erlebt. Ich habe überlegt, was ich sagen werde. Ich wurde nervös, weil mir keine Situation eingefallen ist, die vergleichbar mit den Erfahrungen von den anderen Menschen. Ich habe dann von einer Situation berichtet, in denen mir die Ungleichheit von Vermögen in Deutschland bewusst geworden ist: Die Eltern meiner Partnerin leben in Baden-Württemberg und ihr (Selbst-)verständnis zu Vermögenswerten empfinde ich absurd – im Vergleich dazu haben meine Eltern, die in der DDR aufgewachsen sind, lange den Unterschied zwischen Einkommen und Vermögen nicht verstanden.  Eine Diskriminierungserfahrung, die mich betrifft? Fehlanzeige.  

Wenn ich heute über die Situation schreibe, muss ich mir eingestehen, dass ich mich damals zu Wort gemeldet habe, um (mich) davon abzulenken, mich mit meinen Privilegien auseinanderzusetzen. Wenn ich nichts gesagt hätte, wären (mir) meine Privilegien gegenüber einigen Kommilliton*innen (weiß, deutsch/europäisch, männlich, heterosexuell) sichtbar geworden. Seit diesem Seminar ist mir klar geworden, wie sehr ich nicht von (Mehrfach)-Diskriminierung(en) betroffen bin. 

Learnings 

Marie

Es braucht Selbstfürsorge für Schamgefühle 

Scham ist ungemütlich. Scham hemmt. Scham signalisiert einen Angriff auf unser Selbstwertgefühl. Ich habe in vielen der beschriebenen Situationen Scham gefühlt, vor allem als wir in einem  Seminar über persönliche Diskriminierungserfahrungen gesprochen haben. Ich habe mich geschämt für Privilegien, die ich habe und für meine bisherige Ignoranz gegenüber vielen Formen an Diskriminierungserfahrung um mich herum. 

Tupoka Ogette (2018) schreibt in ihrem 5 Phasenmodell zum Umgang mit eigenen Rassismen von weißen Personen über das Schamgefühl. Es ist nach (1) Happy Land1 und (2) Abwehr die dritte Phase vor (4) Schuld und (5) der Anerkennung von Rassismen. Ich habe festgestellt, wie wichtig und notwendig dieses Schamgefühl für meine Auseinandersetzung mit Privilegien und Diskriminierungsformen ist. Das Schamgefühl zeigt mir auf, dass ich bisher einige Blindspots hatte, es lässt mich innehalten, hinterfragen und vor allem zuhören. Ich sehe Scham in diesem Kontext als Indikator dafür an, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, weil ich mit meinem Weißsein konfrontiert werde. Es ist mir wichtig, mit diesem Schamgefühl sorgsam umzugehen und es sensibel aufzufangen, damit aus der Scham keine Abwehrhaltung resultiert. Wenn ich es schaffe, über meine Schamgefühle zu sprechen und diese als Teil des Prozesses zu sehen, dann kann ich in die Phase (5) Akzeptanz kommen. Ich habe versucht Schamresilienz (Brown, 2017) zu lernen, also durch die Scham hindurch zu gehen, nicht meinen Selbstwert zu verlieren und Verbundenheit und Mitgefühl zu praktizieren, indem ich die letzten Wochen Akzeptanz, Demut und Dankbarkeit praktiziert habe. Diese Selbstfürsorge hilft mir handlungsfähig zu bleiben. 

Ich kann meine Privilegien nicht ablegen, aber ich kann versuchen mir meiner Verantwortung bewusst zu werden, wie ich mit meinen Privilegien umgehe. Als weiße Person will ich mich aktiv dafür entscheiden Rassismen und Ungerechtigkeiten wahrzunehmen und zu benennen, ich will mich weiterbilden, ich kann mich positionieren und ich kann versuchen Ally2  werden.

 1Als Happyland bezeichnet Ogette den Zustand in dem sich weiße Menschen befinden, bevor sie beginnen sich bewusst mit Rassismus auseinandersetzen. Eine Person, die sich im Status des Happylands befindet, hat die innere Überzeugung, dass Rassismus in Deutschland ein Vergehen der Anderen ist (Ogette, 2018, S. 21. u. 28)

2Ally wird typischerweise als Verb bzw. Tunwort angese
en ,  man muss als Verbündete*r handeln und kann sich diesen
Titel nicht selbst verleihen.

Tobias

Mit Privilegien auseinandersetzen

Warum ist es mir schwer gefallen, mich an persönliche Diskriminierungserfahrungen zu erinnern, als uns eine Lehrende in einem Seminar dazu gefragt hat? Der Grund dafür ist für mich sehr lange nicht sichtbar gewesen, weil ich mich nicht mit meinen Privilegien auseinandergesetzt habe. 

Ich bin weiß und männlich – gesellschaftliche Positionen, die der Norm entsprechen. In den Worten von Nathalie Bromberger aus ihrem Blog Raus aus der Dominanz gehöre ich zu den Menschen, die als überlegen (und damit nicht als unterdrückt) angesehen werden können. Andre Vollrath schreibt in seinem Beitrag “Abschied vom Zentrum” in der oya Ausgabe #60 dazu: „Die Erfahrung im Zentrum groß geworden zu werden, ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie selbst sich nicht als eine spezifische Erfahrung versteht, sondern unsichtbar bleibt“. Anders formuliert: Ich wurde nicht aufgrund meiner Herkunft, der Beschaffenheit meiner Haare oder meines Geschlechts diskriminiert. Rassismus und patriarchale Unterdrückung sind die Norm, nicht die Ausnahme – aber eben nicht für mich. 

Ich möchte euch, weiße Cis-Männer (die diesen Blogbeitrag lesen und/oder sich für den Studiengang interessieren) ans Herz legen, euch mit euren Privilegien auseinander zusetzen, um eure eigene Position in der Gesellschaft kritisch zu reflektieren. 

Keywords: Intersektionalität, Krisen, Báyò Akómálofé, Brüche, Kollaboratives Tagebuch,  Transformatives Lernen

* Diese Projektarbeit ist im Seminar “The Last Straw: Intersektionale Perspektiven auf Nachhaltigkeit“ bei Lisa Baumgarten entstanden. Das Seminar fand im Sommersemester 2022 im Masterstudiengang Transformation Design an der HBK Braunschweig statt.

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